Transkript
KHM
Muss Alter schmerzhaft sein?
Bei chronischen Schmerzen gemeinsam realistisches Therapieziel setzen
Welche Aspekte für die Schmerztherapie im Alter von Bedeutung sind, wann Opioide indiziert sind und welche Alternativen und Zusatzmassnahmen im Rahmen einer multimodalen Therapie infrage kommen, erläuterte Dr. Dieter Breil, Universitäres Zentrum für Altersmedizin und Rehabilitation, Felix-Platter-Spital, Basel.
Während der akute Schmerz ein sinnvolles Warnsystem ist, sind chronische Schmerzen ein eigenständiges, schwieriges Krankheitsbild mit multifaktorieller Genese, die Sensorik, Motorik, vegetatives Nervensystem sowie Affekt und Kognition betrifft. In dieser Situation kann vollständige Schmerzfreiheit nicht das Ziel sein, vielmehr muss zusammen mit dem Patienten erfahren werden, was möglich ist. Realistische Etappenziele können beispielsweise sein: definierte Schmerzreduktion auf der visuellen Analogskala, einmal wieder zwei Stunden nachts schlafen können, eine Treppe wieder zwei- oder dreimal im Tag bewältigen können. «Schmerz kann auch zu Hause gemessen werden: mit einer neuen Wäscheklammer am Mittelfinger beträgt der Schmerz 3, am Ohrläppchen in der Regel 4 auf der numerischen Schmerzskala von 0 bis 10», so Breil. Wichtig ist die Erkenntnis, dass die Schmerzwahrnehmung bei Demenz verändert ist. So ist die Schmerztoleranz bei Demenz erhöht, ebenso die vegetative Schmerzschwelle, also die Reizintensität, bei der unter experimentellem Schmerzreiz Blutdruck und Puls ansteigen. Bei nozizeptivem Schmerz ist die Leitung intakt, demgegenüber ist sie beschädigt bei neuropathischem Schmerz. Dieser Schmerz wird typischerweise als brennend beschrieben, oft handelt es sich auch um einschiessende Attacken. Diagnostisch hilfreich als Hinweis auf eine Polyneuropathie ist eine Allodynie (ein nicht schmerzhafter Reiz löst Schmerz aus). Im Alter ist jedoch oft ein gemischter – nozizeptiver und neuropathischer – Schmerz anzutreffen. «Ich plädiere dafür, keine Schmerztagebücher zu führen, sondern Aktivitätstagebücher», gab sich Breil überzeugt, «Grundpfeiler der Schmerztherapie ist Bewegung.» Ziel ist eine Muskelstabilisierung durch körperliche Aktivität (3–5mal 30 Minuten pro Woche). Weitere Elemente sind Umlagerung und Durchbewegen (Physio- und Ergotherapie) sowie physikalische Massnahmen.
Schmerzmittel nach fixem Schema verordnen
«Im Alter ist Polypharmazie nicht die Ausnahme, sondern die Regel», stellte Breil fest, «zudem erschweren abnehmende Leber- und Nierenfunktion, geändertes Verteilungsvolumen, Proteinmangel mit reduzierten Transportproteinen und verminderte Resorption die Pharmakotherapie. Dies hat die praktische Konsequenz, im Alter immer mit der halben Dosis zu beginnen und langsam zu titrieren.» Das bekannte WHO-Stufenschema bietet nach wie vor Hilfestellung. Wichtig ist, dass die Wirkstoffe der Stufe 1 auch mit den Medikamenten der Stufe 2 und 3 kombiniert werden können. Dies ist auszuprobieren und muss
immer individuell angepasst geschehen. Bevorzugte Route ist die orale Verabreichung. Es ist daher besser, nicht mit einem Schmerzpflaster zu beginnen, da dies sehr schwierig zu steuern ist (verzögerter Wirkbeginn, unklare Nebenwirkungen). «Wir geben am Morgen und am Abend eine fixe, retardierte Dosis und dazwischen die Reserve. Wir brauchen im Alter konstante Plasmaspiegel», erklärte der Geriater. Im Alter sind die Medikamente der WHO-Stufe 2 (Dihydrocodein [Codicontin®], Tilidin [Valoron®], Tramadol [Tramal® oder Generika]) oft problematisch. Denn als Prodrugs müssen sie in der Leber aktiviert werden, sodass unterschiedliche Metabolisierungsraten die Wirkung unangenehm beeinflussen können.
Koanalgetika verhelfen zu tieferen Dosen
In der WHO-Stufe 3 hingegen gibt es mit Morphin (MST® Continus® oder Generika), Oxycodon (Oxynorm®), Tapentadol (Palexia®) und Hydromorphon (Palladon®, Jurnista® oder Generika) genügend gute Opiate, die verwendet werden können, so Breil. Paracetamol (Dafalgan® oder Generika) hat ein vergleichsweise gutes Sicherheitsprofil. Die Dosis-Wirkungs-Kurve verläuft allerdings sehr flach, und bei mehr als 3 Gramm pro Tag steigt das Risiko für gastrointestinale Komplikationen und Leberschäden. Bei degenerativ-rheumatischen oder posttraumatischen Schmerzen sind nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) sehr gut wirksam. Über 75 Jahre werden NSAR wegen der Nebenwirkungen (gastrointestinale Blutungen, Nierenfunktion, Herzinsuffizienz) nicht empfohlen, sie kommen höchstens bei sehr kurzfristiger, kontrollierter Verabreichung in Betracht. Im Alter ist die Einnahme von NSAR bei oraler Antikoagulation wegen gesteigerter Blutungsgefahr gefährlich. Kombiniert man ein nicht spezifisches NSAR mit Protonenpumpenhemmern, sinkt das gastrointestinale Risiko auf dasjenige der COX-2-spezifischen NSAR. Aber auch unter Coxiben wurden, wie unter nicht spezifischen NSAR (mit Ausnahme von Naproxen [Apranax® oder Generika]), gehäufte Herzinfarkte beobachtet. Als gute Indikation für Metamizol (Novalgin® oder Generika) sieht Breil febrile Koliken. Die Wirkstärke ist vergleichbar mit NSAR oder schwachen Opioiden. Metamizol verursacht weder relevante renale noch kardiale oder gastrointestinale Nebenwirkungen. Das bekannte Agranulozytoserisiko ist insofern zu relativieren, als in den letzten 21 Jahren in der Schweiz nur gerade sieben Todesfälle in Zusammenhang mit Metamizol gemeldet wurden, trotz einer markanten Zunahme der Verschreibungen. Damit ist dieses Risiko deutlich geringer als das kardiovaskuläre Todesrisiko durch NSAR.
Dieter Breil (Foto: HB)
Schmerzursachen: Mit 24 Prozent sind Rückenschmerzen die häufigste Schmerzursache in der Schweiz, gefolgt von neurologischen Schmerzen (Kopfschmerzen, Polyneuropathien, Radikulopathien), ferner Tumorschmerzen sowie von gastrointestinalen Passagestörungen und kardiovaskulären Schmerzen.
CongressSelection Hausarztmedizin • September 2016 • 35
KHM
OPIOID IST NICHT GLEICH OPIOID
Aufgrund der Wechselwirkung mit den verschiedenen Rezeptoren wird unterteilt in:
Agonisten
gemischt wirkender
(µ: +, κ: +) Tramadol*, Fentanyl*, Morphin, Methadon*,
Agonist-Antagonist (µ: –, κ: +) Nalbuphin
Oxycodon, Hydromorphon*, Tapentadol*
partielle Agonisten (µ: +, κ: –) Buprenorphin
Antagonisten (µ: –, κ: –) Naloxon, Naltrexon
* keine aktiven Metaboliten
Take Home Messa es
® Bei chronischen Schmerzen gibt es keine Garantie auf Schmerzfreiheit; daher muss
gemeinsam ein Therapieziel formuliert werden (z.B. ≤ 3 auf der numerischen Schmerzskala).
® Im Rahmen eines multimodalen Therapiekonzepts ist unbedingt eine Dekonditio-
nierung zu vermeiden: Aktivitätstagebuch statt Schmerztagebuch!
® Demenzkranke sind analgetisch oft unterbehandelt: Ein Delir kann auch ein
Schmerzsymptom sein.
® Im Alter liegt meist ein gemischtes (nozizeptiv/neuropathisches) Schmerzbild vor:
Kombinationstherapien sind daher sinnvoll und ermöglichen tiefere Dosen.
® Wegen Komorbidität ist immer eine individuelle Lösung gefragt.
® NSAR und Coxibe sind bei Herzinsuffizienz kontraindiziert.
® Metamizol ist hilfreich bei febriler Kolik und ist nicht mit einer höheren Morbidität
und Mortalität assoziiert als NSAR.
® Wenn der Schmerz unter Opioidtherapie zurückkehrt, kann eine Opioidrotation hel-
fen.
Quelle: Modul Geriatrie: «Muss Alter schmerzhaft sein?» anlässlich der 18. Fortbildungstagung des Kollegiums für Hausarztmedizin (KHM), am 23. Juni 2016 in Luzern.
Die Koanalgetika helfen, hohe Opiatdosen zu senken, was im Alter besonders bedeutsam ist. In diese Gruppe gehören Antidepressiva (z.B. Mirtazapin [Remeron® oder Generika], Venlafaxin [Efexor® ER oder Generika], Duloxetin [Cymbalta® oder Generika]), Neuroleptika (z.B. Haloperidol [Haldol®]), Steroide und Bisphosphonate, ferner auch Antiepileptika (Carbamazepin [Tegretol® oder Generika], Lamotrigin [Lamictal® oder Generika]). Kontrovers diskutiert wird der Einsatz von Opioiden bei nicht tumorbedingten chronischen Schmerzen. Weltweit hat der Verbrauch massiv zugenommen. Als nicht indiziert gelten Opioide bei funktionellen Schmerzsyndromen (Kopfschmerz, Reizdarm, auch Fibromyalgie) und bei bekannter Abhängigkeitserkrankung. «Falls Sie sich für ein Opioid entscheiden: Beginnen Sie mit möglichst tiefer Dosis, mit einem retardierten Präparat – und immer wird gleichzeitig Bewegung verordnet, eine Dekonditionierung muss unbedingt vermieden werden», forderte Breil.
Topische Analgetika für spezifische Situationen
Ein häufiges Schmerzbild im Alter ist die postherpetische Neuralgie. Ihr Auftreten korreliert mit der Zahl der Vesikel und der Stärke des initialen Schmerzes. Möglichst früh verabreichte Virustatika können den Verlauf beeinflussen, verhindern letztlich aber nicht die Entwicklung einer postherpetischen Neuralgie. Beim neuropathischen Schmerz haben die Trizyklika (z.B. Amitriptylin [Saroten® retard], Clomipramin [Anafranil®]) mit einer «number needed to treat» (NNT) von 3,6 bis 13,4 unverändert
ihren Platz in der medikamentösen Therapie. Sie sind aber stark anticholinerg, was für Nebenwirkungen wie Harnverhalt, Delir, Tachyarrhythmie und Glaukom verantwortlich ist, darüber hinaus verursachen sie schwere Orthostasen. Diesbezüglich bieten die Serotonin-Noradrenalin-Reuptake-Inhibitoren (SNRI, z.B. Duloxetin, Venlafaxin) mit einer NNT von 6,4 bis 11,8 eine fast ebenso gute Alternative. Auch Pregabalin (Lyrica® oder Generika) hat sich bei neuropathischem Schmerz bewährt, verursacht jedoch in den ersten Tagen deutliche Nebenwirkungen. Zudem muss bis zum Wirkungseintritt eine überbrückende Schmerztherapie, zum Beispiel mit Opioiden, angeboten werden. Bei lokalisiertem neuropathischem Schmerz kann eine topische Therapie mit Neurodol® Tissugel (5% Lidocainpflaster) Vorteile bieten. Eine sehr lang wirksame Schmerzlinderung bei peripheren neuropathischen Schmerzen ermöglicht zudem Qutenza® (8% Capsaicinpflaster), das allerdings sehr sorgfältig und unter Vorsichtsmassnahmen appliziert werden muss.
Therapie mit Opioiden
Die Opioidnomenklatur richtet sich nach den μ-Rezeptoren. Reine Agonisten wirken vor allem am μ-Rezeptor, partielle Agonisten wirken am κ-Rezeptor antagonistisch, Agonisten-Antagonisten wirken am μ-Rezeptor antagonistisch (Kasten). In der Praxis wird dieser Aspekt öfters nicht ausreichend berücksichtigt. 10 (bis 15) Prozent der fixen Tagesdosis wird als Reservedosis in Form eines schnell wirksamen Opioids verschrieben (Gabe bei Bedarf bis stündlich). «Wir wollen zügig konstante Plasmaspiegel erreichen», mahnte Breil, «in den ersten 24 oder 48 Stunden befürchte ich auch keine Intoxikation». Nach 48 bis 72 Stunden soll aus Tagesdosis plus Reservedosis die neue Tagesdosis berechnet werden, und auch die Reservedosis ist anzupassen. Wenn zuvor kontrollierte Schmerzen unter Opioiden wieder verstärkt auftreten, ist die Indikation für eine Opioidrotation gegeben. Weitere Indikation sind eine ungenügende Schmerzkontrolle nach Dosistitration, intolerable (dosislimitierende) Nebenwirkungen wie anhaltende Übelkeit mehr als sieben Tage nach der letzten Dosiserhöhung, Myoklonien, Juckreiz, Delir, Sedation und Atemdepression sowie neu aufgetretene Leber- oder Niereninsuffizienz. Eine Tachyphylaxie kann auf einer schnelleren Elimination oder Down-Regulation der Opiatrezeptoren beruhen. Vor einer Opioidrotation soll man sich fragen, ob die Therapie am Rezeptor überhaupt ankommt (Diarrhö, Erbrechen, Compliance) und ob eine adjuvante Schmerztherapie indiziert ist. Zudem kann man überlegen, ob eine andere Darreichungsform besser wäre (z.B. Wechsel von p. os zu einem transdermalen therapeutischen System oder umgekehrt). Hinweise auf geeignete beziehungsweise ungeeignete Opioide gibt eine Beeinträchtigung der Organfunktion. Besonders wichtig ist die Leberfunktion. Ist sie deutlich eingeschränkt, kommen Opioide der WHO-Stufe 2 nicht infrage. Bei Leberinsuffizienz kann zudem Oxycodon/Naloxon nicht verwendet werden, da der Antagonist Naloxon hepatisch nicht mehr ausreichend abgebaut wird und das Oxycodon im Blut antagonisiert. Hydromorphon und auch Tapentadol können sowohl bei Leber- wie Niereninsuffizienz angewendet werden. Buprenorphin hat den Vorteil, dass es nicht dialysierbar ist und daher auch bei dialysepflichtiger Niereninsuffizienz eingesetzt werden kann.
Halid Bas
36 • CongressSelection Hausarztmedizin • September 2016