Transkript
SGAIM
Diabetes «Modern Times»
Ein Überblick über die jüngsten Entwicklungen in Diagnostik und Therapie
Für die Behandlung eines Diabetes mellitus stehen heute viel mehr Möglichkeiten zur Verfügung, als dies noch vor wenigen Jahrzehnten der Fall war. Dementsprechend ist es für Patienten wie Therapeuten dankbarer, aber auch spannender geworden. «Modern Times» – nach Charlie Chaplin – sind laut Prof. Christoph Stettler, Universitätsspital Bern, in der Diabetologie angebrochen, und genau diese Entwicklung behandelte er in seinem Vortrag.
Auch heute noch steigt die Zahl der an Diabetes mellitus Erkrankten weiter an. Interessant ist, dass bei Diabetes mellitus Typ 2 in den USA bereits ein erstes Abflachen bei der Zunahme der Inzidenz zu erkennen ist. Es scheint, als ob sich das Ernährungsbewusstsein dort ändere, so musste auch McDonald’s etliche Filialen schliessen. Beim Typ-1-Diabetes, bei dem das Versagen der Betazellen auf eine Autoimmunerkrankung zurückzuführen ist, nimmt die Zahl der Erkrankten ebenfalls zu. Das betrifft nicht nur Kinder und Jugendliche, sondern auch Erwachsene; bis heute gibt es dafür jedoch noch keine Erklärung. Lange Zeit waren die Therapieansätze beim Typ-1- und dem viel häufigeren Typ-2-Diabetes verschieden; während bei Ersterem direkt Insulin verabreicht wird, gibt es beim Typ 2 erst einmal andere Therapieoptionen. Das Fortschreiten der Technik kommt den Therapieansätzen beider Formen wechselseitig zugute; sie nähern sich zudem einander immer weiter an.
Weniger makrovaskuläre Komplikationen
Die Inzidenz der makrovaskulären Komplikationen hat in den letzten zehn Jahren abgenommen. Das ist in erster Linie ein Verdienst von Internisten, Kardiologen, Hausärzten und immer besseren Medikamenten. Allerdings dürfe dabei nicht vergessen werden, dass für die klassischen mikrovaskulären Komplikationen kein solcher Rückgang habe beobachtet werden können, merkte Stettler an. Und sollte dies weiterhin so bleiben, ist mit einer Zunahme von dialysepflichtigen Diabetikern zu rechnen.
Veränderungen bei Blutzuckermessgeräten
Tragbare Blutzuckermessgeräte unterscheiden sich in ihrer heutigen Form völlig von ihren ersten portablen Vorgängern. Während das erste solche Gerät in der Schweiz noch drei Kilogramm wog, gibt es heutzutage praktische, viel kleinere Varianten in allen Farben und Formen. Diese sind auch im Alltag gut zu bedienen. Des Weiteren führten häufigere Selbstmessungen zu einem besseren Verständnis der Krankheit bei den Patienten und erleichterten die Blutzuckerkontrolle, erinnerte der Experte. Wichtig ist, dass die Patienten dafür von den Ärzten gut instruiert werden. Während grosse Fortschritte bei Pens, Pumpen und Nadeln zur Insulininjektion gemacht wurden, gibt es praktisch keine Entwicklung bei den Lanzetten zum Messen
des Blutzuckers. Mittlerweile gibt es jedoch Geräte, die den Patienten diese auf Dauer schmerzhafte Prozedur des Blutzuckermessens abnehmen. Diese Alternativen kommen aus dem Diabetes-Typ-1-Bereich: Sensoren für die kontinuierliche Glukosemessung bestehen aus einem kleinen Knopf. Dieser wird auf die Haut gesetzt, eine kleine Nadel sticht, und zurück bleibt ein kleiner Sensor, der im Unterhautfettgewebe kontinuierlich die Zuckerwerte erfasst. Somit ist kein erneutes Stechen nötig. Neue Geräte sind sogar schon vorkalibriert und können die Daten, die die Patienten bislang bis zu sechsmal täglich in ihren Büchlein eingetragen haben, direkt auf das Smartphone oder ein ähnliches Gerät übertragen. Das ist für Patienten durchaus relevant, denn durch die einfache Zugänglichkeit der Ergebnisse in den hierfür entwickelten Apps wird der Blutzucker eher kontrolliert, als wenn man sich dafür jedes Mal extra stechen muss. Ausserdem sind die Smartphones in der Lage, die Patienten zu warnen, wenn der Blutzucker gefährlich tief sinkt. Dies nimmt zum Beispiel alleinstehenden oder älteren Personen die Angst vor nächtlichen Hypoglykämien. Auch vor diesem Hintergrund werden die Geräte zunehmend eingesetzt. In der Schweiz werden die Kosten für die Geräte von der Krankenkasse übernommen, solange gewisse, «grosszügig gehaltene» Voraussetzungen erfüllt werden (siehe Kasten 1).
Therapeutische Optionen heute vielfältiger denn je
Die Fortschritte bei der Entwicklung von Wirkstoffklassen in der Diabetologie sind riesig. Noch in den Achtzigerjahren verfügte man primär über lediglich drei solche Klassen. Heutzutage gibt es viele neue Mittel, die in der Therapie angewendet werden. «Der Begriff ‹Modern Times› steht also auch für eine Wahnsinnsentwicklung in der Therapeutenkammer», so Stettler. Jedoch sei dabei zu bedenken, dass die alten Mittel sich nicht nur bezüglich der Effektivität, sondern auch bezüglich ihrer Sicherheit schon lange bewährt hätten. Zwar werde die Physiologie und auch die Wirksamkeit
Kasten 1:
WANN WERDEN DIE KOSTEN ÜBERNOMMEN?
Die Kosten für ein kontinuierliches Glukosemonitoringsystem werden bei Patienten mit oder ohne Insulinpumpe übernommen bei Verordnung durch den Experten und: • HbA1c-Wert gleich oder höher als
8% und/oder • schweren Hypoglykämien Grad II
oder III oder • schweren Formen von Brittle-
Diabetes
CongressSelection Hausarztmedizin • September 2016 • 13
SGAIM
Kasten 2:
TIPP FÜR DIE TÄGLICHE PRAXIS
Die Sensoren für kontinuierliche Glukosemessung können auch als «Wegweiser» genutzt werden, indem man zum Beispiel einem Typ-2-Diabetiker einen solchen für eine Woche mitgibt. Findet man eine unerwartete Kurve, kann die Therapie entsprechend angepasst werden. Ausserdem lernt der Patient eine Menge: Die Daten zeigen etwa, wie gross der Unterschied ist, wenn man sich das Insulin vor oder nach der Mahlzeit spritzt. Diese Werte vor Augen zu haben, kann deutlich mehr bewirken als die ständige Empfehlung des Arztes, doch bitte darauf zu achten. So hat man relativ grosse Veränderungsmöglichkeiten mit einer einfachen Intervention.
gerade der älteren Medikamente nicht immer vollends verstanden; fest stehe aber, dass diese wirkten. So sei zum Beispiel Metformin, eines der ältesten Medikamente, immer noch auch eines der potentesten Mittel und von entscheidender Bedeutung bei der Behandlung. Gleichzeitig bieten die neuen Gruppen natürlich auch neue Chancen; die durchaus vielversprechenden Therapieergebnisse aber sollten dennoch mit gesunder Vorsicht angeschaut werden. Glucagon-like Peptide 1 (GLP-1): Das Prinzip der Wirkstoffe, die am GLP-1 ansetzen, ist insofern elegant, als dass das Peptid den Pankreas nur aktiviert, wenn wir Nahrung zu uns nehmen. Es ist dadurch sowohl abhängig von Insulin als auch von Kohlehydraten, hat aber nur eine sehr geringe Halbwertszeit; das Enzym DPP-4 leitet seinen Abbau bereits nach wenigen Minuten ein. Hier setzen zwei Gruppen von Medikamenten an: Die erste Gruppe sind Agonisten, die an den GLP-1-Rezeptor binden. Sie wirken direkt und umgehen auf diese Weise das Enzym. Diese Medikamente, welche gespritzt werden, gibt es zunehmend auch als Wochenpräparate. Die zweite Gruppe besteht aus oralen DPP-4-Hemmern, von denen in einer nächsten Phase auch orale Wochenpräparate zu erwarten sind. Der grosse Vorteil dieser Therapien ist, dass sie den Blutzucker ohne erhöhtes Risiko für Hypoglykämien senken. Allerdings ist darüber hinaus kaum bekannt, ob sie allein und ohne zusätzliche weitere Arzneimittel auf mikround makrovaskulärer Ebene einen Nutzen haben. Neue Daten unterstützen jedoch die Theorie, dass einige Substanzen auch darauf direkt einen vorteilhaften Einfluss ausüben. «Bei diesen Medikamenten gibt es ein paar Vorbehalte, die zeigen, dass wir vielleicht noch nicht alles über die neuen Substanzen wissen. Im Hinterkopf sollte Ihnen bleiben, dass Patienten mit Herzinsuffizienz kein Saxagliptin erhalten sollten, da hier ein Zusammenhang beschrieben wurde» (1). Sollten Patienten mit DPP-4-Hemmern über schwere Schmerzen am ganzen Körper klagen, könnte ebenfalls ein Zusammenhang bestehen: Ein neuerer Safety-Concern beschäftigt sich damit und empfiehlt
Take Home Messa es
® Durch die grossen Fortschritte bei Therapieansätzen der Diabetestypen 1 und 2
haben sich viele neue Möglichkeiten aufgetan. Es gilt jedoch, auch vielversprechende Ergebnisse stets kritisch zu betrachten.
® Kontinuierliche Messungen der Glukosewerte durch Sensoren wie auch ähnlich
funktionierende Insulinpumpen eröffnen dabei völlig neue, für die Patienten deutlich unkompliziertere Behandlungsmöglichkeiten.
neben dem Abbruch der Therapie eine Meldung, um die seltenen Fälle sammeln und untersuchen zu können (2). SGLT-2-Inhibitoren: Hierbei handelt es sich um die neueste Wirkstoffklasse auf dem Markt. «Noch vor zehn Jahren schien mir das Prinzip nicht praktikabel, ich muss aber eingestehen, dass ich mich wohl getäuscht habe», so Stettler. Glukose wird im Körper in grossen Mengen gefiltert, bis zu 180 g täglich, und praktisch komplett rückresorbiert. Diese Rückresorption wird von den SGLT-2Hemmern geblockt, wodurch sie Glukose mit dem Urin ausscheiden lassen. Studien bestätigen, dass dieses Prinzip mit wenigen Nebenwirkungen, ja sogar vielen günstigen Wirkungen funktioniert (3). Einen weiteren Hinweis darauf, dass diese Funktionsweise nicht allzu gefährlich sein kann, liefern Menschen mit Mutationen, bei denen dieser Vorgang natürlich abläuft und die ansonsten völlig gesund sind, so der Experte. Auf dem Markt gibt es drei Präparate, die eindrückliche Daten aufweisen. Ihre HbA1c-Reduktion liegt zwischen 0,5 und 1 Prozent, je höher dabei der tatsächliche Wert ist, umso grösser ist auch die Reduktion. Ebenso wichtig ist auch, dass diese Therapien kein Hypoglykämierisiko verursachen und den systolischen Blutdruck senken. Eine grosse Studie mit knapp 700 beobachteten Fällen aus dem letzten Jahr zeigte ausserdem, dass unter Empagliflozin das kardiovaskuläre Risiko inklusive der Mortalität substanziell reduziert wurde, stärker und schneller als jemals zuvor beobachtet (3). Trotzdem ist die Wirkungsweise der Substanz bis heute nicht wirklich geklärt, aber der grosse Effekt kann nicht durch die Blutzuckersenkung allein ausgelöst werden. Mikrovaskuläre Daten sind erst wenig vorhanden, aber bis dato vielversprechend. Diese Klasse scheint also über die Blutzuckersenkung hinaus zusätzlich viele positive Effekte zu haben, so Stettler. Als Nebenwirkungen wurden bei 3 bis 7 Prozent der Patienten genitale Infekte beschrieben, Polyurien, selten Ketoazidosen (meist bei Typ-1-Diabetikern) oder eine sich verändernde Knochendichte, die zu mehr Frakturen führt, sowie ein Zusammenhang mit Amputationen (4), auch wenn hier noch nicht bekannt ist, wie es dazu kommt (4). Insgesamt ergibt sich hier das Bild einer sehr potenten Therapie, bei der es allerdings auch noch ein paar Aspekte gibt, die wir im Auge behalten sollten, so der Experte zusammenfassend. Insulin: Die älteste bekannte Substanz im Kampf gegen Diabetes wurde in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts entdeckt und ist bis heute die potenteste. Kein anderer Wirkstoff senkt den Blutzucker schneller und sicherer. Bei der Insulintherapie gibt es viele verschiedene Aspekte zu bedenken. Welches Insulin, wie viel davon, und wann sollte man es verwenden? So bergen etwa die lang wirkenden Insuline durch ihre erhöhte Stabilität ein geringeres Hypoglykämierisiko als die rasch wirkenden; all das ist beim Typ-1- wichtiger als beim Typ-2-Diabetes. Mehr und mehr kommen werden Insulinpumpen, welche bis anhin vor allem bei Patienten mit Typ-1-Diabetes im Einsatz waren, jedoch zunehmend auch bei Patienten mit Typ-2-Diabetes verwendet werden. Das Prinzip ist simpel: Die Pumpe wird auf die Haut geklebt, eine kleine Nadel sticht, wird wieder herausgezogen, und die Kanüle bleibt zurück – ähnlich wie bei den Blutzuckermesssensoren. Aus unbekannten Gründen benötigt man mit solchen Pumpen weniger Insulin, des Weiteren sind diese auch sozialverträglicher als die gewöhnlichen Pens, da sie einfacher und unauffälliger anzuwenden sind und so
14 • CongressSelection Hausarztmedizin • September 2016
auch eher benutzt werden. Sie enthalten nur rasch wirksame Insuline, da diese kontinuierlich abgegeben werden. So bringt der Typ-1-Diabetes auch einen Vorteil für Typ-2-Diabetiker.
Und wie sieht die Zukunft aus im Insulinbereich?
Es wird eine wichtige Entwicklung hin zu immer schneller wirksamen Insulinen stattfinden. Das sei insofern wichtig, da Insulin jetzt eigentlich «falsch» gespritzt werde, nämlich unter die Haut, und nicht dort, wo man es via Pankreas natürlicherweise habe, erläuterte Stettler. Deshalb ist alles, was die Wirkung beschleunigt, für die Patienten äusserst relevant. Dazu gehören neue Injektionsapparate (Multinadeln, durch Druck). Nadelfreie Injektionen haben jedoch den Nachteil, dass sie deutlich schmerzhafter sein können als die hochmodernen Nadeln. Weiterhin sucht man nach alternativen Applikationsformen ohne Injektion, wie zum Beispiel oral, bukkal oder transdermal. Diese sind allerdings noch nicht vollständig ausgereift, lediglich für die nasale Verabreichung gibt es in den USA bereits ein Produkt auf dem Markt. Deshalb sind neue Anwendungen nicht unbedingt gleich besser, und auch hier wird die Technik in der Zukunft eine bedeutende Rolle innehaben. Für den Alltag werden solche Lösungen immer wichtiger, bei denen zum Beispiel gemessene Werte mit Smartphones und Tablets erfasst werden können und Pumpen dann mittels Algorithmus berechnen, wie viel Insulin verabreicht werden muss. Neue Pumpen können sich auch mittels Sensoren selbst regulieren, wenn bestimmte Werte im Blutzucker
erreicht werden. Das spart enorme Ressourcen und wird ausserdem auch noch wesentlich unkomplizierter, schneller und billiger werden. Damit werden die hauptsächlich für Typ-1-Diabetiker entwickelten Hilfsmittel auch für Typ-2-Diabetiker immer relevanter. Es sei sicher nicht so, dass dadurch jetzt der «Faktor Mensch» ausgeschaltet werde, beruhigte der Experte. Er wird weiter wichtig sein, unter anderem beim Messen, bei körperlicher Aktivität und so weiter. «Wir steuern in der Diabetesbehandlung auf eine Art modernes Flugzeug zu, wo der Pilot viel der Technik überlässt, aber dennoch immer wieder eingreifen muss und damit von entscheidender Bedeutung ist. Diese Systeme werden in absehbarer Zeit für eine Erleichterung bei Diabetikern sorgen, wenn sie eben zum Beispiel in der Nacht den Blutzucker autonom regeln können», so das Fazit des Diabetologen.
Jakob Mücke
Referenzen: 1. Scirica BM et al.: Heart failure, saxagliptin, and diabetes mellitus: observations from the SAVOR-TIMI 53 randomized trial. Circulation 2014; 130 (18): 1579–1588. 2. www.fda.gov/Drugs/DrugSafety/ucm459579.htm 3. Zinman B et al.: Empagliflozin, Cardiovascular Outcomes, and Mortality in Type 2 Diabetes. N Engl J Med 2015; 373: 2117–2128. 4. www.fda.gov/Drugs/DrugSafety/ucm461449.htm
Quelle: «Behandlung von Diabetes», Vortrag von Christoph Stettler im Rahmen der 1. Frühjahrstagung der SGAIM am 27. Mai 2016 in Basel.
SGAIM