Transkript
Chronische Nierenerkrankung: Verzögerung der Progression ist machbar
Möglichst früh und interdisziplinär behandeln
Wenn es um die chronische Nierenerkrankung geht, liegen Prof. Stephan Segerer aus Zürich zwei Botschaften besonders am Herzen: Die Prävention der Progression einer chronischen Nierenerkrankung kann dem Patienten Jahre der Dialyse ersparen, und sollte eine Dialyse erforderlich sein, entscheidet der Patient über Form und Zeitpunkt des Beginns. Wichtige Aspekte der Behandlung schilderte er in seinem Vortrag.
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«I met her in a club down in old Soho where you drink champagne and it tastes just like cherry cola – C-O-L-A cola …» Mit dem Kinks-Klassiker «Lola» einen Vortrag über chronische Niereninsuffizienz (CKD: chronic kidney disease) einzuleiten, ist vielleicht etwas ungewöhnlich. Doch Segerer, leitender Arzt an der Abteilung für Nephrologie am Universitätskrankenhaus Zürich, hat dafür einen guten Grund: Beim Kinks-Gründungsmitglied Pete Quaife wurde 1998 eine CKD diagnostiziert, und 2010 starb er nach einigen Jahren der Dialyse. Zum Thema CKD und Dialyse zeichnete der Kinks-Bassist auch Cartoons, die auf der Webseite www.ihatedialysis.com veröffentlicht werden. Deren Motto: «We are not negative. We just hate dialysis.» Segerer: «Diese Webseite empfehle ich allen, die sich mit dem Thema Dialyse auseinandersetzen. Hier hören Sie offene Diskussionen über CKD und was die Krankheit für die Patienten bedeutet.»
CKD: weltweit zunehmendes Gesundheitsproblem
Aus ärztlicher Sicht bedeutet «CKD» zunächst einmal keine Erkrankung im eigentlichen Sinn, sondern das Ergebnis unterschiedlicher Schädigungen der Niere. Führt diese Schädigung zu einer Anomalie in Struktur oder Funktion der Niere, die länger als drei Monate besteht, liegt definitionsgemäss eine CKD vor. Die wichtigsten Treiber sind gut bekannt, zu ihnen zählen Diabetes und «bis heute noch schlecht definierte» Gefässerkrankungen der Niere; beide sind auch wesentliche Risikofaktoren für die kardiovaskuläre und die Gesamtmortalität. Eine niedrige Filtrationsrate sowie Proteinurie sind wiederum die wichtigsten Risikofaktoren für ein Nierenversagen (stark erhöhtes Risiko ab einer eGFR < 60 ml/min). Die CKD ist dementsprechend auch weltweit als wichtige Belastung der öffentlichen Gesundheit eingestuft, die nach wie vor an Bedeutung zunimmt: 1990 noch auf Rang 27 der «Global Burden of Disease Study», besetzte die CKD im Jahr 2010 bereits Rang 18. «Dies entspricht einer Zunahme von 82 Prozent in verlorenen Lebensjahren aufgrund dieser Erkrankung», erklärte der Nephrologe. Nach letzten Schätzungen benötigten 2012 weltweit etwa 3 Millionen Menschen eine Nierenersatztherapie. In der Schweiz steigt die Zahl der Patienten mit Nierenerkrankungen im Endstadium (end stage renal disease; ESRD) jährlich um 2,2 Prozent (1).
Die nächste schlechte Nachricht folgt aus einer aktuellen Studie im «Deutschen Ärzteblatt» (2). Demnach hatten von 7000 untersuchten Erwachsenen etwa 13 Prozent entweder eine eGFR < 60ml/min oder eine Albuminurie (in der Schweiz: 10%), doch nur 28 Prozent der (deutschen) Patienten wussten von ihrer Diagnose, und von diesen erhielten nur zwei Drittel eine Therapie. Fazit von Segerer: «Es gibt eine enorme Zahl an Patienten, deren Behandlung wir umfassend verbessern können.»
Möglichst frühe Behandlung
Wie sieht die Behandlung aus? Idealerweise wird eine enge Zusammenarbeit zwischen Allgemeinmediziner, Internist und Nephrologen angestrebt. Zeitlich «möchten wir die Patienten so früh wie möglich sehen, wenn bei noch normaler Nierenfunktion eine Proteinurie vorliegt», präzisiert Segerer. In diesem Stadium wird die Behandlung der Grunderkrankung geplant (Hypertonie, Diabetes), um die Verzögerung der Progression zu erreichen, zudem werden Komorbiditäten therapiert. Bei Verschlechterung liegt der Fokus auf der Prävention urämischer Symptome sowie in weiterer Folge auf der Vorbereitung der Nierenersatztherapie. Zum Thema Hypertonie und Blutdrucksenkung: 140/ 90 mmHg ist das allgemeine Ziel, die Leitlinien bei CKD sind allerdings nicht eindeutig. «Manche geben 130/80 mmHg bei Diabetes und Albuminurie an. Klar ist nur, dass man nicht 120/80 mmHg anpeilen sollte, da dies das Risiko unerwünschter Ereignisse in dieser Patientenpopulation erhöht.» Der Effekt der Blutdrucksenkung auf das klinische Resultat hängt übrigens vom Ausmass der Proteinurie ab: «Sehr alte, aber meiner Meinung nach sehr gute Daten zeigten, dass bei hoher Albuminurie (> 3 g/ Tag) eine Blutdrucksenkung den Verlust der Nierenfunktion um nahezu 4 ml/Jahr senken kann. Damit erspart man dem Patienten einige Jahre der Dialyse.» (3). Das wichtigste Medikament sind ACE-Hemmer, sie vermindern das Fortschreiten der Nierenerkrankung und senken sowohl die Rate kardiovaskulärer Ereignisse als auch die Gesamtmortalität (OR: 0,72 vs. aktive Kontrollen) – ganz im Gegensatz zu Sartanen, für die kein solcher Nachweis bezüglich der Gesamtmortalität vorliegt (4). «ACE-Hemmer sind die Behandlung der Wahl, bei Unverträglichkeit etwa aufgrund von Husten kommen Sartane zum Einsatz.»
Die Perspektive des Patienten kann man kennenlernen auf dieser Webseite:
www.ihatedialysis.com
CongressSelection Hausarztmedizin • September 2016 • 7
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Für Betablocker liegen für Patienten mit der alleinigen Diagnose CKD keine guten Daten vor. Allerdings ergaben grosse Reviews der grossen Herzinsuffizienzstudien, dass rund 10 bis 20 Prozent der CKD-Patienten auch an Herzinsuffizienz leiden. Diese Patienten profitieren von Betablockern in Form einer niedrigeren Gesamtmortalität (5). Ebenfalls wichtig ist die Behandlung der metabolischen Azidose in der Spätphase der CKD. Die Azidose ist auf eine Senkung der Nephronenzahl und damit der verminderten Ammonium- und Protonsekretion zurückzuführen, aus der wiederum eine Anionenlücke entsteht. Die wichtigen klinischen Folgen sind Verlust von Knochenmasse, Muskelschwund, gestörte Glukosetoleranz und Appetitverlust (6). «Dieser Appetitverlust ist klinisch sehr wichtig: Nach Substitution von Bikarbonat essen die Patienten wieder», so der Kommentar des Experten. Letztendlich kommt es zu kardialer Dysfunktion und erhöhter Mortalität.
Diabetes: SGLT2-Hemmer senken Mortalität
Nächstes Thema ist der Diabetes. «Wir wissen alle, dass die Nierenbeteiligung einen wesentlichen Einfluss auf das Überleben der Diabetiker hat.» Die Zahlen: Ohne Nephropathie hat ein Diabetiker ein Mortalitätsrisiko von 1,4 Prozent. Bei erhöhten Kreatininwerten oder Nierenersatztherapie sei die Mortalitätsrate mit 19,2 Prozent 10-mal höher, berichtete Segerer (7). «Diese Entwicklung können wir durch Intensivierung der Behandlung aber verhindern oder verlangsamen; beispielsweise lässt sich die Entwicklung einer Mikroalbuminurie bei Typ-1-Diabetikern durch eine intensive Blutzuckerkontrolle verhindern» (HbA1c 7,2 statt 9,1) (8). Der neue Therapiestern in diesem Bereich sind die SGLT2-Hemmer: Sie erhöhen die Glukoseausscheidung über den Harn und zeigten «als erster Wirkstoff überhaupt» eine signifikante Senkung der Mortalitätsrate aufgrund kardiovaskulärer Ursachen sowie eine signifikante Senkung der Gesamtmortalität (9). In einer weiteren Studie führte Empagliflozin zu einer signifikanten Verminderung des Endpunktes aus Verdoppelung von Kreatininwert, ESRD oder Tod (HR 0,54; p = 0,0002) und senkte signifikant das Risiko für das Neuauftreten beziehungsweise die Verschlechterung einer Nephropathie (HR 0,61; p < 0,001), wie Wanner et al. am Meeting der American Society of Nephrology 2015 in San Diego berichtet haben.
Take Home Messa es
® CKD ist sehr häufig (10% der adulten Bevölkerung).
® Ein Verhindern des Fortschreitens ist möglich durch:
– Blutdruckkontrolle mit Kombinationstherapie auf Basis von ACE-Hemmern und
Sartanen als Zweitlinientherapie
– Blutzuckerkontrolle (vielversprechende Ergebnisse der SGLT2-Inhibition)
® Bikarbonatbehandlung ist wichtig in den späten Stadien.
® Jeder CKD-Patient ist ein Kandidat für Statine und einen Rauchstopp zur Verbesse-
rung des kardiovaskulären Risikos.
® Die Übergangsphase von schwerer Niereninsuffizienz zu Dialyse ist sehr wichtig
für zukünftige Behandlungsergebnisse, man sollte früh darüber reden!
® Das Ziel: Gut informierte Patienten sollen über Form und Zeitpunkt des Beginns
einer Dialyse entscheiden.
Fazit von Segerer: «Erstmals haben wir hier wirklich etwas Vielversprechendes in der Hand.»
Patient bestimmt Zeitpunkt des Dialysebeginns
Seit der Ideal-Studie ist bekannt, dass der Zeitpunkt des Dialysebeginns keinen Einfluss auf die Mortalität hat (früher Beginn bei GFR 10–14 ml/min vs. später Beginn bei GRF 5–7 ml/min) (10). Das heisst: «Wir können warten, bis die Patienten Symptome entwickeln, erst dann müssen wir starten.» Die Patienten müssten dazu aber gut über Urämiesymptome und auch über Optionen bezüglich AV-Fistel oder Katheter aufgeklärt sein, betont Segerer. Es komme auch vor, dass ein Patient keine Intervention mehr möchte. «In solchen Fällen ist es wichtig, dass sich spezialisierte Teams von Palliativmedizinern und Pflegern um den Patienten und seine Familie kümmern. Denn man kann zwar sehr einfach, aber auch sehr dramatisch an Urämie sterben, Symptome wie Übelkeit und Dyspnoe können und müssen gut kontrolliert werden.» Bezüglich der Wahl zwischen Hämo- oder Peritonealdialyse ist die Aufklärung der Patienten entscheidend. Sie müssen etwa wissen, dass Patienten bei Dialysebeginn mit Katheter zweimal so häufig im nächsten Jahr sterben wie Patienten, deren Dialyse mit einem Shunt beginnt. Die entscheidende Frage, so Segerer, lautet dann: «Was passt am besten in Ihr Leben?»
Lydia Unger-Hunt
Referenzen: 1. Lozano R et al.: Global and regional mortality from 235 causes of death for 20 age groups in 1990 and 2010: a systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2010. Lancet 2013; 380: 2095–2128. 2. Girndt M et al.: The Prevalence of Renal Failure. Dtsch Arztebl 2016; 113: 85–91. 3. Klahr S et al.: The effects of dietary protein restriction and bloodpressure control on the progression of chronic renal disease. Modification of Diet in Renal Disease Study Group. N Engl J Med. 1994; 330: 877–884. 4. Xie Y et al.: Estimated GFR Trajectories of People Entering CKD Stage 4 and Subsequent Kidney Disease Outcomes and Mortality. Am J Kidney Disease 2016, doi: 10.1053/j.ajkd.2016.02.039. 5. Badve SV et al.: Effects of beta-adrenergic antagonists in patients with chronic kidney disease: a systematic review and meta-analysis. J Am Coll Cardiol 2011; 58: 1152–1161. 6. Loniewski I et al.: Bicarbonate therapy for prevention of chronic kidney disease progression. Kidney Int 2014; 85: 529–535. 7. Adler AI et al.: Development and progression of nephropathy in type 2 diabetes: the United Kingdom Prospective Diabetes Study (UKPDS 64). Kidney Int 2003; 63: 225–232. 8. The Diabetes Control and Complications Trial Research Group: The effect of intensive treatment of diabetes on the development and progression of long-term complications in insulin-dependent diabetes mellitus. N Engl J Med. 1993; 329: 977–986. 9. Zinmann B et al.: Empagliflozin, Cardiovascular Outcomes, and Mortality in Type 2 Diabetes. N Engl J Med. 2015; 373: 2117–2128. 10. Cooper BA et al.: A randomized, controlled trial of early versus late initiation of dialysis. N Engl J Med. 2010; 363: 609–619.
Quelle: «Update Chronic Kidney Disease», Vortrag im Rahmen der 1. Frühjahrsversammlung der SGAIM am 27.5.2016 in Basel.
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