Transkript
SGAIM
«Choosing wisely»: Welche Massnahmen sollten weiter eruiert werden?
Vorschläge aus der hausärztlichen Praxis
Seit 2011 beschäftigen sich ausgehend von den USA weltweit Ärzte verschiedenster Fachrichtungen mit dem Thema der potenziellen Überversorgung in der Medizin. Kampagnen wie «Choosing wisely» oder «Less is more» stellen Massnahmen in Frage, die weiter verbreitet sind, als ihr Nutzen belegt ist. So sollen im Dialog mit den Patienten potenziell schädliche oder teure Prozeduren zukünftig besser hinterfragt werden, um nach Möglichkeit darauf zu verzichten.
Welche Massnahmen auf diese Liste gehören, wird in der Regel auf Basis der vorhandenen Evidenz von Experten evaluiert. Die daraus abgeleiteten Empfehlungen werden durch die zuständigen ärztlichen Gesellschaften kommuniziert. Auch die Schweizerische Gesellschaft für Innere Medizin hat diese Diskussion aufgenommen und bereits 2014 unter dem Namen «smarter medicine» ihre Top-5Empfehlungen der Interventionen kommuniziert, die in der ambulanten Praxis besser vermieden werden sollten (siehe Kasten 1). Am diesjährigen Kongress der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGAIM) wurden nun die von einer Fachgruppe unter der Leitung von Prof. Christoph A. Meier, Universitätsspital Basel, erarbeiteten Top-5-Empfehlungen für den stationären Bereich vorgestellt (siehe Kasten 2). Bei schwer kranken polymorbiden Patienten hat die Frage nach der Verhältnismässigkeit der Massnahmen nicht nur medizinische, sondern auch gesellschaftliche Bedeutung. Sowohl häufige diagnostische als auch therapeutische Massnahmen im Spital wurden genauer betrachtet, um deren tatsächlichen Nutzen für die Patienten zu evaluieren. In diesem Zusammenhang wurde aber auch daran erinnert, wie wichtig eine frühe Mobilisation im Spital ist, damit die Patienten nach der Entlassung in ihrem gewohnten Umfeld wieder möglichst selbstständig zurecht kommen können.
Kasten 1:
TOP-5-LISTE DER MASSNAHMEN, DIE IN DER AMBULANTEN MEDIZIN VERMIEDEN WERDEN SOLLTEN
1. Durchführen einer bildgebenden Diagnostik in den ersten sechs Wochen bei Patienten mit unspezifischen Lumbalgien;
2. Messung des prostataspezifischen Antigens (PSA) zwecks Prostatakrebs-Screening ohne eine Diskussion von Risiko und Nutzen;
3. Verschreiben von Antibiotika gegen unkomplizierte Infekte der oberen Luftwege; 4. Durchführen eines präoperativen Thorax-Röntgenbildes, ausser bei Verdacht auf eine
intrathorakale Pathologie und 5. Weiterführen einer Langzeit-Pharmakotherapie bei gastrointestinalen Symptomen mit
Protonenpumpenblockern ohne Reduktion auf die tiefste wirksame Dosis.
Auch das Institut für Hausarztmedizin der Universität Zürich hat sich mit dem Thema befasst und 109 Hausärzte, die an einem Workshop zum Thema «Choosing
WIE SIEHT ES MIT DEN UMSETZUNGEN DER EMPFEHLUNGEN IN DER PRAXIS AUS?
Inwieweit die «smarter medicine»-Kampagne bereits in der
Praxis angekommen ist, untersuchte eine Gruppe um Kevin
Selby aus Lausanne unter Kollegen des «Swiss Primary
care Active Monitoring (SPAM)»-Netzwerks. In einer On-
line-Umfrage erhoben sie den Bekanntheitsgrad der Emp-
fehlungen im Allgemeinen und wollten wissen, ob diese im
Einzelnen auch befolgt werden oder welche Gründe dage-
gen sprächen. 58 Prozent (85 von 143) der bis dato Befrag-
ten hatten schon einmal davon gehört (70% in der
Deutschschweiz, 49% in der Romandie und 29% im Tes-
sin). Auf einer Skala von bis zu 10 Punkten erklärten sich
die Teilnehmer mit 8,8 bis 9,1 Punkten einverstanden und
hielten sich mehrheitlich an diese 5 Empfehlungen: So
gaben drei Viertel der Befragten an, überwiegend auf die
Antibiotikaverschreibung bei unkomplizierten Infekten der
oberen Luftwege sowie auf routinemässige präoperative
Thorax-Röntgenaufnahmen zu verzichten, 70 Prozent set-
zen bei unspezifischen Rückenschmerzen in den ersten
6 Wochen kaum auf die bildgebende Diagnostik. Etwa die
Hälfte verstiess nach eigener Angabe kaum gegen die
Empfehlung, das PSA-Screening vorgängig zu diskutieren,
und 37 Prozent gaben an, nur selten die Empfehlung zur
Dosisreduktion bei der Langzeitgabe der PPI-Hemmer zu
unterlaufen. Falls Empfehlungen nicht berücksichtig wur-
den, geschah das überwiegend auf Wunsch der Patienten
oder aufgrund von Symptomen, die ein aggressiveres Vor-
gehen nahelegten. Alles in allem scheine die Akzeptanz
der Empfehlungen im Netzwerk gut zu sein, insbesondere
im deutschsprachigen Raum; dennoch bliebe noch Raum
für Verbesserungen, wie die Autoren schreiben.
Mü
Selby K et al.: Acceptability and self-reported adherence to the Smarter Medicine «top 5 list» among family physicians of the SPAM network, Freie Mitteilung 270, 1. Frühjahrsversammlung der SGAIM, 25. bis 27. Mai 2016 in Basel.
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SGAIM
wisely» teilgenommen haben, um drei «weniger ist mehr»-Empfehlungen auf Basis ihrer täglichen Praxis gebeten. Diese sollten sich zum einen an der Häufigkeit des Vorkommens orientieren als auch das Verhältnis von potenziellem Schaden und Nutzen berücksichtigen. In insgesamt 18 Kleingruppen wurde diskutiert, deren Empfehlungen wurden im Plenum nach Häufigkeit zusammengestellt und dann mit den Themen der internationalen Listen verglichen. Dabei stellte sich heraus, dass keines der von den Hausärzten häufig genannten Themen mit den Empfehlungen der «smarter medicine»-Kampagne übereinstimmte. Ihre Vorschläge fanden sich jedoch auf internationalen Listen verschiedener internationaler Gesellschaften, die in den letzten drei Jahren publiziert worden waren. Im Unterschied zu den meisten anderen Listen waren die fünf meistgenannten Interventionen, die den befragten Hausärzten zufolge noch einmal näher betrachtet werden sollten, ausschliesslich diagnostischer Natur (siehe Tabelle, angegeben nach Häufigkeit). Alles in allem war die Überdiagnose bei den hier befragten Hausärzten stärker im Fokus als eine potenzielle Übertherapie. «Diese Überlegungen stellen nicht die Empfehlungen der «smarter medicine»- Kampagne infrage», betonte Dr. Stefan Neuner-Jehle, Mitautor des am SGAIM-Kongress vorgestellten Posters. «Aber vielleicht können sie als Einladung oder Ausgangspunkt für weitere, optimalerweise gemeinsame, Überlegungen dienen. Denn die Hausärzte kennen ja die Probleme in ihren Praxen aus einem anderen Blickwinkel als die akademisch tätigen Kollegen. Und ihre Einbeziehung in die Erarbeitung von Empfehlungen für die tägliche Praxis könnte ihre Identifikation mit den Empfehlungen und damit auch die Adhärenz verbessern.» Denn obwohl heute viele Hausärzte die «Choosing wisely»-Empfehlungen kennen (siehe auch Kasten), ist bei der Umsetzung noch Raum für Verbesserung, wie Neuner-Jehle berichtete. Bei den jüngeren Frauen würden international immer noch gleich viele Densitometrien gemacht und bei den Männern nach einem anfänglichen Knick immer noch gleich viele PSA-Untersuchungen, wie Schweizer Daten gezeigt hätten.
Christine Mücke
Quelle: Neuner-Jehle S, Senn O: Choosing wisely in family medicine:
Potential topics from GPs’ daily practice. P 430, 1. Frühjahrsversammlung
der SGAIM, 25. bis 27. Mai 2016 in Basel sowie Flyer der SGAIM-Fach-
gruppe unter www.smartermedicine.ch
Kasten 2:
TOP-5-LISTE DER MASSNAHMEN, DIE IM STATIONÄREN BEREICH VERMIEDEN WERDEN SOLLTEN
1. Keine umfangreichen Blut- oder Röntgenuntersuchungen in regelmässigen Abständen (z.B. täglich) ohne klinisch spezifische Fragestellung verordnen.
2. Keine Dauerkatheter bei Inkontinenz legen oder liegen lassen, wenn dies nur dem Komfort oder zur Überwachung des Urinvolumens bei nicht kritisch kranken Patienten dient.
3. Keine Transfusion von mehr als der minimal benötigten Menge Erythrozyten-Konzentrate verordnen, um Anämiesymptome zu lindern oder einen sicheren Hämoglobinwert zu erreichen.
4. Ältere Menschen während des Krankenhausaufenthalts nicht zu lange im Bett liegen lassen. Individuelle therapeutische Ziele sollten sich an den Werten und Präferenzen der Patienten orientieren.
5. Älteren Menschen als erste Wahl keine Benzodiazepine, andere Beruhigungsmittel oder Hypnotika gegen Schlaflosigkeit, Unruhe oder Delirium verabreichen und das Rezeptieren solcher Medikamente bei Spitalaustritt vermeiden.
«WENIGER IST MEHR» – DIESE PUNKTE SIND HAUSÄRZTEN WICHTIG:
«Choosing wisely»-Themen, die weiter untersucht werden sollten Check-up-Untersuchungen bei asymptomatischen Jüngeren
Ruhe- oder Belastungs-EKGs ohne entsprechende Symptomatik
Cholesterinbestimmungen bei über 75-Jährigen oder Statingabe in der Primärprävention und/oder bei höherem Alter Arthroskopie oder MRI bei Distorsion des Kniegelenks bildgebende Untersuchungen bei Kopfschmerzen ohne «red flags»
Korrespondierendes Thema in einer bestehenden Liste American Society of General Internal Medicine (2013); The College of Family Physicians of Canada (2014) American Academy of Family Physicians (2012); American Society of Cardiology (2012); Canadian Cardiovascular Society (2014); NICE (2015) Society for Post-Acute and Long-Term Care Medicine (2013)
American Medical Society for Sports Medicine (2014) American College of Radiology (2012); American Headache Society (2013); Canadian Association of Radiologists (2014); NICE (2015)
«CHOOSING WISELY»: VERANSTALTUNGSHINWEIS
Wer sich näher mit dem Thema beschäftigen möchte, kann sich am 25. September 2016 in Lugano von 9.30 bis 17.50 Uhr vertiefend damit befassen. Gemäss dem Motto «Wise Medicine. Let’s talk about smart choices! ... at least do no harm» treffen sich internationale Experten zum Erfahrungsaustausch auf den verschiedensten Ebenen. Die Teilnahme ist kostenfrei möglich, nähere Informationen sowie das Programm finden Sie online auf der Seite des EOC. Mü
Weitere Informationen zur Kampagne und deren Empfehlungen finden Sie online unter www.smartermedicine.ch oder direkt via QR-Code.
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