Transkript
EAN
Neue Hoffnung für Migränepatienten
Anti-CGRP-Antikörper bewähren sich in Prophylaxe und Therapie
Beim diesjährigen Kongress der European Academy of Neurology (EAN) waren Schmerz und Schmerztherapie wichtige Themen. Zur Sprache kamen unter anderem Behandlung und Prophylaxe von Migräneattacken. Hier könnte eine neue Gruppe gezielter, antikörperbasierter Therapien die Situation in Zukunft verbessern. Auch eine neue Leitlinie zur Neurostimulation bei neuropathischem Schmerz wurde vorgestellt.
Die therapeutischen Optionen bei der schweren, chronischen Migräne müssen nach wie vor als suboptimal bezeichnet werden. Einen entscheidenden Fortschritt hat hier die Gruppe der Triptane gebracht. Laut einer französischen Studie sind 83 Prozent der Migränepatienten, die Triptane einnehmen, mit dieser Akutbehandlung zufrieden. Bei allen anderen Optionen ist die Therapiezufriedenheit deutlich geringer (1). Prof. Julio Pascual vom Hospital Universitario Marqués de Valdecilla in Spanien weist allerdings darauf hin, dass andere Arbeiten ein weniger optimistisches Bild zeigen. In einer von seiner Gruppe durchgeführten Untersuchung lag der Anteil der zufriedenen Triptanpatienten bei lediglich 62 Prozent (Abbildung 1) (2). Auch das Nebenwirkungspotenzial müsse beachtet werden. Relativ häufig tritt beispielsweise nach Einnahme eines Triptans Engegefühl in der Brust auf. Bei Patienten mit höherer Anfallshäufigkeit besteht auch das Risiko des Übergebrauchs. Leider sind die Optionen in der Anfallsprophylaxe noch deutlich schlechter. Eine Reihe von Substanzen ist in Verwendung, die Wirkmechanismen sind im Detail noch nicht geklärt. Ein potenzieller Mechanismus könnte in der Unterdrückung der sogenannten Cortical Spreading
Depression (CSD) liegen, einer langsam über die Hirnrinde wandernden Welle mit Reduktion der neuronalen Erregbarkeit. Im Tiermodell wird die CSD als Äquivalent zur menschlichen Migräneaura erachtet. Viele präventive Medikamente können diesen Prozess unterdrücken. Als Mittel der ersten Wahl werden üblicherweise die Betablocker Propranolol und Metoprolol, die Antiepileptika Valproat und Topiramat sowie der Kalzium-KanalBlocker Flunarizin eingesetzt. Angestrebt wird im Rahmen der Präventivtherapie eine etwa 50-prozentige Reduktion von Migränetagen bei mindestens der Hälfte der Patienten. Daneben sollen die Kopfschmerzstärke deutlich gedrosselt und die verbleibenden Attacken besser kontrollierbar werden. Wie schwierig diese Ziele zu erreichen sind, zeigen beispielsweise Daten zu Topiramat und Propranolol. Eine Vergleichsstudie ergab für beide Substanzen mässige Wirksamkeit und nicht zu unterschätzende Nebenwirkungen. So spricht etwas mehr als ein Drittel der Patienten auf Topiramat an, während ein beinahe ebenso grosser Teil der Patientenpopulation therapielimitierende Nebenwirkungen entwickelt. Propranolol erwies sich bei vergleichbarer Wirksamkeit als etwas verträglicher (3). Alles in allem zeichnet Pascual
KOPFSCHMERZ: SELBSTMEDIKATION HÄUFIG UND OFT KOMBINIERT
Patienten, die unter häufigen und starken Kopfschmerzen leiden, greifen in vielen Fällen zur Selbstmedikation. Eine belgische Studie untersuchte anhand von Daten aus mehr als 200 Apotheken, was diese Menschen einnehmen und in welchen Mengen (8). Berücksichtigt wurden Daten von Personen, die in einer Befragung angaben, mindestens einmal im Monat Schmerzen zu haben. Insgesamt konnten 1889 Personen mit einem durchschnittlichen Alter von 52 Jahren befragt werden. Frauen waren mit 74,8 Prozent in der Mehrheit. Sie gaben im Median 35 Schmerztage und zwei Krankenstandstage aufgrund von Schmerzen innerhalb der vergangenen drei Monate an. Die häufigsten Schmerzlokalisationen waren Kopf (58,6%), Rücken (43,6%) und Hals (30,7%). Rund 73 Prozent hatten eine ärztliche Diagnose, mehrheitlich Migräne oder Arthrose, zwei Drittel hatten ihren Arzt innerhalb der vergangenen sechs Monate wegen der Schmerzen konsultiert. Die Kombination von verschreibungspflichtigen Medikamenten mit OTC-Produkten war häufig (38%). Mit 68,6 Prozent der Patienten war Paracetamol das am meisten verwendete Schmerzmittel, gefolgt von NSAR (46,8%) und Fixkombinationen von Analgetika mit Koffein (18,1%). Rund 40 Prozent der Befragten waren angesichts ihres Schmerzmittelbedarfs und möglicher Nebenwirkungen beunruhigt.
ZUFRIEDENHEIT VON MIGRÄNEPATIENTEN MIT DER AKUTTHERAPIE
Analgetika NSAR
Ergotamine
9 26
23 Q Spanien 26 Q Frankreich
39 47
Triptane 0
Abbildung 1
62 50
83 %
100
Quelle: Pasqual et al.: Neurologia 1999; 5: 204–209 Lanteri-Minet et al.: Headache 2011; 51: 590–601
18 • CongressSelection Rheumatologie/Schmerztherapie • August 2016
EAN
ein eher negatives Bild: «Mit der Akutbehandlung ist mindestens ein Drittel der Patienten nicht zufrieden, es gibt das Risiko kardiovaskulärer Nebenwirkungen sowie das Problem des Übergebrauchs. Noch schlechter sieht es in der Anfallsprophylaxe aus, wo geringe Wirksamkeit und Unverträglichkeiten zu einer deutlich reduzierten Adhärenz führen.»
Migränetherapie im Antikörper-Zeitalter
Neue Ziele in der Therapie und vor allem der Anfallsprophylaxe der Migräne werden daher dringend gesucht. Als solches Ziel bietet sich das Neuropeptid CGRP (Calcitonin Gene-related Peptide) an. Seit den 80er-Jahren ist bekannt, dass das Peptid als potenter Vasodilatator an der zerebrovaskulären Regulation mitwirkt. Seine Rolle in der Pathogenese primärer Kopfschmerzen konnte vor einigen Jahren demonstriert werden, als es gelang, durch CGRP-Infusionen bei Migränepatienten Kopfschmerzen auszulösen (4). Der Versuch, CGRP-Rezeptor-Antagonisten in der akuten und präventiven Migränebehandlung einzusetzen, misslang, da sich diese zwar als gut wirksam, dabei jedoch als zu toxisch erwiesen. Keiner der CGRP-Rezeptor-Antagonisten erhielt eine Zulassung. Nun könnte die Migränetherapie ins Antikörper-Zeitalter kommen. Denn mehrere monoklonale Antikörper gegen CGRP oder den CGRP-Rezeptor befinden sich in klinischen Studien und haben wenigstens teilweise bereits die Phase II durchlaufen. Die bislang verfügbaren Studienergebnisse weisen auf eine bessere Verträglichkeit hin. Das gilt zum Beispiel für AMG334, einen humanen, monoklonalen Antikörper gegen den CGRP-Rezeptor, für den im Rahmen des EAN-Kongresses in Kopenhagen 52-Wochen-Ergebnisse einer Phase-II-Studie in der Anfallsprophylaxe vorgestellt wurden (5). Beobachtet wurde dabei neben guter Verträglichkeit eine im Vergleich zu Plazebo höhere Ansprechrate sowie eine signifikant reduzierte Zahl der Migränetage, nicht jedoch der Migräneattacken. Nach einem Jahr hatten unter Therapie mit dem Antikörper 62 Prozent, 38 Prozent und 19 Prozent der Patienten Reduktionen der Migränetage um 50 Prozent, 75 Prozent oder 100 Prozent erreicht. Angesichts dieser Daten halten die Autoren die weitere klinische Entwicklung des Produkts für sinnvoll. Dazu Prof. Till Sprenger von der DKD HELIOS Klinik Wiesbaden im Rahmen der EAN-Pressekonferenz: «Sicherheit und Wirksamkeit bei episodischer und chronischer Migräne müssen zwar noch durch Phase-III-Studien endgültig bestätigt werden, ich bin jedoch zuversichtlich, dass uns künftig neue, spezifisch für diese Indikation entwickelte Mittel zur Verfügung stehen, um primäre Kopfschmerzen zu bekämpfen.»
Kein erhöhtes Risiko für Schlaganfall
Nicht zuletzt hatte der EAN 2016 auch eine sehr gute Nachricht für Migränepatienten zu bieten: Zwischen Migräne und «stummem» Schlaganfall ist laut einer dänischen Registerstudie kein Zusammenhang erkennbar (6). «Eine Reihe von Studien in den letzten 10 bis 20 Jahren kamen zum Ergebnis, dass Migränepatienten mit Aura ein erhöhtes Risiko für kleine Hirninfarkte in der weissen Substanz haben. Die aktuelle Arbeit widerlegt diese Theorie. Das ist eine grosse Erleichterung für Migränepatienten», kommentierte Prof. Mads Henrik Ravnborg aus Odense (Dänemark), Präsident der Dänischen Neurologischen Gesellschaft.
Antiepileptika: Verträglichkeit hängt von der Indikation ab
VERTRÄGLICHKEIT VON ANTIEPILEPTIKA NACH INDIKATION
In der Migränetherapie kommen, insbesondere in schweren, chronischen Fällen, auch
80 70
Q Nebenwirkungen 69,5 Q Therapieabbrüche
Betroffene Patienten in %
Substanzen zum Einsatz, die sonst bei Epilepsien Anwendung finden. Dies hat den Hintergrund pathophysiologischer Gemeinsamkeiten beider Erkrankungen. Aller-
60
50
40,1
40 30 29,6
56,5 54,6
46,6 41,9 38,5
dings würden «gefühlsmässig» diese Antiepileptika von Migränepatienten schlechter
20 10
vertragen als von Epilepti-
0
Epilepsie Migräne MEipgilreäpnseieund Gesamt
kern – so die Autoren einer
italienischen Studie, die dieser Frage nun anhand von Patientendaten nachging (7). Wie Michele Romoli aus Perugia (Italien) berichtete, wurden mit Hilfe des Liverpool Adverse Events Profile (LAEP) die Nebenwirkungs-
Abbildung 2: Nebenwirkungen und Therapieabbrüche wurden bei Patienten, die Antiepileptika wegen einer Migräne einnahmen, häufiger beobachtet als bei Patienten mit Epilepsie.
Quelle: Romoli M et al. (7)
profile von Valproat, Topira-
mat und Lamotrigin bei Patienten, die unter Epilepsie (E),
Migräne (M) oder beidem (ME) litten, verglichen. Tatsächlich zeigen die Daten, dass Migränepatienten die Medikamentennebenwirkungen mehr zu schaffen machen
als den Epilepsiepatienten. Auch Therapieabbrüche
wegen Nebenwirkungen waren in der Migränepopulation
häufiger (Abbildung 2). Generell wurde unter den untersuchten Substanzen Lamotrigin besser vertragen als Valproat und Topiramat. Die Ergebnisse verwundern inso-
fern, als die genannten Substanzen zur Prophylaxe
epileptischer Anfälle in deutlich höheren Dosierungen
eingesetzt werden als in der Migränetherapie. Die Autoren vermuten als Ursache dieser Diskrepanz zentrale Sensibilisierungsprozesse im Rahmen der Migräne. Allerdings könnten auch psychologische Faktoren hineinspie-
len. Im Rahmen der auf die Präsentation der Daten fol-
genden Diskussion wurde die Vermutung aufgestellt, dass die Angst vor einem epileptischen Anfall grösser ist als die Angst vor einer Migräneattacke und Epilepsiepatienten daher eine höhere Motivation zur Einnahme ihrer
Medikamente mitbringen.
Reno Barth
Quelle: Symposium «EHF/EAN Topical Symposium: CGRP antibodies: a new class of migraine-specific preventive medication», sowie Postersessions und Pressekonferenz beim Kongress der European Academy of Neurology (EAN) sowie 28. bis 31.Mai 2016 in Kopenhagen.
Take Home Messa es
® Effektivität und Verträglichkeit der medikamentösen Prophylaxe von Migräne-
attacken sind generell suboptimal.
® Mit monoklonalen Antikörpern gegen CGRP oder den CGRP-Rezeptor befinden sich
neue Migränetherapien in klinischen Studien.
® Antiepileptika werden in der Migräneprophylaxe schlechter vertragen als in der
Epilepsiebehandlung.
CongressSelection Rheumatologie/Schmerztherapie • August 2016 • 19
EAN
Referenzen: 1. Lantéri-Minet M et al.: An instrument to assess patient perceptions of satisfaction with acute migraine treatment (EXPERT Study). Headache 2011; 51(4): 590–601. 2. Pascual J et al.: [Spanish study of quality of life in migraine (II). Profile of medication consumption and subjective efficacy]. Neurologia 1999; 14(5): 204–209. Review (Spanisch). 3. Diener HC et al.: Topiramate in migraine prophylaxis – results from a placebo-controlled trial with propranolol as an active control. J Neurol 2004; 251(8): 943–950. 4. Lassen LH et al.: CGRP may play a causative role in migraine. Cephalalgia 2002; 22(1): 54–61. 5. Sun H et al.: Randomised, double-blind, phase-2 study and 52-Week interim results of an openlabel extension to evaluate AMG334 for the prevention of episodic migraine. EAN 2016, Abstract O2211. 6. Gaist D et al.: Migraine with aura and risk of silent brain infarcts and white matter hyperintensities in women: a population-based MRI-study of Danish twins. EAN 2016, Abstract O2208. 7. Romoli M et al.: Tolerability of antiepileptic drugs in migraine and epilepsy: who is at increased risk of adverse events? EAN 2016, Abstract O3118. 8. Mehuys E et al.: Self-medication with over-the-counter analgesics: a survey of patient characteristics and attitudes about pain medication; EAN 2016 Abstract O3116.
20 • CongressSelection Rheumatologie/Schmerztherapie • August 2016