Transkript
EAU UPDATE
Probleme mit dem alternden Urogenitaltrakt
Besonderheiten der LUTS-Therapie bei Multimorbidität und Polypharmazie
Inkontinenz und andere Symptome des unteren Harntrakts nehmen mit dem Alter zu. Dies ist zum einen die Folge eines natürlichen Alterungsprozesses, zum anderen jedoch auch das Ergebnis vermeidbarer Risikofaktoren.
WIR HABEN ES MIT EINEM SPEKTRUM AN VERÄNDERUNGEN ZU TUN, WOVON EINIGE JEDEN MENSCHEN BETREFFEN, WENN ER ALT GENUG WIRD.
Der Prozess des Alterns betrifft in jedem Fall auch den Urogenitaltrakt. Hier kommt es zu einer Reihe gut bekannter Veränderungen, wie Prof. Alan J. Wein von der University of Pennsylvania im Rahmen einer State of the Art Lecture betonte: «Wir haben es mit einem Spektrum an Veränderungen zu tun, wovon einige jeden Menschen betreffen, wenn er alt genug wird.» Zu erwarten sind eine abnehmende Sensibilität der Blase, eine reduzierte Fähigkeit, die Miktion hinauszuzögern, sowie eine eingeschränkte Kontraktilität der Blase. Damit kommt es zur Zunahme von Detrusor-Überaktivität, Restharnvolumen und Nykturie. Einige Veränderungen sind geschlechtsspezifisch, wie zum Beispiel die Obstruktion infolge einer Prostatavergrösserung oder ein Prolaps der Beckenorgane bei Frauen. Die Symptome im Bereich des unteren Harntrakts (engl. lower urinary tract symptoms: LUTS) nehmen mit dem Alter zu. In der Gruppe der über 60-Jährigen leidet mehr als ein Drittel unter Nykturie mit mindestens zwei Miktionen pro Nacht, und fast 20 Prozent geben verstärkten Harndrang an (1). Neben der Alterung des Urogenitaltrakts tragen auch systemische Veränderungen zu diesen Symptomen bei. Wein nannte unter anderen neurologische (auch kognitive) Funktionseinschränkungen sowie eine ganze Palette von Phänomenen und Erkrankungen, die mit dem Alter zunehmen, wie Übergewicht, Diabetes, Herzinsuffizienz, Arteriosklerose, hormonelle Veränderungen und vieles mehr. Auch Nebenwirkungen von Medikamenten können die Funktionen des Urogenitaltrakts beeinflussen.
Oxidativer Stress schädigt die Blase
Wein: «Oxidativer Stress steht hinter vielen dieser Veränderungen.» Als Ursachen von oxidativem Stress in der Blase nannte er direkte mechanische Schädigungen oder Ischämie und anschliessende Reperfusion. Das Auftreten freier Radikale führt in weiterer Folge zu Neurodegeneration und Inflammation und weiter zu anatomischen und funktionellen Veränderungen. Komorbiditäten wie zum Beispiel Diabetes begünstigen diese pathologische Kaskade, die schliesslich in Fehlfunktionen des Detrusors resultieren kann. Kompliziert wird die Situation noch dadurch, dass die Anfälligkeit der Blase gegenüber oxidativem Stress mit dem Alter zunehmen dürfte. Eine mögliche Obstruktion verschlimmert die Situation (2, 3). Auf zellulärer Ebene werden im Detrusor charakteristische Veränderungen (dense band pattern) beschrieben, deren Be-
deutung allerdings umstritten ist. Wein: «Hier gibt es keinen Konsens. Es ist auch nicht klar, ob es sich hier um primäre, altersbedingte Veränderungen oder um Folgen von Ischämie handelt.» Generell wird ein zunehmender Rückgang sowohl der glatten als auch der Skelettmuskulatur im Harndrang beschrieben. Muskelgewebe wird dabei durch Bindegewebe ersetzt, wobei allerdings auch ein Kollagenmangel auftreten kann, der im Rahmen von Stressinkontinenz und Prolaps pathophysiologische Bedeutung hat. Bei Frauen mit Stressinkontinenz wurde auch ein Kollagenmangel (infolge eingeschränkter Kollagensynthese) in anderen Körperregionen, wie zum Beispiel der Haut, beschrieben (4).
Innervation nimmt mit dem Alter ab
Der Urogenitaltrakt ist auch direkt von der Alterung des Nervensystems betroffen. Wein: «Mit dem Alter nimmt die autonome Innervation der Blase ab. Die Denervation betrifft auch den Beckenboden sowie den Sphinkter. Das kann zu einer generell reduzierten Aktivität oder zu einer ungleichmässigen Kontraktion des Detrusors führen. Dabei gehen sowohl muskarinische M3-Rezeptoren als auch Beta3-Rezeptoren verloren, was das Ansprechen auf die bei überaktiver Blase eingesetzten Medikamente reduziert.» Dem steht auch eine eingeschränkte afferente Aktivität gegenüber, die unter anderem zu einer abnehmenden Sensibilität der Blase führt. Wein wies in diesem Zusammenhang auch auf ein Feedbacksystem zwischen Detrusor und Urethra hin, das bei der Miktion die Stärke des Harnstroms reguliert und vermutlich ebenfalls im Alter nur mehr eingeschränkt funktioniert. Etwaige zentrale Läsionen können ebenfalls Kontinenz und Miktion beeinflussen. Wein betonte, dass die exakten Zusammenhänge zwischen der Lokalisation etwaiger ZNS-Läsionen und einer konkreten Dysfunktion nicht definiert seien. Bei älteren Probanden wurde in der Insula mittels fMRT eine eingeschränkte Reaktion auf die Blasenfüllung nachgewiesen (5). Ob dahinter Einschränkungen der zentralen Konnektivität oder der Afferenzen aus der Blase stehen, ist unklar. Damit wird die Füllung der Blase erst bemerkt, wenn diese bereits sehr voll ist, was zur Entwicklung von Dranginkontinenz beitragen könnte (6).
Kollagenverlust infolge von Östrogenmangel
Bei Frauen kommt der gesamte Komplex hormoneller Umstellungen im Zuge der Menopause hinzu. Wein: «Infolge der Östrogendefizienz kommt es zu Veränderungen der Durch-
18 • CongressSelection Urologie • Mai 2016
UPDATE
EAU
blutung im kleinen Becken sowie des Kollagenmetabolismus mit Abnahme des Kollagengehalts verschiedener Gewebe, was die Entwicklung von Stressinkontinenz begünstigt. Bis zu 80 Prozent der älteren Frauen leiden unter atrophischer Vaginitis, die meist mit Drang assoziiert ist. Hinzu kommt noch eine Abnahme der Sekretion von Vasopressin, was zu Nykturie führen kann.» Ob und wieweit die genannten prädisponierenden Faktoren in einem bestimmten Menschen zu nennenswerter Pathologie führen, hängt, so Wein, letztlich auch von konkreten Ereignissen und Verhaltensweisen ab, die zumindest zum Teil beeinflussbar sind. Prof. Adrian Wagg von der University of Alberta unterstrich, dass «ältere Menschen» keine homogene Gruppe darstellten, sondern einerseits biologisch weit jünger sein könnten, als es ihrem Lebensalter entspreche, andererseits sei aber auch Multimorbidität mit allen potenziellen Konsequenzen nicht selten. Die Risiken sind bis zu einem gewissen Grad beeinflussbar – und zwar am besten durch Lebensstilmassnahmen, die jedoch bereits um die Lebensmitte begonnen werden müssen. Diese können nicht nur das kardiovaskuläre Risiko, sondern auch das Risiko von Erkrankungen des unteren Harntrakts erheblich reduzieren. Jedenfalls nimmt die Prävalenz von Inkontinenz und anderen Symptomen des unteren Harntrakts mit den Jahren zu. Wobei man allerdings in den Gruppen mit dem höchsten Alter zunehmend auf die Extrapolation von Daten angewiesen sei, da multimorbide Personen, Demenzpatienten und Patienten in Pflegeheimen in der Regel nicht in Studien eingeschlossen würden. Studiendaten zeigen jedoch, dass Multimorbidität im höheren Alter eher den Normalfall darstellt und die Mehrzahl der Menschen über 75 Jahre mindestens drei relevante Erkrankungen aufweist (7). Die Folge ist Polypharmazie mit allen resultierenden Problemen und Risiken. Gute Verträglichkeit und vor allem ein geringes Interaktionspotenzial werden daher von einem idealen Medikament für ältere Menschen gefordert.
Welche Medikamente für ältere Patienten?
Medikamente spielen auch im Zusammenhang mit LUTS eine wichtige Rolle, zumal sie die Funktionen des unteren Harntrakts sowohl günstig als auch ungünstig beeinflussen können. Für die in der Behandlung der überaktiven Blase eingesetzte Substanzgruppe der Antimuskarinika liegen teilweise Daten zu betagten Populationen vor. Wagg: «Das meiste stammt aus Post-hoc-Analysen der Patienten über 65 Jahre aus Zulassungsstudien. Die Daten zeigen eine Wirksamkeit und unterschiedliche Verträglichkeit. Es gibt keine negativen Studien.» Bedacht werden müsse allerdings das Potenzial kognitiver Nebenwirkungen dieser Medikamente. Dieses hänge davon ab, wie stark die (unerwünschte) Blockade des M1-Rezeptors durch die jeweilige Substanz ausfalle und wie leicht diese durch die Blut-Hirn-Schranke gelangen könne. Auch Interaktionen mit anderen Medikamenten spielen eine Rolle. Studiendaten zeigen, so Wagg, für die neueren Antimuskarinika zumindest kurzfristig eine neurologische Sicherheit mit lediglich seltenem Auftreten kognitiver Nebenwirkungen. Reversible Ereignisse wie Delirium wurden beschrieben. Allerdings fehlen die Langzeitdaten. Um die Sicherheit von Medikamenten für ältere Patienten einstufen zu können, wurden die FORTA-Kriterien (Fit fOR
THERAPIE BEI LUTS NACH DEN FORTA-KRITERIEN
FORTA A: absolut empfohlen
–
eindeutig positive Nutzen-Risiko-Bewertung
für eine bestimmte Indikation
FORTA B: vorteilhaft nachgewiesene oder o ensichtliche E ektivität bei Älteren, aber eingeschränkter E ekt oder Sicherheitsbedenken
Dutasterid, Fesoterodin, Finasterid
FORTA C: mit Vorsicht fragliches Nutzen-Risiko-Pro l bei Älteren
Darifenacin, Mirabegron, Oxybutynin oral (Niedrigdosis u. extended release), Silodosin, Solifenacin, Tadala l, Tamsulosin, Tolterodin, Trospium
FORTA D: gar nicht zu vermeiden bei Älteren, absetzen und nach Alternativen suchen
Alfuzosin, Doxazosin, Oxybutynin oral (immediate release), Propiverin, Terazosin
nach Oelke M et al. (9)
The Aged) definiert (8). Kürzlich wurden bei LUTS eingesetzte Medikamente nach diesen Kriterien bewertet. Dabei landeten Alfuzosin, Doxazosin, Immediate-release-Oxybutynin, Propiverin und Terazosin in Gruppe D und sollen folglich nicht mehr eingesetzt werden. Kein Medikament schaffte es in Gruppe A. Dutasterid, Fesoterodin und Finasterid kamen in Gruppe B und werden folglich empfohlen. Alle anderen sind in Gruppe C und folglich mit Vorsicht einzusetzen (9). Wagg verwies in diesem Zusammenhang auch auf die generell schlechte Adhärenz in der medikamentösen Therapie von OAB und LUTS. Sie dürfte allerdings in der Altersgruppe der über 65-Jährigen besser sein als bei jüngeren Patienten (10). «Damit wird das Problem etwas kleiner. Allerdings nehmen auch bei den älteren Patienten nach einem Jahr mehr als die Hälfte ihre Medikamente nicht mehr.»
Reno Barth
Quelle: EAU16-Kongress, 11.–15. März 2016 in München.
Take Home Messa es
® Der Urogenitaltrakt ist im Rahmen eines physiologischen Alterungsprozesses
einer Reihe von Veränderungen unterworfen.
® Symptome des unteren Harntrakts nehmen mit dem Alter zu. ® Oxidativer Stress ist die Ursache zahlreicher Störungen und Beschwerden im
Urogenitalbereich.
® Östrogendefizienz beeinträchtigt im gesamten Organismus die Synthese von
Kollagen.
® Multimorbidität stellt im höheren Alter eher den Normalfall als die Ausnahme dar. ® Die FORTA-Kriterien zeigen die Eignung von Medikamenten für alte Patienten.
CongressSelection Urologie • Mai 2016 • 19
EAU
Referenzen: 1. Irwin DE et al.: Population-based survey of urinary incontinence, overactive bladder, and other lower urinary tract symptoms in five countries: results of the EPIC study. Eur Urol 2006; 50(6): 1306–1314. 2. Agartan CA et al.: Effect of age on the response to in vitro ischemia and reperfusion of the rabbit bladder. Urol Int 2007; 78(2): 155–159. 3. Erdem E et al.: Effect of maturation and aging on response of rabbit bladder to bilateral in vivo ischemia/reperfusion. Urology 2006; 67(1): 220–224. 4. Rechberger T et al.: Female urinary stress incontinence in terms of connective tissue biochemistry. Eur J Obstet Gynecol Reprod Biol 1993; 49(3): 187–191. 5. Griffiths D et al.: Cerebral control of the bladder in normal and urgeincontinent women. Neuroimage 2007; 37(1): 1–7. 6. Griffiths DJ et al.: Cerebral control of the lower urinary tract: how age-related changes might predispose to urge incontinence. Neuroimage 2009; 47(3): 981–986. 7. Barnett K et al.: Epidemiology of multimorbidity and implications for health care, research, and medical education: a cross-sectional study. Lancet 2012; 380(9836): 37–43. 8. Wehling M: Multimorbidity and polypharmacy: how to reduce the harmful drug load and yet add needed drugs in the elderly? Proposal of a new drug classification: fit for the aged. J Am Geriatr Soc 2009; 57(3): 560–561. 9. Oelke M et al.: Appropriateness of oral drugs for long-term treatment of lower urinary tract symptoms in older persons: results of a systematic literature review and international consensus validation process (LUTSFORTA 2014). Age Ageing 2015; 44(5): 745–755. 10. Wagg A et al.: Persistence and adherence with the new beta-3 receptor agonist, mirabegron, versus antimuscarinics in overactive bladder: Early experience in Canada. Can Urol Assoc J 2015; 9(9–10): 343–350.
UPDATE
20 • CongressSelection Urologie • Mai 2016