Transkript
CongressSelection
Wege und Umwege in der interventionellen Kardiologie
Die Bewertung neuer Entwicklungen hat ihre Tücken
Anlässlich der diesjährigen Jahrestagung der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie oblag es Prof. Bernhard Meier, Bern, die Andreas Grüntzig Lecture zu halten, deren Namensgeber Dr. Andreas Roland Grüntzig bereits im Alter von 46 Jahren tragisch früh verstarb – und doch die interventionelle Kardiologie bis heute nachhaltig geprägt hat.
M it der Auswahl von Bernhard Meier, der sich als überrascht und sehr geehrt bezeichnete, treffe es genau den Richtigen, unterstrich Prof. Dan Atar in seinen einleitenden Worten, habe sich doch Meier selber seit seiner persönlichen Arbeit mit Andreas Grüntzig als Pionier der invasiven Kardiologie verdient gemacht. Schon beim ersten kathetergestützten Eingriff im September 1977 war er als Grüntzigs Assistent dabei. Da eine Koronarangiografie damals üblicherweise erst im fortgeschrittenen Krankheitsverlauf diagnostisch eingesetzt wurde, war es nicht einfach, einen Patienten mit isolierter Eingefässerkrankung zu finden, wie sie für die erstmalige Ballondilatation einer koronaren Gefässverengung am besten schien. Aber schliesslich entdeckte Meier einen geeigneten Patienten, der erfolgreich behandelt werden konnte und noch heute – nach zwischenzeitlich drei zusätzlichen Interventionen – wohlauf ist; er habe gerade einen unauffälligen Stresstest absolviert, berichtete Meier. Als weitere Höhepunkte bezeichnete er unter anderem die erste Stentimplantation 1986, den ersten perkutanen Aortenklappenersatz durch Cribier 2002 sowie den ersten perkutanen Mitralklappenersatz durch Sondergaard 2012. Neue Entwicklungen richtig einschätzen In seinem Vortrag liess Meier aber nicht nur Stationen der interventionellen Kardiologie Revue passieren, sondern erinnerte auch daran, dass Grüntzig, der selber viel publiziert habe, bei der Einschätzung von Neuerungen immer einen
Bernhard Meier hielt nicht nur die Andreas Grüntzig Lecture, sondern wurde für seine Leistungen in Lehre und Forschung bereits mit dem Andreas-Grüntzig-Award 2015 der SGK ausgezeichnet.
ganz «speziellen» Faktor berücksichtigte: Die Tatsache nämlich, dass die Erfolge neuer Entwicklungen oftmals etwas grösser und besser und die alten Fakten ein wenig kleiner und schlechter dargestellt würden, als sie seien, um das Ausmass der Neuerung ein wenig sichtbarer «herauszuarbeiten». Solcherart fehlerhafte Datenpräsentation oder auch nur -interpretationen (und manchmal auch einfach die Missachtung präsentierter Daten) können die Entwicklung neuer Verfahren und deren Einsatz fehlleiten, wie Meier unterstrich. Als Beispiele führte er an: • den langsamen Start des koronaren Stentings − geschuldet
seinem unverdient schlechten Ruf. Dieser resultierte daraus, dass Stents nach Versagen aller anderen Massnahmen als letzter Ausweg galten und dann naturgemäss weniger erreichen konnten als beispielsweise die koronare LaserAtherektomie bei elektiven Patienten. • das Konzept der Nichtbehandlung von Läsionen, solange der Wert der fraktionellen Flussreserve normal sei; • eine im Allgemeinen viel zu hohe Stentrate bei PCI, die bei einem perfekten Operateur lediglich bei etwa einem Viertel liegen sollte, da die übrigen Patienten auch ohne Stent ein gutes dauerhaftes Resultat haben; • die (vermeintliche) Vereinfachung durch einen radialen Zugang bei der Koronarangiografie auf Kosten der Patienten. In der frühen Stent-Ära machte sich aber auch noch ein anderes Problem bemerkbar: die späteren Stentthrombosen. Nach einer Ballonangioplastie mussten die Patienten in der akuten Phase gut beobachtet werden; hatten sie die erste Zeit jedoch überstanden, waren keine abrupten Verschlüsse mehr zu befürchten. Mit dem Stenten (bzw. den Stentthrombosen) wurde die Prozedur auf lange Sicht sogar etwas gefährlicher. Dabei erwies sich nachträglich die Annahme, dass die medikamentenfreisetzenden Stents mehr Thrombosen auslösen als unbeschichtete, als von vornherein falsch. Sie wurde dadurch genährt, dass man sich auf die späten anstelle der (unter unbeschichteten Stents häufigeren) kurzfristigen Komplikationen konzentrierte. «Heute erst wissen wir so langsam, dass wir auf unbeschichtete Stents verzichten sollten, insbesondere bei thrombosegefährdeten Patienten», so Meier. Und ergänzte: Mit der modernen Generation der medikamentenfreisetzenden Stents sind sowohl die frühen als auch die späten Thrombosen selten geworden.
Christine Mücke
Quelle: «Interventional cardiology, where real life and science not necessarily meet», ESC 2015, 30. August 2015 in London.
34 Kardiologie • Dezember 2015
Foto: Mü