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Rasche Diagnostik und Stratifizierung des Risikos bei Non-STEMI ACS zentral
Viele Änderungen in der Leitlinie zum akuten Koronarsyndrom
Die European Society of Cardiology (ESC) stellte am Jahrestreffen ihre neue Leitlinie zum akuten Koronarsyndrom ohne ST-Streckenhebung vor. Die Änderungen gegenüber früheren Dokumenten sind zahlreich und werden für einige Zentren zu deutlichen Veränderungen führen. Patienten sollen schneller ins Katheterlabor, und bei der PCI ist dem radialen Zugang der Vorrang zu geben.
Z u den mit Spannung erwarteten Highlights des ESCKongresses in London zählte die aktualisierte Leitlinie zur Therapie des akuten Koronarsyndroms ohne STStreckenhebung (Non-STEMI ACS); im Vergleich zu 2011 sind darin einige wichtige Neuerungen enthalten. Eine wichtige Änderung der neuen ESC-Leitlinie wird für viele Zentren in Europa eine erhebliche Umstellung bedeuten: Bei der perkutanen Intervention im Katheterlabor soll vom transfemoralen auf den radialen Zugang umgestellt werden. Derzeit gibt es im Hinblick auf den Zugang «kulturelle» Unterschiede sowohl zwischen verschiedenen Ländern als auch zwischen den Zentren. Prof. Marco Roffi vom Universitätsspital Genf, der Vorsitzende der Task-Force, die die Leitlinie erstellte, begründet diese Empfehlung mit Studiendaten, die bei femoralem Zugang vermehrte Blutungskomplikationen sowie eine erhöhte Mortalität gezeigt haben. Von besonderer Aussagekraft waren in diesem Zusammenhang die Ergebnisse der MATRIXStudie, die bei transfemoralem Zugang eine erhöhte Mortalität fand (1). In Vergessenheit geraten dürfe der femorale Zugang jedoch nicht, so Roffi. Er werde nämlich für andere Indikationen wie zum Beispiel die Implantation interventioneller Klappen oder die Behandlung struktureller Herzerkrankungen oder periphere Revaskularisierungen benötigt. Daher müsse auch nach der Umstellung in allen Zentren die Fähigkeit, über den femoralen Zugang zu intervenieren, gepflegt werden.
Stratifizierung nach Risikogruppen Die Task-Force der ESC unterstreicht die Bedeutung rascher Diagnostik und Risikostratifizierung bei Patienten mit NonSTEMI ACS. Mit anderen Worten: Patienten sollen in Zukunft schneller, möglichst bereits eine Stunde nach Krankenhausaufnahme, ins Katheterlabor kommen. Wenn man Übertherapie und verzichtbare invasive Diagnostik vermeiden will, bedeutet dies vor allem den schnelleren Ausschluss eines ACS bei Patienten mit Angina pectoris oder anderen (beispielsweise gastrointestinalen) Erkrankungen, die Brustschmerzen verursachen. Dazu wird eine Stratifizierung nach Risikogruppen vorgeschlagen, die sich an den Troponinwerten beziehungsweise deren Veränderungen über die Zeit orientiert. Roffi: «Troponin sollte als quantitativer und nicht als qualitativer Marker gesehen werden.» Daher unterstreicht die aktuelle Leitlinie die Bedeutung hochsensitiver Troponinassays (hsTrop). Diese ermöglichen eine schnellere Diagnose des
akuten Koronarsyndroms, da sie aufgrund ihrer höheren Empfindlichkeit das «troponinblinde» Fenster verkürzen. Für den Einsatz von hsTrop besteht eine IA-Empfehlung. Die Troponinbestimmung wurde in der ESC-Leitlinie aus dem Jahr 2011 einmal gleich bei Krankenhausaufnahme und ein zweites Mal nach 3 Stunden empfohlen. Dank der hochsensitiven Troponinassays kann dieses Zeitfenster nun auf 1 Stunde verkürzt werden. Die Diagnose eines ACS kann somit nun nach einer Rule-in/Rule-out-Regel innerhalb 1 Stunde gestellt werden. Da hochsensitive Assays nicht überall verfügbar sind, bleibt allerdings auch die alte 3-Stunden-Regel in Kraft, was bedeutet, dass in Zukunft beide Algorithmen verwendet werden können. Wobei die Leitlinie hier einen gewissen Widerspruch in sich trägt: Die bevorzugte, kurze «door to needle»-Zeit ist mit dem alten Algorithmus nicht zu bewerkstelligen.
Bereits nach einer Stunde ins Katheterlabor In diesem Sinne unterstreicht Roffi die Vorzüge des 1-Stunden-Algorithmus, da dieser die Zeit in der Notaufnahme verkürze und erlaube, dass Patienten, bei denen kein ACS vorliegt, schneller entlassen beziehungsweise anderen diagnostischen Massnahmen zugeführt werden können. Der Ausschluss eines ACS ist möglich, wenn das Troponin nach 1 Stunde sehr niedrig oder niedrig ist und innerhalb der 1. Stunde ohne Veränderung bleibt. Ist der Wert initial hoch oder steigt er innerhalb der 1. Stunde deutlich an, ist die Wahrscheinlichkeit eines ACS so hoch, dass eine Abklärung mittels Katheter gerechtfertigt erscheint. Allerdings enthält die Guideline insofern eine Hintertüre, als bei grenzwertigem Troponin die Option der Beobachtung bleibt. Roffi betont, dass dieses «Rule-out»-Verfahren mit einem negativen Prädiktionswert von 98 Prozent sehr sicher sei.
Aufteilung in vier Risikogruppen Wie schnell die Patienten ins Katheterlabor sollen, hängt vom individuellen Risiko ab. In der neuen ESC-Leitlinie werden vier Risikogruppen (sehr hoch, hoch, mittel und niedrig) definiert, in die die Patienten anhand eines Kataloges von Kriterien stratifiziert werden. Wer in die höchste Risikoklasse fällt, sollte innerhalb von 2 Stunden einer Katheterintervention zugeführt beziehungsweise sofort an ein Zentrum mit Katheterlabor verlegt werden, so sich keines im Haus befindet. Für die Risikoklasse «hoch» wird die Intervention innerhalb von 24 Stunden empfohlen, oder der Patient soll innerhalb eines
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Tages an ein PCI-Zentrum kommen. Bei mittlerem Risiko ist ein Zeitverlust von bis zu 72 Stunden bis zur Intervention akzeptabel. Niedriges Risiko bedeutet, dass vermutlich kein ACS vorliegt und nicht unbedingt eine Katheterintervention erforderlich ist. Um das Risiko von (schlimmstenfalls tödlichen) Komplikationen zu minimieren, wird in der Neufassung der Leitlinie die Bedeutung des Rhythmusmonitorings hervorgehoben. Dazu wurde ein Katalog von Risikofaktoren für Arrhythmien zusammengestellt, anhand dessen Risikopatienten in der klinischen Praxis identifiziert werden können. Für ein hohes Risiko sprechen unter anderem deutlich reduzierte linksventrikuläre Auswurffraktion, Probleme oder Komplikationen bei der PCI sowie hämodynamische Instabilität. Vereinfacht könnte man sagen: Patienten, denen es schlecht geht, haben auch das höchste Risiko. Allgemein wird ein Rhythmusmonitoring bis zur Diagnose empfohlen. Bei gesichertem Non-STEMI und niedrigem Risiko von Arrhythmien soll ein Monitoring über 24 Stunden erwogen werden, bei hohem Risiko auch darüber hinaus.
Duale Plättchenhemmung in Abhängigkeit vom Risikoprofil Generell wird mit einer Empfehlung Klasse 1, Evidenz A zur Verwendung von Drug Eluting Stents der neuen Generation geraten. Die gilt (als «Kann»-Empfehlung) nun auch für Patienten, bei denen wegen eines Blutungsrisikos die duale Antiplättchentherapie nur verkürzt gegeben werden kann. Die duale Antiplättchentherapie (DAPT), bestehend aus einem P2Y12-Inhibitor und ASS, wird allgemein nach Koronarintervention infolge eines Non-STEMI empfohlen. Die generelle Empfehlung lautet auf 1 Jahr DAPT, allerdings erlaubt die aktualisierte Leitlinie eine flexiblere, besser auf die Bedürfnisse des individuellen Patienten zugeschnittene Vorgehensweise. Konkret kann die Behandlung abhängig vom Risikoprofil auf 3 bis 6 Monate verkürzt oder auf bis zu 30 Monate ausgedehnt werden. Da dank der verbesserten Stenttechnologie die Raten von Stentthrombosen dramatisch zurückgegangen sind, kann bei Patienten mit hohem Blutungsrisiko eine verkürzte DAPT gewählt werden. Prof. Carlo Patrono von der Università Cattolica del Sacro Cuore in Rom, ebenfalls Mitglied der Task-Force, verwies in seiner Präsentation auf eine kürzlich publizierte Metaanalyse, die eine Reduktion des Blutungsrisikos um etwa 40 Prozent durch die Verkürzung der DAPT ergab. Gleichzeitig zeigt diese Studie jedoch auch, dass eine verlängerte DAPT zu einer Reduktion des Risikos von Myokardinfarkten um den Preis eines erhöhten Blutungsrisikos führt. Diese Option kann laut der aktuellen ESC-Leitlinie bei Patienten mit hohem ischämischem und geringem Blutungsrisiko gewählt werden. Grundsätzlich sollte den neueren P2Y12-Inhibitoren Ticagrelor und Prasugrel der Vorzug gegeben werden. Die kürzlich zugelassenen Substanzen Cangrelor und Vorapaxar werden aufgrund der noch geringen klinischen Erfahrungen lediglich als Optionen erwähnt.
Zeitpunkt für den Einsatz der P2Y12-Inhibitoren Verändert wurden auch die Empfehlungen hinsichtlich des optimalen Zeitpunkts der Verabreichung des P2Y12-Inhibitors. In der Leitlinie von 2011 wurde diese so früh wie möglich empfohlen. Mittlerweile liegen aber Daten vor, die zu einer Einschränkung geführt haben. Für Prasugrel wird vom «Preloading» abgeraten, da dieses in der ACCOAST-Studie das Blutungsrisiko erhöhte, ohne Vorteile zu bringen (3). Für Clopidogrel und Ticagrelor sind keine ausreichenden Daten
Take Home Messages
• Bei der perkutanen Intervention infolge eines ACS ist dem radialen Zugang gegenüber dem transfemoralen der Vorzug zu geben.
• Mit einem hochsensitiven Troponinassay kann die Diagnose eines ACS nach einer Rule-in-/Rule-out-Regel innerhalb 1 Stunde gestellt werden.
• ACS-Patienten, die in die höchste Risikoklasse stratifiziert werden, sollten innerhalb von 2 Stunden einer Katheterintervention zugeführt werden.
• Die duale Antiplättchentherapie (DAPT), bestehend aus einem P2Y12-Inhibitor und ASS, wird allgemein nach Koronarintervention infolge eines Non-STEMI empfohlen.
• Von einem «Preloading» mit Prasugrel wird abgeraten. • Wenn antikoagulierte Patienten ein ACS erleiden, kann in der Folge nach
individuellen Gegebenheiten eine Tripletherapie aus Antikoagulation, Clopidogrel und ASS gegeben werden.
vorhanden, um diese Frage zu beantworten. Dies wird auch explizit in der Guideline festgehalten. Patrono: «Eine Vorbehandlung mit Prasugrel betrachten wir jetzt als kontraindiziert. Das ist ein echter Paradigmenwechsel. Im Fall von Clopidogrel und Ticagrelor haben wir eine Evidenzlücke, die dringend geschlossen werden müsste.»
DAPT und Antikoagulation Erstmals sind in der Leitlinie auch Empfehlungen für eine Tripeltherapie enthalten. Dies betrifft Patienten, die beispielsweise wegen Vorhofflimmerns antikoaguliert sind und ein ACS erleiden. In solchen Fällen wird nun empfohlen, in Abhängigkeit von den individuellen Risiken für eine bestimmte Zeit die DAPT zusätzlich zur Antikoagulation zu geben und danach auf eine Kombination aus Antikoagulation und einem Antiplättchenmedikament umzustellen. In dieser Indikation sind die neueren P2Y12 nicht empfohlen, sodass die Wahl zwischen ASS und Clopidogrel bleibt. Die neue Leitlinie geht auch auf die Sekundärprävention nach einem ACS ein. Betont werden die Rollen von Lebensstilmassnahmen sowie einer langfristigen, intensiven Statintherapie. Erstmals wird auch auf Patienten eingegangen, die trotz maximaler noch verträglicher Statinbehandlung den bei hohem Risiko gültigen LDL-Zielwert von 1,8 mmol/l nicht erreichen. Auf Basis der IMPROVE-IT Studie (4) wird diesen Patienten die Einnahme von Ezetimib empfohlen.
Reno Barth
Referenzen: 1. Valgimigli M et al.: MATRIX Investigators. Radial versus femoral access in patients with acute coronary syndromes undergoing invasive management: a randomised multicentre trial. Lancet. 2015 Jun 20; 385 (9986): 2465–2476. 2. Navarese EP et al.: Optimal duration of dual antiplatelet therapy after percutaneous coronary intervention with drug eluting stents: metaanalysis of randomised controlled trials. BMJ. 2015 Apr 16;350: h1618. 3. Montalescot G et al.: Pretreatment with prasugrel in non-ST-segment elevation acute coronary syndromes. N Engl J Med. 2013; 369 (11): 999–1010. 4. Cannon CP et al.: Ezetimibe Added to Statin Therapy after Acute Coronary Syndromes. N Engl J Med. 2015; 372 (25): 2387–2397.
Quelle: Sitzung «ESC Guidelines Overview» und Pressekonferenz am ESC-Jahreskongress, 29. August bis 2. September 2015 in London.
Kardiologie • Dezember 2015 15