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Möglichkeiten und Grenzen der personalisierten Medizin
Vieles wird möglich, doch nicht alles ist sinnvoll
Die personalisierte Medizin anhand von Genomanalysen eröffnet der Medizin einerseits neue Perspekti-
sen sich genomische und epigenomische Untersuchungen direkt am Tumorgewebe vornehmen, Subtypisierungen des Tumors aufgrund molekularer Merkmale werden so
ven in Prädiktion, Diagnostik und möglich. Auf dieser Basis entsteht grund-
Therapie. Andererseits birgt sie die Gefahr, unter falschen Versprechungen von Geschäftemachern miss-
sätzlich die Möglichkeit, spezifischere Medikamente einzusetzen und unnötige und potenziell schädliche Behandlungen zu vermeiden.
braucht zu werden. Die Interpreta- Als weiteres Beispiel für eine sinnvolle per-
tion genetischer Daten sei Sache von Ärzten und sollte nicht anderen überlassen werden, mahnte Prof. Andreas Papassotiropoulos, Abtei-
sonalisierte Medizin nannte Papassotiropoulos die genombasierte Krankheitsprädiktion. Diese sei allerdings nur bei den seltenen monogenen Erkrankungen, etwa der Huntington-Chorea, möglich. Die Güte
lung Molekulare Neurowissenschaft einer prädiktiven Aussage beruht nämlich
an der Universität Basel.
auf der Effektstärke des Prädiktors. Bei monogenen Erkrankungen ist die Effektstärke
der Genvariante sehr hoch. «Hier lässt sich
Nimmt man die Zahl der einschlägigen eindeutig sagen, ob ich Träger bin oder Publikationen zum Massstab, hat die nicht, ob ich erkranken werde oder nicht.» personalisierte Medizin seit mehr als Völlig anders ist die Situation bei den häu-
einem Jahrzehnt Hochkonjunktur. Was sie figen Erkrankungen, wie etwa rheumatoide
in Aussicht stellt, ist die Optimierung der Arthritis, Schizophrenie, Herzinfarkt oder
medizinischen Versorgung für jedes einzelne Diabetes, die alle genetisch komplex sind.
Individuum – von der Prophylaxe bis zur Genomanalysen könnten zum besseren
Therapie. Die personalisierte Medizin ba- Verständnis der Pathophysiologie dieser
siert vor allem auf der Integration einer Krankheiten einen wichtigen Beitrag leis-
Vielzahl von molekulargenetischen, epide- ten, sagte Papassotiropoulos. Hingegen sei
miologischen und klinischen Daten. Prakti- eine individuelle prädiktive Aussage bei
sche Bedeutung hat sie bereits heute bei- polygenen Erkrankungen (und Merkmalen)
spielsweise in bestimmten diagnostischen nicht möglich. Umweltfaktoren spielen bei
und therapeutischen Fragestellungen der der Krankheitsentwicklung eine grosse
Onkologie. Anhand von Tumorbiopsien las- Rolle, zudem interagieren die krankheits-
assoziierten Genvarianten miteinander, was eine zuverlässige Berechnung verunmöglicht. Bei diesen Erkrankungen seien eine einfache Familienanamnese und die Erhebung von Risikofaktoren viel aussagefähiger als eine Ganzgenomanalyse, betonte Papassotiropoulos. Die personalisierte Medizin hat also ihre Grenzen, sie wirft zudem ethische Probleme auf. Der Referent nannte das Problem akzidenteller Befunde in Genomanalysen, die unter dem Thema Recht auf Nichtwissen – und auf Wissen – diskutiert werden. Papassotiropoulos warnte zudem vor kommerziellen Anbietern von diagnostischen DNA-Tests, wie etwa der Firma 23andme, die mit dem Versprechen lockten, aus einer simplen Speichelprobe mittels Ganzgenomanalyse das individuelle Risiko nicht nur für monogene Krankheiten, sondern auch für eine Vielzahl von polygenen Erkrankungen bestimmen oder Aussagen zu Merkmalen wie Intelligenz treffen zu können («Find out what your DNA says about you and your family»). Die Getesteten seien anschliessend mit «völlig irreführenden» Ergebnissen konfrontiert, beispielsweise mit Alarmsignalen für ein erhöhtes Krebsrisiko, obwohl das ermittelte individuelle Risiko gerade einmal im Promillebereich vom allgemeinen Erkrankungsrisiko für den Tumor abweiche und für den Betreffenden völlig irrelevant sei. Als ebenso unsinnig bezeichnete Papassotiropoulos sämtliche auf dem Markt befindlichen Lifestyle-Gentests, auf deren Grundlage beispielsweise individualisierte Diäten zur Gewichtsreduktion angeboten werden.
Uwe Beise
Quelle: Workshop «Personalisierte Medizin» beim Rheuma Top 2015, 21. August 2015 in Pfäffikon.
10 Rheumatologie • November 2015