Transkript
CongressSelection
Wenn der Schlag den Geist trifft
Kognitive Funktion nach Schlaganfall bisher wenig beachtet
Nach einem Schlaganfall sind häufig kognitive Verluste bis hin zur Demenz zu beobachten. Der Schlaganfall kann sowohl den Beginn einer vaskulären Demenz begünstigen als auch eine vorbestehende kognitive Einschränkung verschlechtern. Dennoch wurde der kognitiven Funktion in den Schlaganfallstudien bis anhin wenig Beachtung geschenkt.
Weltweit 15 Millionen Schlaganfälle pro Jahr, mit fünf Millionen Toten und zehn Millionen Überlebenden, von denen wieder 5 Millionen eine Behinderung behalten, so bezifferte Prof. Didier Leys vom Universitätsklinikum Lille, Frankreich, die Dimension des Schlaganfalls und seiner Folgen. Wenig beachtet wurde in der Vergangenheit, dass Schlaganfall und kognitive Beeinträchtigung oft beim selben Patienten vorkommen. Die kognitive Beeinträchtigung ist definiert als ein Verlust der kognitiven Funktionen mit oder ohne Auswirkungen auf die Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL). Bei unabhängigen Überlebenden seien kognitive Funktionsstörungen häufiger als Demenz, wobei viele Patienten schon vor dem Schlaganfall kognitiv beeinträchtigt gewesen seien. Demenz liegt vor – nach strenger Kriterienstellung – bei Patienten mit kognitiven Störungen und Auswirkungen auf die ADL. Vaskuläre Demenz (VAD) stelle ein Demenzsyndrom dar – wahrscheinlich die Folge von Schlaganfallläsionen. PostSchlaganfall-Demenz (poststroke dementia, PSD) umfasst alle Arten von Demenz, die nach einem Schlaganfall auftreten, und stellt die häufigste Ursache für Pflegebedürftigkeit nach einem Schlaganfall dar, mit steigender Inzidenz. Jedoch wird oft auch von Post-Schlaganfall-Demenz gesprochen, obwohl die Demenz schon vor dem Schlaganfall bestand. Studien hätten folgende Determinanten der PSD ergeben: zum einen vaskuläre Risikofaktoren (Bluthochdruck, Diabetes mellitus, Vorhofflimmern, Myokardinfarkt), zum anderen hypoxisch-ischämische Störungen (Epilepsie, Sepsis, Arrhythmien, kongestive Herzinsuffizienz). Als Risikofaktoren hätten sich auch das zunehmende Alter und ein geringer Bildungsgrad herausgestellt (1). Auch die «silent brain lesions», die stummen Hirnläsionen (stumme Infarkte, Mikroblutungen, Leukoaraiose und Atrophie), seien für die Demenz und kognitive Funktionsverluste verantwortlich, wobei die subklinischen Infarkte als PSD-Prädiktor oft gar nicht stumm seien. Die Leukoaraiose habe drei Ursachen: Arteriosklerose, gene-
Expertentipp:
Ein nutzvolles Instrument für Patienten, die mehr über ihr genetisches Risikoprofil für verschiedene Krankheiten erfahren möchten, ist das Tool «My Family Health Portrait» des NIH, wie Prof. Martin Dichgans berichtete. Es ist im Internet unter folgender Adresse zu finden: https://familyhistory.hhs. gov/FHH/html/index.html
tische Veranlagung und Krankheiten der grossen Gefässe (intrakranielles Atherom, Amyloidangiopathien).
Risiko variiert – je nach untersuchter Population Die Prävalenz der PSD, so Leys, ist abhängig von den Auswahlkriterien der Kohorten, dem Setting und der Verzögerung der kognitiven Einschätzung nach einem Schlaganfall. Die gepoolte Prävalenz der PSD ein Jahr nach einem Schlaganfall reicht von 7,4 Prozent in populationsbasierten Studien, durchgeführt bei allerersten Schlaganfällen unter Ausschluss von Patienten mit vorbestehender Demenz, bis zu 41,3 Prozent in krankenhausbasierten Studien, einschliesslich wiederkehrender Schlaganfälle inklusive Patienten mit bereits bestehender Demenz. In allen Fallkontrollstudien sei die Prävalenz von Demenz bei Überlebenden von Schlaganfällen höher als in der Kontrollgruppe. Einige Patienten waren bereits vor dem Schlaganfall dement, davon 14,4 Prozent in krankenhausbasierten Studien und 9,1 Prozent in populationsbasierten Studien. Die kognitive Beeinträchtigung ist nach einem Schlaganfall häufig, so das Fazit Leys. Die Prävalenz von kognitiven Beeinträchtigungen variiert je nach verwendeter Definition. Wegen ihrer enormen Bedeutung sollte die Pflegebedürftigkeit nach einem Schlaganfall als sekundärer Endpunkt in Schlaganfallstudien aufgenommen werden, resümierte Leys. Die jüngsten Fortschritte in der Bildaufnahme und der Bildnachbearbeitung machten es möglich, die strukturelle Basis der kognitiven Abnahme nach Schlaganfall darzustellen, berichtete Prof. Dr. Martin Dichgans. Universitätsklinikum München. In Voxel-basierten Läsions-Symptom-Mapping-Ansätzen wurde die zentrale Rolle der frontal-subkortikalen Schaltungen deutlich. Eine wichtige Ursache für kognitiven Verfall ist der Verlust der kortikalen grauen Substanz. Subkortikale Infarkte lösen einen sekundären grauen Substanzverlust im Kortex über eine Degeneration der Verbindungsbahnen aus. Solche Läsionen der weissen Substanz seien häufig und klinisch relevant. Sie erhöhen das Risiko für Demenz etwa um den Faktor zwei (2).
Genetische Faktoren der Demenz Der Erfolg von unvoreingenommenen, ohne Bias durchgeführten Ansätzen bei der Identifizierung von neuen Mechanismen wird auch durch den Erfolg der genomweiten Assoziationsstudien (GWAS) veranschaulicht. Diese Studien
14 Neurologie • Oktober 2015
CongressSelection
zeigten, dass gemeinsame genetische Varianten auf mehreren Loci Auswirkungen auf das Schlaganfallrisiko und kognitive Fähigkeiten haben (z.B. Notch-3-Mutationen, CADASIL, CARASIL, Amyloidangiopathie). Sie zeigten weiter, dass mehrere der Gene mit erblichen Formen des Schlaganfalls in Verbindung gebracht werden können, die auch zum sporadischen Krankheitsfall beitragen können. Genetisches, molekulares Fingerprinting ermöglicht daher eine Risikovorhersage und in Zukunft möglicherweise massgeschneiderte Therapien (3, 4). Noch besser als die Therapie wäre allerdings, dem kognitiven Abbau vorzubeugen. Nach Ausführungen von Univ.-Prof. Dr. Dr. Michael Brainin, Donau-Universität Krems, zeigten zwar randomisierte Studien zum Beispiel mit Levodopa oder SSRI eine erfolgreiche Verbesserung der motorischen Wiederherstellung (5, 6), jedoch existiert noch keine bewährte Behandlung für die Erhaltung oder die Wiederherstellung des kognitiven Status nach Schlaganfall. Angesichts der Häufigkeit eines kognitiven Verfalls nach Schlaganfällen sei es überraschend, dass grosse Studien bis anhin noch nicht durchgeführt worden seien. Bisher getestete einzelne oder kombinierte medikamentöse Interventionen basierten auf Sekundäranalysen und schlossen blutdrucksenkende Medikamente ein, die nur eine geringe Wirkung auf die kognitiven Fähigkeiten zeigten. Keine einheitliche Wirkung konnte für lipidsenkende Medikamente gezeigt werden. Eine Kombination von Clopidogrel und ASS wurde in der SPS3-Studie getestet, zeigte aber keine Wirkung auf die kognitiven Leistungen (7). Lifestyle-Interventionen umfassten Untersuchungen zur Mittelmeerdiät mit extra nativem Olivenöl und Nüssen, aber während das Auftreten von Schlaganfällen reduziert werden konnte, lagen keine Daten zu kognitiven Leistungen vor (8). Das Gleiche gilt für die körperlichen Übungsprogramme, die eine gute Wirkung auf die körperliche Fitness zeigten. Laufende Schlaganfallstudien mit Medikamenten und/oder Lebensstilinterventionen seien alle mit zu kleinen Fallzahlen geplant worden und/oder mit einer komplexen Kombination von Endpunkten oder Endpunkten, bei denen es nicht wahrscheinlich sei, praxisrelevante Ergebnisse zu erzielen. Die erste umfassende, von Brainin geleitete MultidomainInterventionsstudie (ASPIS: Austrian multicenter Study for the Prevention of cognitive decline following Ischemic Stroke) wurde vor Kurzem beendet. In dieser randomisierten, kontrollierten Studie wurde geprüft, ob eine multifaktorielle, intensive, polypharmakologische Therapie mit Lebensstiländerungen das Risiko eines kognitiven Abbaus nach einem Schlaganfall reduzieren kann. Der primäre Endpunkt war eine Veränderung des Z-Scores von fünf neuropsychologisch
Take Home Messages
• Schlaganfälle und kognitiver Funktionsverlust sind häufig miteinander assoziiert.
• Schlaganfälle haben eine Auswirkung auf den Verlauf einer Alzheimer-Erkrankung, im Sinne eines additiven Effekts von vaskulärer und AlzheimerDemenz.
• Ein nutzvolles Instrument für Patienten zur persönlichen Risikoabschätzung anhand ihrer Familienanamnese ist das «My Family Health Portrait» des NIH.
untersuchten kognitiven Faktoren. Während das Gesamtergebnis neutral ausfiel, zeigte sich ein Signal zur Änderung der dysexekutiven Funktion. Als Studienergebnis konnte nach 24 Monaten intensiver, multifaktorieller Intervention keine Veränderung der kognitiven Fähigkeiten nach Schlaganfall im Vergleich zu Standardbehandlungen gezeigt werden. In Zukunft sollten auch kognitive Zielparameter in allen Hirnstudien eingeschlossen sowie grössere Fallzahlen evaluiert werden; alles in allem sei es wichtig, für die Intervention Konstellationen zu schaffen, die signifikante Gruppenunterschiede herauskristallisierten, so das Resümee von Brainin (9).
Eva-Maria Koch
Referenzen: 1. Leys D et al.: Poststroke dementia. Lancet Neurol 2005; 4(11): 752–759. 2. Debette S et al.: The clinical importance of white matter hyperintensities on brain magnetic resonance imaging: systematic review and meta-analysis. BMJ 2010; 341:c3666 3. Malik R et al.: Multilocus genetic risk score associates with ischemic stroke in case-control and prospective cohort studies Stroke 2014; 45(2): 394–402. 4. Lindgren A: Stroke Genetics: A Review and Update. J Stroke 2014 Sep; 16(3): 114–123. 5. Scheidtmann K et al.: Effect of levodopa in combination with physiotherapy on functional motor recovery after stroke: a prospective, randomized, controlled study. Lancet 2001; 358: 787–790. 6. Chollet F et al.: Fluoxetine for motor recovery after acute ischaemic stroke (FLAME): a randomised placebo-controlled trial. Lancet Neurol 2011; 10: 123–130. 7. The SPS3 Investigators: Effects of Clopidogrel Added to Aspirin in Patients with Recent Lacunar Stroke. N Engl J Med 2012; 367: 817–825. 8. Estruch et al.: Primary prevention of cardiovascular disease with a Mediterranean diet. N Engl J Med 2013; 368(14): 1279–1290. 9. Brainin M et al.: Post-stroke cognitive decline: an update and perspectives for clinical research. Eur J Neurol 2015; 22(2): 229–238.
Quelle: Workshop 3 «Cognitive deterioration after stroke» am EAN-Kongress, 20. Juni 2015 in Berlin.
Neurologie • Oktober 2015 15