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Der Geriatrie fehlt oft der neurologische Blick
Warum die Neurologie als Teilaspekt der Geriatrie etabliert werden sollte
Neurologische Erkrankungen sind häufig Erkrankungen des höheren Lebensalters. Daher müssen geriatrische Fragestellungen oft unter neurologischer Perspektive gesehen werden – und umgekehrt. Institutionell wird diesem Bedarf bis heute jedoch wenig entsprochen.
I nzidenz und Prävalenz von Demenz, Morbus Parkinson und Schlaganfall nehmen ab dem 60. Lebensjahr deutlich zu. Jenseits der 80 handelt es sich dabei um insgesamt häufige Erkrankungen. Auch bei Notaufnahmen von Patienten jenseits der 75 spielen neurologische Ursachen wie motorische oder kognitive Einschränkungen oder Delirium eine erhebliche Rolle, wie Prof. Dr. Walter Mätzler von der neurologischen Universitätsklinik Tübingen betont: «Neurologische Kenntnisse sind daher für die adäquate Beurteilung und Behandlung alter Patienten unverzichtbar.» In den vergangenen
ICF: Interaktion der Gesundheitskomponenten
Gesundheitsproblem (Gesundheitsstörung oder Krankheit)
Körperfunktionen und -strukturen
Aktivitäten
Partizipation (Teilhabe)
Umweltfaktoren
personenbezogene Faktoren
Die Abbildung zeigt das der ICF zugrunde liegende Verständnis der Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Komponenten (Quelle: WHO)
Jahren wurde verstärkt versucht, die Geriatrie als eigene Fachrichtung für eben diese Patienten zu etablieren. Allerdings gibt es bereits bei den Definitionen des Fachs keine international einheitliche Linie. Während die britische Geriatric Society einer krankheitsbezogenen Definition folgt, die explizit eine Reihe medizinischer Probleme des Alters wie zum Beispiel Stürze, Inkontinenz oder Demenz nennt, bezieht die deutsche Geriatrische Gesellschaft ihre Selbstdefinition auf den Alterungsprozess und die Funktionalität des Individuums. Wünschenswert sei dazu, so Mätzler, beispielsweise eine genauere Definition des Begriffs Alterungsprozess. Auch sollten unter anderem Interdisziplinarität und der Präventionsgedanke Eingang in die Definition der Geriatrie finden. Gemäss der Definition der WHO (1) wird der Gesundheitszustand eines Menschen einerseits durch persönliche, andererseits durch Umweltfaktoren bedingt, die sowohl den Körper als auch die Aktivitäten und die Teilhabe an der Gesellschaft beeinflussen (siehe Abbildung). Negativ formuliert bedeutet
das, eine körperliche Beeinträchtigung steht in Verbindung mit reduzierter Aktivität und eingeschränkter sozialer Partizipation. Das alles zusammen macht schliesslich die Krankheit aus. Mätzler: «Ein Patient nach Schlaganfall hat vielleicht Probleme, das Haus zu verlassen, und das reduziert seine Möglichkeiten, am sozialen Leben teilzunehmen.» Leider wird in Studien meist auf die körperlichen Funktionen und Beeinträchtigungen fokussiert, während Aktivitäten und soziale Aspekte viel weniger Berücksichtigung finden, obwohl sie erheblichen Einfluss auf die Lebensqualität haben. Neurogeriatrie und Geriatrie setzen hier insofern anders an als die übrigen Fächer, da sie den Einfluss der Umwelt auf das Individuum stärker berücksichtigen.
Interdisziplinäres Denken und Forschen ist gefragt Wie wichtig interdisziplinäre Zusammenarbeit im Umgang mit alten Patienten ist, erläutert Mätzler am Beispiel der Sarkopenie. Diese hat einerseits Ursachen, die in unterschiedliche Fachgebiete (unter anderem die Neurologie) fallen, wirkt sich aber auch auf verschiedenste Organe und Funktionen aus. So sind mögliche Folgen ein Verlust an Knochenmineraldichte, eine verstärkte systemische Inflammation und eine Zunahme der Insulinresistenz (2), während auf der Seite der Ursachen Defizite im zweiten Motoneuron oder Defekte der neuromuskulären Endplatte ebenso eine Rolle spielen wie Inflammation im Hypothalamus oder Schädigungen der Muskelfasern. Für das Verständnis derartiger Phänomene sei eine interdisziplinäre Forschung auf höchstem Niveau unverzichtbar. Mätzler: «Neurogeriatrie könnte das Fach für die Diagnose, die Behandlung und die Erforschung geriatrischer Symptome mit neurologischen Aspekten sein.» Nicht zuletzt wird im Zusammenhang mit neuro-geriatrischen Fragestellungen der Aspekt der Prävention immer wichtiger. Auch hier ist die Forschung eine Voraussetzung des ärztlichen Handelns. «Präventionskonzepte gehen heute schon weit über allgemeine Ratschläge wie gesund essen und eine halbe Stunde täglich die Beine bewegen hinaus. Sie werden immer besser individualisiert und orientieren sich zunehmend an molekularen Zielen», sagt Mätzler. Was alles möglich sein könnte, zeigen Versuche im Tiermodell. So ist es beispielsweise gelungen, in einem Mausmodell vorzeitigen Alterns eine Dysfunktion der Mitochondrien durch Ausdauertraining komplett zu kompensieren (3). Mätzler: «Die trainierten Tiere waren von gesunden Wildtypmäusen nicht zu unterscheiden. Ausdauertraining führt also zu Veränderungen auf struktureller, funktioneller und mole-
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kularer Ebene, und es wäre sehr interessant zu untersuchen, wie sich das auf den Menschen übertragen lässt.» In einem Mausmodell der spinozerebellären Ataxie Typ 1 konnte durch Ausdauertraining eine Lebensverlängerung erreicht werden (4). Mätzler schlägt daher eine Definition der Neurogeriatrie vor, die sich vorwiegend an der Funktion des alternden Individuums orientiert und die systemischen Ursachen und Auswirkungen der Dysfunktion einbezieht. Das Ziel bestehe letztlich darin, «Mobilität, Aktivität und Partizipation der alternden Bevölkerung zu erhalten». Leider werde das in der gegenwärtigen europäischen Praxis kaum umgesetzt. So gehört Neurologie in vielen europäischen Ländern nicht zum Curriculum angehender Geriater; dort wo ein Training in Neurologie verlangt wird, ist es kurz. Nur in wenigen Ländern werden Neurologen für die Ausbildung zum Geriater akzeptiert. In der Schweiz ist die Geriatrie den Internisten mit zusätzlicher Ausbildung vorbehalten. Mätzler weist auch auf das deutsche Forschungskolleg Geriatrie hin, das von der Robert-Bosch-Stif-
tung finanziert wird und Mittel für Forschung und Lehre, darüber hinaus aber auch für die postgraduelle Ausbildung von Ärzten (darunter auch Neurologen) zur Verfügung stellt.
Reno Barth
Referenzen: 1. International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF): http://www.who.int/classifications/icf/en/ 2. Wenz T et al.: Increased muscle PGC-1alpha expression protects from sarcopenia and metabolic disease during aging. Proc Natl Acad Sci USA 2009; 106(48): 20405–20410. 3. Safdar A et al.: Endurance exercise rescues progeroid aging and induces systemic mitochondrial rejuvenation in mtDNA mutator mice. Proc Natl Acad Sci USA 2011; 108(10): 4135–4140. 4. Fryer JD et al.: Exercise and genetic rescue of SCA1 via the transcriptional repressor Capicua. Science 2011; 334(6056): 690–693.
Quelle: Symposium 5 «Expanding fields» am EAN-Kongress, 22. Juni 2015 in Berlin.
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