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Auch Gehirngefässe werden älter
Wandel im Spektrum der spontanen intrazerebralen Hämorrhagien
Neben den ischämischen Schlaganfällen gibt es auch die hämorrhagischen Formen. Aufgrund der Veränderungen in der Altersstruktur sowie der Zunahme von antithrombotischen Therapien verändert sich das klinische Spektrum der intrazerebralen Hämorrhagien. Neue pathophysiologische Erkenntnisse haben zudem zu einer neuen Klassifikation geführt.
M it einer jährlichen Inzidenz von 10 bis 30 auf 100 000 Einwohner stelle die intrazerebrale Hämorrhagie (ICH) eines der grossen Probleme der öffentlichen Gesundheit dar, betonte Prof. Valeria Caso aus Perugia, Italien, President-Elect der European Stroke Organisation (ESO). In absoluten Zahlen sind das weltweit 2 Millionen ICH (10–15%) von 15 Millionen Schlaganfällen jährlich (1). Die spontane intrazerebrale Blutung resultiert aus einer spontanen Ruptur eines Blutgefässes im Gehirn. Sie ist mit einer höheren Sterblichkeit verbunden als ein ischämischer Schlaganfall oder eine Subarachnoidalblutung, mit steigender Inzidenz in einer alternden Bevölkerung. Die Mortalität liegt bei 31 Prozent nach sieben Tagen, bei 59 Prozent nach einem Jahr und bei 82 Prozent nach zehn Jahren (2). In einer aktuellen Metaanalyse lag die Gesamtinzidenz bei 24,6/100 000/Jahr und war bei Frauen nicht signifikant geringer als bei Männern (0,85, 95%-KI: 0,61–1,18) (3). Tendenziell ist bei den unter 60-Jährigen eine Abnahme der Inzidenz zu verzeichnen, gleichzeitig aber auch eine Zunahme bei den über 75-Jährigen. Das ist laut Caso unter anderem auf die Zunahme der Antithrombosemedikation in einer alternden Bevölkerung zurückzuführen. Die ICH ist weiterhin verantwortlich für eine hohe Prozentzahl an Behinderung und Tod, so Caso (4). Das Risiko eines erneuten ICH-Auftretens liegt bei 2 bis 4 Prozent pro Patientenjahr, wobei es bei lobärer ICH häufiger zu weiteren Blutungen kommt als bei subkortikaler ICH. Die Weiterentwicklung der bildgebenden Untersuchungsverfahren des Gehirns hat zu neuen Erkenntnissen bezüglich der Pathophysiologie der intrazerebralen Blutung geführt, sodass der frühere Begriff «primär intrazerebrale Blutung» mittlerweile als veraltet gilt. Die SMASH-U-Klassifikation berücksichtigt die folgenden vordefinierten Kriterien: strukturelle Gefässläsionen (Kavernome, AVM), Medikamente (Antikoagulanzien), Amyloidangiopathie, systemische Erkrankung (Leberzirrhose, Thrombozytopenie), Hypertonie oder unbestimmt (5). Diese Klassifikation hat sich als praktikabel erwiesen und ist auch mit der Überlebensprognose assoziiert. Es hat sich herausgestellt, dass Patienten mit strukturellen Läsionen dazu neigen, die kleinsten Blutungen und die beste Prognose zu haben, während die mit Antikoagulanzien Behandelten und mit systemischer Grunderkrankung zur schlechtesten Prognose tendieren. Die tiefe perforierende Vaskulopathie und die zerebrale Amyloidangiopathie (CAA) seien die beiden häufigsten Ursachen der ICH, resümierte Caso, wobei die Pathogenese akuratere
Informationen zu prädiktiven Faktoren liefere, die das klinische Ergebnis und die Sterblichkeit beeinflussten.
Mikroblutungen als Biomarker für den Schweregrad Wie Prof. Charlotte Cordonnier, Universitätsklinikum Lille, Frankreich, berichtete, hat sich mit der veränderten Epidemiologie auch das klinische Szenario der ICH in den letzten Jahrzehnten verändert. Die Zunahme der ICH bei Menschen älter als 75 Jahre ist mit einem grösseren Anteil an lobären ICH verbunden. Das deutet darauf hin, dass Vaskulopathien vermehrt mit älteren zerebralen Amyloidangiopathien assoziiert sind und somit einen zunehmenden Anteil innerhalb der ätiologischen Verteilung von ICH einnehmen. Mikroblutungen im Gehirn (cerebral microbleeds: CMB) sowie die superfizielle Siderose sind interessante Biomarker sowohl im Hinblick auf die Diagnose als auch auf die Prognose. Diagnostische Parameter in der Bildgebung sind ein kleiner schwarzer Punkt im GRE-MRT (Gradientenecho-Magnetresonanztomografie), rund oder oval, zumindest zur Hälfte von Hirnparenchym umgeben und kleiner als 10 mm (6). Ursachen seien Bluthochdruck, Hirnalterung, Schlaganfälle, CAA, Morbus Alzheimer und andere Demenzen. Neue CMB treten in 48 Prozent aller ICH-Fälle innerhalb von 3 bis 4 Jahren auf. Die Frage, ob Patienten unter thrombolytischer Therapie eher CMB entwickeln, wird kontrovers beurteilt. Diskutiert wird auch, ob CMB Surrogatmarker für klinische Studien sein könnten, so Cordonnier. CMBs stellten
Tabelle:
Prädiktoren der 3-Monats-Mortalität in Abhängigkeit von der SMASH-U-Klassifikation
SMASH-U Strukturelle Gefässläsion Medikamentöse Antikoagulation Amyloidangiopathie Systemische Erkrankung Hypertonie Unbestimmt Gesamt
3-Monats-Mortalität 4%
54% 22% 44% 33% 30% 32%
Insgesamt lag die 3-Monats-Mortalitat nach ICH bei 32%. Bei Patienten mit medikamentenassoziierter ICH erhöhte sie sich auf 54%. Quelle: Meretoja et al. (5).
Neurologie • Oktober 2015 17
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Take Home Messages
• Das Altersspektrum bei intrazerebralen Hämorrhagien verändert sich: Sie nehmen bei unter 60-Jährigen ab und bei über 75-Jährigen zu.
• Die SMASH-U-Klassifikation hat sich als praktikabel erwiesen und ist mit der Überlebensprognose assoziiert.
• Je mehr vom Gerinnsel in der minimalinvasiven Chirurgie (MIS) entfernt wurde, desto besser das Ergebnis.
Biomarker für den Schweregrad der vorhandenen Gefässerkrankung und zukünftige Gefässkrankheiten dar (nicht nur ICH).
Minimalinvasive Chirurgie verbessert Prognose Zu einer Verbesserung der Prognose könnten neue chirurgische Techniken beitragen, betonte Prof. Daniel Hanley, von der Johns-Hopkins-Universität, Baltimore, USA. Dazu zählten Verfahren, mit denen intraventrikuläres Blut entfernt und der Hirndruck normalisiert werde. Bei der ICH sei es wesentlich, das Koagulat operativ und gewebesparend zu entfernen. Die Platzierung des Katheters sei entscheidend, am besten solle er von viel Blut umgeben sein. Als Ergebnis der von ihm durchgeführten und präsentierten MISTIE-II-Studie konnte er zeigen, dass eine minimalinvasive
chirurgische Behandlung (MIS) die Sterblichkeit senkt, die Unabhängigkeit der Patienten erhöht, die Funktionen verbessert und die Kosten senkt. Fazit der MISTIE-II-Studie: Je mehr vom Gerinnsel entfernt wurde, desto besser das Ergebnis. Die Studiendaten sind vielversprechend in Hinsicht auf eine reduzierte Mortalität und erhöhte Überlebensqualität.
Eva-Maria Koch
Referenzen: 1. Qureshi Al et al.: Intracerebral haemorrhage. Lancet Neurology 2009; 373(9675): 1632–1644. 2. Flaherty ML et al.: Long-term mortality after intracerebral hemorrhage. Neurology 2006; 66(8): 1182–1186. 3. van Asch CJ et al.: Incidence, case fatality, and functional outcome of intracerebral haemorrhage over time, according to age, sex, and ethnic origin: a systematic review and meta-analysis. Lancet Neurol 2010; 9(2): 167–176. 4. Caso V et al.: Effect of On-Admission Antiplatelet Treatment on Patients with Cerebral Hemorrhage. Cerebrovasc Dis 2007; 24: 215–218. 5. Meretoja A et al.: SMASH-U. A Proposal for Etiologic Classification of Intracerebral Hemorrhage. Stroke 2012; 43: 2592–2597. 6. Greenberg SM et al.: Cerebral Microbleeds: A Field Guide to their Detection and Interpretation Lancet Neurol 2009; 8(2): 165–174.
Quelle: Symposium 1 «Spontaneous intracerebral haemorrhage» am EAN-Kongress, 20. Juni 2015 in Berlin.
18 Neurologie • Oktober 2015