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Bei Urtikaria immer nach Dermografismus suchen
Neue europäische Konsensempfehlungen
Bei urtikariellen Quaddeln geben die Dauer der Symptome und die Begleitumstände ihres Auftretens wichtige diagnostische Hinweise. Bei akuter Urtikaria ist keine Abklärung notwendig, und auch bei chronischer Urtikaria soll sich das Labor auf wenige Messwerte beschränken, erläuterte Prof. Peter Schmid-Grendelmeier, Dermatologische Klinik, Universitätsspital Zürich.
F ür die Einteilung der urtikariellen Störungen ist die Dauer entscheidend. Von einer akuten Urtikaria spricht man, wenn die Hauterscheinungen weniger als 6 Wochen andauern; meist hält die Symptomatik aber nur für 1 bis 2 Tage an. Bei wiederholten Schüben liegt eine akut rezidivierende Urtikaria vor. Bei chronischer Urtikaria (> 6 Wochen)
wird zwischen chronisch rezidivierenden Formen mit freien Intervallen von Tagen bis Wochen und chronisch kontinuierlicher Urtikaria unterschieden.
Akute Urtikaria
Die akute Urtikaria ist sehr häufig. 60 Pro-
zent der Patienten vermuten als Auslöser
die Nahrung. Bei einmaliger akuter Urtikaria
ist kaum je ein allergisches Geschehen ur-
sächlich, entsprechend lässt sich in weniger
Peter Schmid-Grendelmeier
als 1 Prozent eine Vermittlung durch Immunglobulin E (IgE) nachweisen. Eine einzelne Episode bedarf keinerlei Abklärung.
Bei akut rezidivierender Urtikaria gibt die Anamnese Hinweise
auf Allergien oder eine Auslösung durch Medikamente, eine
allergologische Abklärung ist nur ausnahmsweise sinnvoll.
Medikamentöse Therapie bei chronischer Urtikaria
Antihistaminika (H1-Blocker) der 2. oder 3. Generation (deutlich weniger sedierend), in einfacher, doppelter oder mehrfacher Dosierung, 3 bis 6 Monate lang: • Bilastidin (Bilaxten®) • Cetirizin (Zyrtec® oder Generika) • Desloratadin (Aerius®) • Levocetirizin (Zyxal®) • Loratadin (Claritine®) Alternativen, zusätzlich, 1 bis 2 Monate lang: • Leukotrienantagonisten • H2-Blocker Immunmodulatoren bei ungenügendem Ansprechen: • Ciclosporin (Sandimmun®) • Dapson (z.Zt. nicht in CH) • Omalizumab (Xolair®) • systemische Steroide • intravenöse Immunglobuline
Die Therapie ist symptomatisch mit Antihistaminika per os. Diese sollen über 3 bis 5 Tage eingenommen werden, um Reboundphänomene zu umgehen. Unterstützend können orale Steroide wirken (ca. 1 mg/kg Körpergewicht für 2–3 Tage, dann reduzieren). Bei rezidivierenden akuten Urtikariaschüben kann den Patienten ein Notfallset (z.B. 2 Tbl. Prednison plus 2 Tbl. Zyrtec®) mitgegeben werden.
Chronische Urtikaria Die neuen europäischen Konsensempfehlungen geben Hinweise zum diagnostischen und therapeutischen Vorgehen (1). Bei chronischer Urtikaria ist zunächst ein entzündliches Geschehen (erworbene oder hereditäre Autoimmunerkrankung) oder eine Vaskulitis (Hautbiopsie) auszuschliessen. Lassen sich auslösende Faktoren eruieren, handelt es sich um eine chronische induzierbare Urtikaria, sonst lautet die Diagnose chronische spontane Urtikaria. Bei Autoimmunleiden oder urtikarieller Vaskulitis spielt Interleukin 1 eine pathogenetische Rolle, bei chronischer Urtikaria sind es Histamin und andere Mastzellmediatoren, bei Angioödemen (hereditär oder durch ACE-Hemmer induziert) steht Bradykinin im Vordergrund. Bei chronischer Urtikaria sei das Labor nur zurückhaltend einzusetzen, forderte Schmid-Grendelmeier. Sinnvoll sind Blutsenkungsreaktion oder Bestimmung von C-reaktivem Protein (CRP) und ein differenziertes Blutbild. «Immer soll aber auf Dermografismus oder Druckkomponenten bei der Auslösung von Quaddeln untersucht werden», forderte der Dermatologe. Die Hautsymptome, ausgelöst durch Fingernagel, Kugelschreiber oder ähnliche harte Gegenstände, treten meist rasch auf, können sich aber auch erst nach einigen Minuten zeigen, weshalb man immer im Verlauf der Untersuchung nochmals nachkontrollieren soll. Zur Abklärung gehört auch die Frage nach Auslösung durch physikalische (Kälte, Wärme, Druck, Sonneneinstrahlung, Vibration) oder andere Faktoren (Wasser, scharfe Speisen, Anstrengung). Die häufigste physikalische Urtikariaform ist der urtikarielle Dermografismus (U. facticia). Die durch Scherkraft in der Haut entstehende Quaddel geht mit Juckreiz einher. Die Urticaria facticia betrifft am häufigsten junge Erwachsene und dauert durchschnittlich 61/2 Jahre. Therapeutisch helfen nicht sedierende H1-Antagonisten in niedriger Dosierung (Kasten). Während mindestens 4 bis 6 Wochen soll eine Dauertherapie erfolgen, bei Ansprechen kann die Dosis probatorisch und schrittweise (alle 4 Wochen) reduziert werden.
24 Hausarztmedizin • September 2015
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Medikamentöse Therapie bei chronischer Urtikaria Bei chronischer Urtikaria kommen zunächst Antihistaminika der zweiten und dritten Generation (Kasten) in üblicher Dosierung, einmal pro Tag, zum Einsatz. Reicht dies zur Symptomkontrolle nicht aus, kann die Antihistaminikumdosis verdoppelt und in zwei Dosen pro Tag eingenommen werden. Hilft auch dies nicht, können Antihistaminika in mehrfacher Dosierung, verteilt auf drei bis vier Einnahmen, verschrieben werden. Die hohen Antihistaminikadosierungen verursachen in der Praxis kaum Probleme, allerdings seien die Patienten dann auch bei Einnahme neuer, in normaler Dosis kaum sedierender Antihistaminika auf eine Einschränkung der Fahrtüchtigkeit hinzuweisen, mahnte Schmid-Grendelmeier. Ausserdem gibt es pharmakogenetische Unterschiede hinsichtlich der Empfindlichkeit des H1-Rezeptors. Gewisse Patienten klagen schon nach der einfachen Dosis über Schläfrigkeit, bei ihnen reicht aber oft die halbe Dosis für eine gute klinische Wirkung. Im klinischen Alltag zeigt sich auch, dass die verschiedenen Antihistaminika individuell besser oder schlechter wirken. Bei befriedigender Wirkung soll man nicht wechseln, bei nicht ausreichendem Behandlungsergebnis kann aber ein Präparatwechsel sinnvoll sein. «Was nach unserer Erfahrung nichts bringt, sind Kombinationen verschiedener Antihistaminika», bemerkte der Allergologe. In besonderen Situationen können weitere Wirkstoffe eingesetzt werden. So helfen Leukotrienantagonisten bei anstrengungsinduzierter Urtikaria, wobei sich der Effekt nach ein bis zwei Wochen zeigt. Ein Behandlungsversuch zusätzlich zu einem Antihistaminikum sollte somit bei ausbleibender Wirkung nach zwei Wochen beendet werden. Wenn zusätzlich auch gastrointestinale Symptome vorliegen, kann ein H2-Blocker verordnet werden. Bei komplexen Urtikariafällen können weitere Massnahmen (systemische Steroide, Dapson, Ciclosporin [Sandimmun®], intravenöse Immunglobuline) mitunter verblüffende Erfolge bringen. Eine therapeutische Revolution hat in jüngerer Zeit der Einsatz von Omalizumab (Xolair®) bei schwerer, therapierefraktärer Urtikaria gebracht (2). Omalizumab wirke bei chro-
Take Home Messages
• Bei Urtikaria sind immer physikalische Faktoren zu überprüfen (Urticaria factitia).
• Auch bei chronischen Formen ist das Labor nur zurückhaltend einzusetzen.
• Die Therapie erfolgt mit nicht sedierenden Antihistaminika. • Meist sind tiefe Dosierungen ausreichend. • Bei nicht ausreichendem Ansprechen kann die Dosis des Antihistamini-
kums schrittweise deutlich gesteigert werden. • In ausgewählten Fällen von chronischer spontaner Urtikaria ist heute
Omalizumab zu diskutieren.
nischer spontaner Urtikaria geradezu dramatisch, auch bei nicht allergischen Formen, sagte Schmid-Grendelmeier. Die Therapieindikation muss allerdings vom Spezialisten gestellt werden und wird in der Regel vom Kostenträger akzeptiert, wenn eine mehrmonatige Antihistaminikumbehandlung in hoher Dosierung keine Besserung gebracht hat. Omalizumab – bei Urtikaria allein 150 mg, bei Urtikaria mit Angioödem 300 mg – wird sehr gut vertragen. Oft reichen einige wenige Injektionen in Abständen von einem Monat, um das urtikarielle Geschehen vollständig zu beenden; bei anderen Patienten können die Intervalle zwischen den Injektionen verlängert werden, was auch unter Kostengesichtspunkten positiv ist.
Angioödeme: selten, aber oft verpasst und potenziell lebensgefährlich
Spezielle Formen der Hauterscheinung sind eher selten. Dazu gehört die Urtikaria mit Gelenkschmerzen und Fieber, mit Angioödem oder mit Anaphylaxie. Daneben gibt es eine Gruppe von seltenen, vererbten autoinflammatorischen Syndromen. In vielen Fällen spielt Interleukin 1 eine zentrale pathogenetische Rolle, sodass die Reaktion durch Inhibitoren des Il-1Signalweges wie Anakinra (Kineret®, bis jetzt nicht in CH) oder Canakinumab (Ilaris®) blockiert werden kann. Hereditäre oder erworbene Angioödeme sind ebenfalls selten und werden vielleicht deshalb oft verpasst. Sie sind nicht mit Urtikaria vergesellschaftet, oft zeigen die Betroffenen aber ein serpiginöses Exanthem im Halsbereich. Im Gegensatz zum durch Mastzellen bedingten Quincke-Ödem jucken die Schwellungen beim hereditären Angioödem nicht, dauern aber länger als 24 Stunden und sind begleitet von heftigsten Bauchschmerzen. Betrifft das Ödem die Atemwege, ist es lebensgefährlich. Als Screening dient die Messung des Komplements C4. Bei tiefen Werten und C1-Esterase-InhibitorMangel ist ein C1-Inhibitor (Icatibant [Firazyr®] oder C1-Esterase-Inhibitor aus Humanplasma [Berinert®]) indiziert. Icatibant kann im Notfall (Larynxödem) auch beim erworbenen, meist medikamentös (ACE-Hemmer, seltener Gliptine, Sartane, Rapamycin) ausgelösten Angioödem eingesetzt wer-
den (3).
Halid Bas
Referenzen: 1. Zuberbier T et al.: The EAACI/GA(2) LEN/EDF/WAO Guideline for the definition, classification, diagnosis, and management of urticaria: the 2013 revision and update. Allergy 2014; 69 (7): 868–887. 2. Maurer M et al.: Omalizumab for the treatment of chronic idiopathic or spontaneous urticaria. N Engl J Med 2013; 368 (10): 924–935. 3. Bas M et al.: A randomized trial of icatibant in ACE-inhibitor-induced angioedema. N Engl J Med 2015; 372 (5): 418–425.
Quelle: Seminar «Urtikaria – Chaos im Immunsystem?» an der 17. Fortbildungsveranstaltung des Kollegiums für Hausarztmedizin (KHM), 25. Juni 2015 in Luzern.
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