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Wo liegt das «Window of opportunity» der rheumatoiden Arthritis?
Frühzeitige Diagnose und Therapie als Herausforderung
Die frühzeitige Identifikation und Therapie der rheumatoiden Arthritis (RA) ist immer noch eine Herausforderung. Aber ist es überhaupt sinnvoll, bereits subklinische Veränderungen zu diagnostizieren? Wann ist der optimale Behandlungszeitpunkt bei früher RA? Prof. Gerd-Rüdiger Burmester von der Charité in Berlin gab am EULAR Antworten.
W enn ich heute meinen Studenten Bilder zeige, die vor 25 oder 30 Jahren von RA-Patienten im frühen Stadium aufgenommen wurden, dann sagen die mir, sie hätten so etwas noch nie gesehen», berichtete Burmester. Tatsächlich haben sich RA-Diagnose und -Therapie in diesem Zeitraum enorm entwickelt. So stehen zur Früherkennung heute sehr feine diagnostische Werkzeuge wie die Antikörper gegen citrullinierte Proteine/Peptide (ACPA) zur Verfügung. Sie können als Vorboten der Erkrankung schon Jahre vor den ersten RA-Symptomen nachgewiesen werden. Finnische und niederländische Wissenschaftler fanden bei manchen Patienten bereits zehn Jahre vor dem Krankheitsausbruch solche Antikörper im Serum (1). Hier könnte ein potenzielles «Window of opportunity» liegen. Es würde bereits im subklinischen Stadium die Chance bieten, «Autoantikörper-Individuen» sehr früh zu identifizieren, bevor in der Frühphase der RA erste undifferenzierte muskoskeletale Symptome wie Schmerzen oder Schwellungen auftreten.
Klassische Symptome und Entzündungsfaktoren Wann liegt eine «frühe RA» vor? Laut einer Definition aus dem Jahr 2002: • erstens, wenn mehr als zwei Gelenke geschwollen sind, • zweitens, wenn der «Drucktest» an den Metakarpal- und/
oder Metatarsalgelenken Schmerzen bereitet und • drittens, wenn die morgendliche Gelenksteifheit über 30 Mi-
nuten anhält (2). Zu bedenken sei jedoch, dass zum Ausschluss einer RA ein negativer Drucktest allein nicht ausreiche, da ein erheblicher Teil der Patienten mit geschwollenen Gelenken negativ auf diesen Test reagiere, so Burmester. Auch die Bestimmung von Rheumafaktoren (IgM, IgG, IgA, IgE) gehört für die Diagnose der frühen Arthritis nach wie vor zum essenziellen ärztlichen Repertoire, auch wenn der Nachweis von CCP-Antikörpern (ACPA) aufgrund der hohen Spezifität den Rheumafaktoren als Frühmarker überlegen ist.
Moderne Bildgebung zur frühen Diagnose Ein relativ neues diagnostische Verfahren ist die fluoreszierende optische Bildgebung. Dabei wird ein zuvor injizierter fluoreszierender Farbstoff mittels Nahinfrarotlicht sichtbar gemacht. Da in einem aktiven Rheumaherd die Durchblutung stärker ist, sammeln sich dort bestimmte Farbstoffmoleküle an. «Das kann uns schon im Frühstadium zeigen, dass mit der Blutzirkulation etwas nicht stimmt», so der Berliner Spezia-
list. Diese fluoreszierende Bildgebung ist daher eine hochsensitive Methode, um Entzündungen zu detektieren. Auch die Nützlichkeit des MRI zur Diagnose einer frühen RA wurde in einer aktuellen Studie noch einmal bestätigt (3). Eingeschlossen in diese Untersuchung waren Teilnehmer mit klinisch suspekter Arthralgie. Sie befanden sich in einer – noch symptomlosen – präklinischen Phase der rheumatoiden Arthritis. Ergebnis: Bei 44 Prozent dieser Gerd-Rüdiger Burmester Patienten konnten im MRI bereits in diesem frühen Stadium subklinische Inflammationen gezeigt werden. Niederländische Rheumatologen versuchten nun, über spezielle Scores solche Parameter zu quantifizieren. So werden beispielsweise im «Leiden Prediction Score» Faktoren wie morgendliche Gelenksteifheit, die Zahl geschwollener und schmerzhafter Gelenke, das CRP-Level oder das Vorhandensein von RA-Faktoren und Anti-CCP-Antikörper in einem einfachen Fragebogen erfasst und mit Punkten bewertet (4). Je mehr Punkte vergeben wurden, desto höher ist das Risiko für einen späteren RA-Ausbruch (siehe Tabelle).
«Wir wollen die RA unsererer Patienten so früh wie möglich identifizieren, um sie so früh wie möglich behandeln zu können.»
Beste Behandlungszeit: vier Monate nach Symptombeginn «Es ist wichtig, dass wir – abhängig vom Gesundheitszustand der Betroffenen und von den radiografischen Veränderungen – sehr früh intervenieren», so die Einschätzung des renommierten Rheumatologen. Aber wie früh ist sinnvoll? Schon 2001 wurde in einer viel beachteten Arbeit gezeigt, dass ein verspäteter Behandlungsbeginn mit einer signifikant stärkeren RAProgression (Sharp Score) nach zwei Jahren verbunden ist (5). In der niederländischen PROMPT-Studie (Probable Rheumatoid Arthritis Methotrexate versus Placebo Therapy) wollte man der Frage nachgehen, ob und wie eine frühe Intervention den Krankheitsverlauf beeinflusst und wo ein mögliches «Window of opportunity» existieren könnte (6). 110 Patienten mit früher undifferenzierter RA wurden doppelblind entweder
Rheumatologie • August 2015 11
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Tabelle:
Der Leiden-Prediction-Score
Nr. Frage 1. Alter in Jahren
2. Geschlecht
3. Verteilungsmuster der betroffenen Gelenke: • kleine Gelenke an Händen/Füssen • symmetrisch • obere Extremitäten • untere Extremitäten
4. Score der Morgensteifigkeit auf 100-mm-VAS: • 26–90 mm • > 90 mm
5. Anzahl schmerzempfindlicher Gelenke: • 4–10 • ≥ 11
6. Anzahl geschwollener Gelenke: • 4–10 • ≥ 11
7. CRP-Wert: • 5–50 mg/l • ≥ 51 mg/l
8. Rheumafaktor: • falls positiv
9. Anti-CCP-Antikörper: • falls positiv
Bewertung Multiplikation mit 0,02 falls weiblich: 1 Punkt
0,5 Punkte 0,5 Punkte 1 Punkt 1,5 Punkte
1 Punkt 2 Punkte
0,5 Punkte 1 Punkt
0,5 Punkte 1 Punkt
1 Punkt
2 Punkte Gesamtscore:
Score
Anhand dieser neun Punkte wird der Gesamtscore kalkuliert, der 0 bis 14 Punkte betragen kann. Bei einem Score von 0 bis 3 wurde innerhalb eines Jahres keine Progression zur RA beobachtet, bei einem Score von 7 lag die Progressionsrate um 50 Prozent und bei einem Score ≥ 11 bei 100 Prozent. Quelle: Van der Helm-van Mil AH et al. 2007 (4).
mit Methotrexat (MTX) oder Plazebo behandelt. Ergebnis: Die Wahrscheinlichkeit für den Ausbruch der aktiven Krankheit war im Plazeboarm deutlich höher als in der MTX-Gruppe. Auch der radiografische Schaden verlangsamte sich in der Verumgruppe. Allerdings, so Burmester, berge ein solch aggressives Vorgehen auch die Gefahr einer Überbehandlung. Zudem zeigte das 5-Jahres-Follow-up keinen Unterschied mehr zwischen den Behandlungsgruppen (7). Trotzdem wurde die Beobachtung, dass eine frühe RA-Behandlung einen besseren Outcome verspricht, in mehreren Kohortenstudien und Metaanalysen der vergangenen Jahre immer wieder bestätigt. In einer der jüngsten Analysen verglichen niederländische Forscher zwei grosse Kohorten (Leiden-EAC- und ESPOIR-Kohorte) mit insgesamt 1270 Patienten, um ein «Window of opportunity» zu quantifizieren (8). Ergebnis: Das Zeitfenster, um eine RA erfolgreich erstmals zu behandeln, scheint zwischen der 15. und 19. Woche nach Auftreten der ersten Symptome zu liegen.
Wie behandeln? Der Einsatz von Biologika bringe in frühen RA-Stadien Vorteile, sagte Burmester. So erwies sich in der COMET-Studie mit rund 500 Teilnehmern die Remissionsrate bei frühen RAPatienten, welche zusätzlich zu MTX mit Etanercept behandelt worden waren, nach 52 Wochen als signifikant höher als mit
einer MTX-Monotherapie (DAS28: 50% vs. 28%) (9). Tendenziell ähnliche Ergebnisse wurden für Abatacept erhoben. In der aktuellen AVERT-Studie wiesen Patienten in einem frühen RA-Stadium unter Abatacept plus MTX nach einem Jahr Remissionsraten von 61 Prozent gegenüber 45 Prozent unter MTX-Monotherapie auf (10). Grosse Unterschiede waren auch in der FUNCTION-Studie mit über 1000 Studienteilnehmern mit früher mittelschwerer bis schwerer rheumatoider Arthritis (definiert als 2 Jahre seit der Diagnose) festzustellen. Dabei erreichten die Patienten unter dem IL-6-Rezeptor-Blocker Tocilizumab (8 mg/kg) plus MTX eine DAS28-Remissionsrate von 45 Prozent gegenüber nur 15 Prozent unter MTX-Monotherapie (11). Auch in der HIT-HARD-Studie, in die nur Patienten mit aktiver früher RA eingeschlossen worden waren, zeigte sich die radiografische Progression nach 48 Wochen in der Adalimumab/ MTX-Kombinationsgruppe signifikant weniger fortgeschritten als unter der Plazebo/MTX-Kombination (12). Allerdings hatten sich die anfänglich signifikanten Verbesserungen im DAS28-Score zwischen Verumgruppe und Plazebo/MTX nach 48 Wochen wieder nivelliert.
Frühe Remission – geringere Mortalität Dass ein frühes Erreichen der Remission auch die Wahrscheinlichkeit einer längerfristig stabilen Remission erhöht, ist vielen Rheumatologen aus eigener Praxiserfahrung bekannt. In zwei Kohortenstudien mit insgesamt 2500 RA-Patienten wurde dies in den vergangenen Jahren noch einmal bestätigt (13, 14). Dass aber auch die Mortalität beeinflusst wird, wurde erst im vergangenen Jahr in einem Follow-up mit 1250 Patienten (jeweils 7,93 Patientenjahre) belegt (15). So war das Mortalitätsrisiko bei Patienten, die bald nach Beginn ihrer Erkrankung behandelt worden und in Remission gekommen waren, geringer als bei Patienten, deren RA-Verlauf sich hartnäckiger zeigte. Das sei ein sehr erfreuliches Ergebnis, so Burmester, da ja immer wieder angeführt werde, eine intensivierte Behandlung würde zu mehr Komplikationen und entsprechend geringerer Lebenserwartung führen.
Erfahrungen der Früharthritis-Kliniken Trotzdem bleibt die frühe Arthritis eine Herausforderung. So leiden die Betroffenen vor allem im ersten Jahr unter sehr variablen Symptomen, und oft sind die RA-Diagnosekriterien nicht voll erfüllt. Bei lediglich 20 Prozent der Patienten im Frühstadium sind tatsächlich alle «offiziellen» Kriterien erfüllt. Auch Rheumafaktoren und diverse Entzündungsparameter im Blut können fehlen. Wer jedoch zu den 5 bis 13 Prozent der Unglücklichen gehört, die schon in der Frühphase der Erkrankung Erosionen entwickelt, muss mit einer schlechteren Prognose rechnen (16). Um Menschen in der Frühphase der RA adäquat betreuen zu können, wurden mancherorts Früharthritis-Kliniken gegründet. Patienten, die beispielsweise in der «Early Arthritis Clinic» in Leiden behandelt werden, erhalten eine Woche nach der gesicherten RA-Diagnose bereits die Therapie (17). Die Zeit bis zur Diagnose konnte von 20 Wochen auf 10 Wochen halbiert werden – und diese Zeit, so Burmester, werde im Hinblick auf das «Window of opportunity» dankend angenommen.
Klaus Duffner
Quelle: HOT Session 7 «Undifferentiated inflammatory and early rheumatoid arthritis», EULAR-Jahreskongress, 10. Juni 2015 in Rom.
Referenzen online unter www.rosenfluh.ch
12 Rheumatologie • August 2015