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Modernes Hypertoniemanagement: Je früher, desto besser
Therapierbarkeit nimmt mit der Zeit ab
Je früher die antihypertensive Therapie beginnt, desto besser steht es um die Prognose. Die differenzierte Analyse des kardiovaskulären Restrisikos, das trotz antihypertensiver Therapie zurückbleibt, spricht dafür, dass eine möglichst frühe Intervention im natürlichen Verlauf der Hypertonie wichtig ist. Wenn die Behandlung nicht frühzeitig einsetzt oder wenn sie ungenügend ist, kann die Hypertonie behandlungsresistent werden. Zu Beginn sei die Hypertonie jedoch nie behandlungsresistent, sagte Prof. Alberto Zanchetti, Centro di Fisiologia Clinica e Ipertensione, Milano.
Die Risikostratifizierung von Hypertonikern (totales kardiovaskuläres Risiko) berücksichtigt neben den Blutdruckwerten andere Risikofaktoren, asymptomatische Organschäden, chronische Niereninsuffizienz, Diabetes und symptomatische kardiovaskuläre Krankheiten. In einer Metaanalyse von 68 randomisierten kontrollierten Studien zur Blutdrucksenkung, die von 1966 bis 2013 publiziert worden waren, untersuchte die Forschergruppe von Zanchetti den Einfluss der antihypertensiven Therapie auf vier verschiedene Risikoniveaus bei mehr als 245 000 Hypertonikern (1).
Relativer und absoluter Nutzen der antihypertensiven Therapie Je nach Studie war das kardiovaskuläre Risiko unterschiedlich stark ausgeprägt. Für die Analyse wurden folgende vier Risikoniveaus verwendet: • Tiefe bis moderate 10-Jahres-Inzidenz kardiovaskulärer
Todesfälle in der Kontrollgruppe (Plazebogruppe bzw. weniger aktive Behandlungsgruppe): unter 5 Prozent in 10 Jahren (23 Studien mit 81 675 Personen) • Hohe 10-Jahres-Inzidenz kardiovaskulärer Todesfälle: 5 Prozent bis unter 10 Prozent in 10 Jahren (11 Studien mit 46 162 Personen) • Sehr hohe 10-Jahres-Inzidenz kardiovaskulärer Todesfälle: 10 Prozent bis unter 20 Prozent in 10 Jahren (19 Studien mit 91 152 Personen)
Tabelle 1: Sekundäranalyse: 45 randomisierte kontrollierte Studien mit Durchschnittsalter unter 65 Jahren
Tiefes bis moderates kardiovaskuläres Risiko Hohes kardiovaskuläres Risiko
Sehr hohes kardiovaskuläres Risiko
Extrem hohes kardiovaskuläres Risiko
19 Studien, 41 444 Personen, Durchschnittsalter 57,1 Jahre 11 Studien, 46 162 Personen, Durchschnittsalter 59,9 Jahre 9 Studien, 22 748 Personen, Durchschnittsalter 59,9 Jahre 6 Studien, 32 078 Personen, Durchschnittsalter 58,3 Jahre
(nach [1])
• Extrem hohe 10-Jahres-Inzidenz kardiovaskulärer Todesfälle: 20 Prozent und mehr in 10 Jahren (16 Studien mit 26 881 Personen).
Für alle Risikoniveaus erreichte die antihypertensive Therapie praktisch die gleiche relative Risikoreduktion. Die absolute Risikoreduktion war dagegen – ausser für die koronare Herzkrankheit – umso grösser, je höher das kardiovaskuläre Risikoniveau war. Für die übrigen schweren kardiovaskulären Ereignisse (Hirnschlag, Herzinsuffizienz, kardiovaskulärer Tod) und für die Gesamtmortalität (alle Ursachen) war der absolute Nutzen der antihypertensiven Therapie signifikant umso stärker ausgeprägt, je höher das Risikoniveau war. Eine Blutdrucksenkung von 10/5 mm Hg reduzierte die Inzidenz schwerer kardiovaskulärer Ereignisse (Hirnschlag + koronare Herzkrankheit + Herzinsuffizienz) pro 1000 Patienten, die während 5 Jahren behandelt worden waren, um 7 Ereignisse (tiefes bis moderates Risikoniveau) beziehungsweise um 30 Ereignisse (hohes Risikoniveau) beziehungsweise um 56 Ereignisse (sehr hohes Risikoniveau) beziehungsweise um 87 Ereignisse (extrem hohes Risikoniveau) (1).
Auch das verbleibende absolute Restrisiko verdient Beachtung Bei Hypertonikern mit extrem hohem kardiovaskulärem Gesamtrisiko erreicht die antihypertensive Therapie zwar eine grosse absolute Risikoreduktion, aber das verbleibende absolute Restrisiko ist ebenfalls sehr gross – bis 10-mal grösser als bei Hypertonikern mit tiefem bis moderatem kardiovaskulärem Risiko. Während die absolute Risikoreduktion ein Mass des Therapieerfolgs darstellt, widerspiegelt das verbleibende absolute Restrisiko das Therapieversagen. Die Vermutung liegt nahe, dass die Altersstruktur dafür verantwortlich ist, dass das verbleibende absolute Restrisiko vom niedrigsten zum jeweils nächsthöheren Risikoniveau signifikant zunimmt. In Studien mit niedrigem bis moderatem Risikoniveau lag das Durchschnittsalter bei 59,1 Jahren, in Studien mit hohem Risikoniveau bei 59,9 Jahren, in Studien mit sehr hohem Risikoniveau bei 65,9 Jahren und in Studien mit extrem hohem kardiovaskulärem Risikoniveau bei 71,3 Jahren. Um eine altersabhängige Risikoerhöhung aus der Analyse zu entfernen, wurden in einer Sekundäranalyse keine Studien mit einem Durchschnittsalter der Patienten von 65 Jahren und mehr berücksichtigt (Tabelle 1).
18 Kardiologie • August 2015
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Das kardiovaskuläre Kontinuum: Therapienutzen und Restrisiko
Trotz des ähnlichen Durchschnittsalters ergab auch die Sekundäranalyse eine sehr starke Zunahme des verbleibenden absoluten Restrisikos bei zunehmendem kardiovaskulärem Risikoniveau. Dieses Phänomen beruhe also nicht nur auf einer altersabhängigen Risikozunahme, sagte der Referent. Liesse sich das Phänomen vielleicht dadurch erklären, dass die empfohlenen Blutdruckzielwerte durch die antihypertensive Therapie nicht erreicht wurden? Auch diese Erklärung für das stark erhöhte verbleibende absolute Restrisiko bei hohem, sehr hohem und extrem hohem kardiovaskulärem Risikoniveau könne aufgrund der erreichten Blutdruckwerte verworfen werden, so der Referent (Tabelle 2).
Tabelle 2: Erreichte Blutdruckwerte: 68 Studien mit unterschiedlichem Niveau kardiovaskulären Risikos
Tiefes bis moderates kardiovaskuläres Risiko Hohes kardiovaskuläres Risiko Sehr hohes kardiovaskuläres Risiko Extrem hohes kardiovaskuläres Risiko
135,4/80,7 mmHg 130,8/77,9 mmHg 139,1/78,3 mmHg 140,8/79,6 mmHg
(nach [1])
Denkbar wäre auch, dass das verbleibende absolute Restrisiko von anderen Risikofaktoren als dem Blutdruck abhängig ist. Wahrscheinlich könne aber die zusätzliche Behandlung anderer Risikofaktoren durch Blutplättchenhemmung, Blutzuckerkontrolle und Lipidsenkung das verbleibende absolute Restrisiko nicht erheblich senken, sagte der Referent.
Das kardiovaskuläre Kontinuum Letztlich stellen irreversible krankhafte Veränderungen, die durch Medikamente kaum beeinflussbar sind, die wahrscheinlichste Erklärung für das hohe verbleibende absolute Restrisiko dar. Kardiovaskuläre Erkrankungen müssen als «kardiovaskuläres Kontinuum» mit zunehmendem Risiko betrachtet werden (2): Zu Beginn, wenn nur kardiovaskuläre Risikofaktoren (z.B. Hypertonie, metabolisches Syndrom, Hypercholesterinämie, Rauchen) vorhanden sind, ist das Risiko einer kardiovaskulären Erkrankung für die nächsten 10 Jahre noch relativ gering (z.B. 10%). Wenn sich mit der Zeit subklinische, asymptomatische Organschäden gebildet haben, steigt das 10-Jahres-Risiko an (z.B. 20%). Werden die Erkrankungen manifest (z.B. Angina pectoris, Diabetes) und Organschäden symptomatisch, steigt das Risiko weiter an (z.B. 30–40%). Schliesslich kann es zu kardiovaskulären Ereignissen wie Myokardinfarkt, Hirnschlag oder Herzinsuffizienz kommen, und das kardiovaskuläre Risiko erreicht ein sehr hohes Niveau (z.B. 50%). Der relative Nutzen medikamentöser Behandlungen ist im ganzen Kontinuum ähnlich ausgeprägt, sodass das kardiovaskuläre Risiko jeweils um rund 25 Prozent reduziert werden kann (z.B. von 10 auf 7,5% bzw. von 20 auf 15% bzw. von 30 auf 22,5% bzw. von 50 auf 37,5%). Deshalb müsse die Hypertonie möglichst frühzeitig im Verlauf des «kardiovaskulären Kontinuums» behandelt werden, bevor sich hypertensive Organschäden entwickelt haben und solange es noch möglich ist, frühen Schäden vorzubeugen, betonte der Referent. Zu Beginn sei die Hypertonie nie resistent. Sie könne aber resistent werden, wenn sie nicht oder erst spät behandelt werde oder wenn die antihypertensive Therapie ungenügend sei.
Alfred Lienhard
Referenzen: 1. Thomopoulos C et al.: Effects of blood pressure lowering on outcome incidence in hypertension: 3. Effects in patients at different levels of cardiovascular risk – overview and meta-analyses of randomized trials. J Hypertens 2014; 32: 2305–2314. 2. Zanchetti A: Hypertension: Cardiac hypertrophy as a target of antihypertensive therapy. Nat Rev Cardiol 2010; 7 (2): 66–67.
Quelle: Lecture «Residual risk in hypertension» beim ESH 2015, 15. Juni 2015 in Mailand.
20 Kardiologie • August 2015