Transkript
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Nächtliche Miktionen machen krank
Nykturie als diagnostische und therapeutische Herausforderung
Nykturie ist nicht nur für die Betroffenen belastend, sondern in vielen Fällen auch eine echte diagnostische Herausforderung. Im Wesentlichen gibt es zwei Fragen zu klären: Niere oder Blase? Salz- oder Wasserdiurese?
Nykturie kann sowohl Symptom als auch Krankheit sein. Man könne das als «Yin und Yang» der Nykturie bezeichnen», sagt Prof. Dr. Karel Everaert vom Universitätsspital Gent in Belgien. Dabei hat das Symptom durchaus auch selbst Krankheitswert. So kommen manche Autoren zu dem Schluss, dass Nykturie nicht nur zu Morbidität, sondern auch zu Mortalität führt, da die Fragmentierung des Schlafes ein metabolisches Syndrom begünstigt (1, 2). Everaert: «Wir gehen davon aus, dass Nykturie ab zwei Miktionen pro Nacht ernsthaft belastend für die Betroffenen wird.» Bei mehr als zwei Miktionen pro Nacht steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass dem Problem mehr als eine Ursache zugrunde liegt. So können sowohl eine zu geringe Blasenkapazität als auch Polyurie zu verstärktem Harndrang in der Nacht führen. Nykturie beziehungsweise die zugrunde liegende Erkrankung sollte daher diagnostiziert und behandelt werden. Allerdings ist zunächst die Frage zu stellen, ob überhaupt eine Nykturie vorhanden ist und der Patient nicht etwa an einer Schlafstörung leidet und gewissermassen aus Langeweile öfter die Toilette aufsucht (3). In einem nächsten Schritt ist zu klären, ob eine behandelbare Grunderkrankung vorhanden ist. Als Symptom tritt Nykturie beispielsweise in Verbindung mit benigner Prostatahyperplasie, überaktiver Blase oder Polyurie unterschiedlicher Genese (z.B. im Rahmen eines Diabetes mellitus) auf. Ist das nicht der Fall, sollte im nächsten diagnostischen Schritt untersucht werden, ob das Problem von der Blase oder der Niere ausgeht. Das geschieht mittels Frequenz-/Volumen-Protokoll (frequency/volume chart – FVC). Erweist sich die Niere als Ursprung des Problems, können wiederum unterschiedliche pathologische Prozesse zur gesteigerten Wasserausscheidung führen: vermehrte Wasserdiurese oder vermehrteNatriumdiurese. Studiendaten zeigen, dass zwar die Wasserdiurese das häufigere Problem ist, dass jedoch bei rund einem Drittel der Patienten die verstärkte Salzausscheidung im Vordergrund steht. Das hat genetische Hintergründe. Everaert: «Homozygote Träger des Haptoglobin-1-Allels zeigen eine Natriumretention. Sie scheiden Salz nicht sofort aus, müssen viel trinken, wenn sie Salz essen, entwickeln eine Hypertonie und zeigen in der Nacht vermehrt eine Natriumdiurese.» Am anderen Ende des Spektrums finden sich homozygote Träger des Haptoglobin-2-Allels. Sie scheiden Salz unmittelbar nach einer Mahlzeit aus und sind damit weitgehend natriumresistent. Die Differenzialdiagnose erfolgt mit dem renalen Funktionsprofil, für das bei acht aufeinander folgenden Miktionen Kreatinin, Natrium und Osmolarität bestimmt werden. Die Diagnose hat Konsequenzen. Bei
Personen, deren Nykturie durch nächtliche Salzdiurese verursacht wird, könnte nämlich ein reduzierter Salzkonsum die Lösung des Problems sein (4, siehe dazu auch Seite 16). Darüber hinaus sind die therapeutischen Möglichkeiten begrenzt. In der medikamentösen Therapie besteht ausreichende Evidenz nur für Desmopressin. Everaert: «Viele Behandler haben Angst vor Desmopressin und verwenden stattdessen Furosemid. Dazu ist zu betonen, dass es für den Einsatz von Furosemid bei Nykturie keine Evidenz gibt und dass Nebenwirkungen und Risiken absolut vergleichbar mit Desmopressin sind. Auch die gefürchtete Hyponatriämie tritt unter Furosemid bei 1 von 15 Patienten auf. Das ist etwa das gleiche Risiko wie für Desmopressin.» Speziell bei älteren Patienten müsse jedoch die Dosierung individualisiert und besonders im Falle einer Niereninsuffizienz reduziert werden. Das gelte auch für Patienten, bei denen die Salzexkretion im Vordergrund stehe. Studiendaten zeigen, dass die Wirkung von Desmopressin unabhängig von der Blasenkapazität ist (5). Everaert unterstreicht auch, dass Nykturie keineswegs nur ein Problem des höheren Lebensalters ist. So zeigt ein langfristiges Follow-up von unter Enuresis leidenden Kindern, dass die Probleme mit dem nächtlichen Harndrang häufig bestehen bleiben. Rund ein Drittel der Patienten entwickelten Nykturie, bei einem Viertel blieb ein gewisses Mass an Inkontinenz bestehen, ein Fünftel litt unter vermehrtem Harndrang und 10 Prozent unter erhöhter Miktionsfrequenz während des Tages. «Es scheint also eine Störung bestehen zu bleiben, die sich jedoch im späteren Leben in anderen Symptomen äussert.»
Reno Barth
Referenzen: 1. Fiske J et al. Degree of bother caused by nocturia in women. Neurourol Urodyn 2004; 23 (2): 130–133. 2. Schmid S et al: The metabolic burden of sleep loss. Lancet Diabetes Endocrinol 2015; 3 (1): 52–62. 3. Rai A et al. Could nocturia be an indicator of an undiagnosed sleep disorder in male veterans? Urology 2015; 85 (3): 641–647. 4. Matsuo T et al. Salt intake is associated with nocturia, and affects the quality of life in the urinary symptoms. EAU 2015, Abstract 273. 5. Hajdinjak T, Leskovar J. Comparison of nocturia response to desmopressin treatment between patients with normal and high nocturnal bladder capacity index. Scientific World Journal 2013: 878564.
Quelle: State of the Art Lecture «Nocturia: A new paradigm» von K. Everaert, Gent, im Rahmen der Plenary Session des EAU 2015 am 23. März in Madrid.
14 Urologie • Juni 2015