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Darwin und die Krebstherapie
Tumorgenetik als Modell der Evolution
Die «targeted therapies» haben beim Nierenzell- sowie bei vielen anderen Karzinomen die in sie gesetzten Erwartungen nur zum Teil erfüllt. Krankheitskontrolle gelingt nicht bei allen Patienten und immer nur für begrenzte Zeit, oft nur für wenige Monate. Ein Grund dafür liegt in der genetischen Heterogenität des metastasierten Tumors.
Neueste Forschungen haben gezeigt, dass sich sowohl unterschiedliche Teile des Primärtumors als auch einzelne Metastasen genetisch deutlich voneinander unterscheiden können. Sie sind einem Selektionsprozess unterworfen, wie er typisch für die Evolution ist, so Dr. Marco Gerlinger vom Centre for Cancer and Evolution am Londoner Institute of Cancer Research. Damit entzieht sich der Tumor erfolgreich einem Ansatz in der Krebstherapie, von dem man sich die Lösung vieler Probleme erwartet hatte. Die Sequenzierung des Tumorgenoms hätte zur präzisen Vorhersage von Prognose und Ansprechen auf bestimmte Therapien führen sollen. Zum Teil gelingt dies auch – aber eben nur zum Teil. Gerlinger: «Dieses Vorgehen sollte weit bessere Informationen über den Tumor liefern als klinische oder histologische Parameter. Von dieser Annahme ausgehend haben wir vor einigen Jahren Studien am klarzelligen Nierenkarzinom begonnen.»
Genetische Heterogenität innerhalb des Tumors Bereits bei der morphologischen Begutachtung der Operationspräparate sei die Heterogenität der Tumoren aufgefallen. Gerlinger: «Wir haben uns gefragt, ob es einen Einfluss auf das genetische Profil hat, wenn man die Proben an unterschiedlichen Stellen des Primärtumors entnimmt.» Gerlinger und seine Kollegen entnahmen also von einem grossen Nierentumor an insgesamt neun Stellen sowie aus zwei verfügbaren Metastasen vom selben Patienten Proben und erstellten genetische Profile. Dabei zeigten die verschiedenen Samples deutlich voneinander abwei-
chende Mutationen (1). Das hat praktische Konsequenzen. «Wir sind daher der Ansicht, dass eine einzelne Biopsie nicht repräsentativ für den Tumor ist und nicht ausreichend Material für ein Sequencing des Tumorgenoms liefert», sagt Gerlinger. Dieses Ergebnis konnte in der Folge an einer grösseren Zahl von Tumoren bestätigt werden. Durchschnittlich zwei Drittel der gefundenen Mutationen waren heterogen, das heisst nicht in allen untersuchten Biopsien aus ein und demselben Tumor zu finden. In manchen Fällen lagen zu über 90 Prozent heterogene Mutationen vor. Dies könne beispielsweise Fehleinschätzungen der individuellen Prognose erklären. Dass in einer Probe eines Tumors eine prognostisch günstige Signatur gefunden werde, lasse nicht automatisch darauf schliessen, dass dies an anderen Stellen des Tumors genauso zutrifft. In Zukunft werde man molekulares oder genetisches Profiling so betreiben müssen, wie klinische Pathologen heute bereits in der Histologie vorgehen: Es geht darum, Proben aus möglichst vielen Regionen des Tumors aufzuarbeiten und sich am ungünstigsten Befund zu orientieren.
Krebstherapie erzeugt Selektionsdruck Genetische Verwandtschaften zwischen den einzelnen Proben sowie charakteristische Mutationen lassen sich als Stammbaum aufzeichnen. Gerlinger: «Jeder dieser phylogenetischen Bäume hat einen Stamm, bestehend aus den gemeinsamen Mutationen, und Äste, die die genetischen Besonderheiten der einzelnen Proben repräsentieren.» Eine einzige Mutation findet sich im Stamm aller untersuchten Proben von Nierenzellkarzinomen. Sie betrifft das Von-Hippel-Lindau(VHL-)Gen. Dies sei nicht überraschend, da VHL-Mutationen bereits vor 30 Jahren als massgeblicher genetischer Treiber des Nierenzellkarzinoms beschrieben wurden. Alle weiteren Treibermutationen tauchen erst weiter oben im Stammbaum, in den Ästen und Zweigen auf und bewirken auch eine funktionale Heterogenität der unterschiedlichen Tumorzellen. Die Stammbäume der einzelnen Nierenzellkarzinome sehen den phylogenetischen Bäumen, die Charles Darwin einst in sein Notizbuch zeichnete, zum Verwechseln ähnlich. Gerlinger: «Das ist natürlich kein Zufall. Evolution produziert Diversität.» Wie generell in der Natur, erlaubt auch
im Tumor die Vielfalt eine bessere Anpassung – und so letztlich auch ein Tumorüberleben trotz zielgerichteter Therapie. So gelang es den Londoner Forschern, in den Tumoren verschiedene Mutationen zu identifizieren, die für ein Ansprechen auf eine Therapie mit mTOR-Inhibitoren sprechen. Allerdings handelte es sich dabei durchwegs um heterogene Mutationen, die folglich nur in Teilen des Tumors beziehungsweise bestimmten Metastasen vorhanden sind. Unter Therapie mit einem mTOR-Inhibitor würde also in Richtung anderer Klone selektiert und der Tumor so insgesamt resistent gegen die Therapie werden.
Plädoyer für engmaschigere Kontrollen
Gerlinger: «Aus diesem Grund sind die Erfolge, die wir mit den verfügbaren Strategien erreichen, sehr begrenzt.» Eine mögliche Lö-
sung könnten Kombinationstherapien sein, wobei in der Praxis die Toxizitäten die Einsetzbarkeit solcher Therapien wohl limitieren
werden. Eine Alternative stellen Immuntherapien dar, weil diese nicht an bestimmten Mutationen ansetzen, sondern sich gegen
die maligne Entartung des Tumorgewebes im Allgemeinen richten. Eine wichtige Lehre aus den neu gewonnenen Einsichten in die Tu-
morgenetik kann bereits heute gezogen werden. Gerlinger: «Wir haben es in einem Tumor – wie generell in der Evolution – mit
sehr schwer vorhersehbaren genetischen Veränderungen zu tun. Für die klinische Praxis bedeutet das, dass wir unsere Patienten
vermutlich engmaschiger als bis anhin kontrollieren und unsere Therapien bei Bedarf an Veränderungen des Tumors anpassen
sollten.»
Reno Barth
Referenz: 1. Gerlinger M et al. Intratumor heterogenity and branched evolution revealed by multiregion sequencing. N Engl J Med. 2012; 366 (10): 883–892.
Quelle: State-of-the-art lecture «What would Charles Darwin make of Renal Cell Carcinoma (RCC)?» von Dr. Marco Gerlinger im Rahmen des EAU am 22. März 2015 in Madrid.
8 Urologie • Juni 2015