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Typ-2-Diabetes: Altbekannte Konzepte infrage gestellt
Mechanismen der Insulinresistenz sind vielschichtig
Diabetes mellitus Typ 2 ist weit mehr als ein erhöhter Glukosespiegel infolge von Insulinresistenz. Komplexe Störungen des Zucker- und des Lipidstoffwechsels in der Leber sind ebenso Bestandteil der Erkrankung wie eine vermutlich bereits in den frühesten Stadien auftretende Dysfunktion der Betazelle.
Die pathophysiologischen Konzepte des Diabetes mellitus Typ 2, wie sie zum Beispiel in der Laienpresse kommuniziert werden, sind simpel: Steigende Insulinresistenz in Muskulatur und Leber führt zu schlechter werdender glykämischer Kontrolle bei steigenden Insulinspiegeln. Schliesslich kommt es durch permanente Überlastung der Betazelle zum sekundären Versagen des Inselorgans. Doch so einfach sind die Zusammenhänge nicht. Insbesondere die Forschung der vergangenen 20 Jahre hat alte Konzepte ins Wanken gebracht und viele neue Fragen geschaffen. Prof. Dr. med. Steve Kahn von der University of Washington weist auf noch deutlich ältere Daten hin, die unter Diabetologen zunächst ratloses Erstaunen hervorriefen: Nach einer intravenösen Infusion von Glukose kommt es innerhalb von 30 Minuten zu einer intensiven Insulinausschüttung, auch Akutantwort genannt. Bei Menschen mit Typ-2-Diabetes oder auch nur mit einer etwas erhöhten Nüchternglukose (durchaus schon bei 6 mmol/l) fehlt diese Akutantwort auf Glukose vollständig. Bei manchen Diabetikern ist sie sogar negativ. Sie produzieren bei Glukosebelastung weniger Insulin als im Nüchternzustand (1).
Die Betazelle macht den Unterschied
«Die Frage, warum das so ist, beschäftigt uns bis heute», sagt Kahn. Seiner Gruppe gelang allerdings der Nachweis, dass bei normoglykämischen Probanden die akute Insulinausschüttung nach intravenöser Glukoseprovokation bei bereits bestehender Insulinresistenz grösser ist (2). Kahn: «Wir schlossen daraus, dass es einen Feedback-Mechanismus geben muss, der der Betazelle mitteilt, wie hoch die Insulinausschüttung sein muss.» Aus diesen Überlegungen ergab sich die Grösse des Dispositionsindex, die bis heute in der Diabetesforschung eine wichtige Rolle spielt. Unter anderem konnte auf Basis dieser Arbeiten gezeigt werden, dass Typ-2Diabetiker nicht insulinresistenter sind als Personen mit eingeschränkter Glukosetoleranz, jedoch bei gleich niedriger Insulinsensitivität auch noch eine eingeschränkte Insulinantwort aufweisen. Auch andere Patientengruppen wie zum Beispiel Frauen mit polyzystischem Ovarialsyndrom zeigen eine deutliche Insulinresistenz, haben jedoch dank normaler Insulinantwort keine Probleme mit der glykämischen Kontrolle (gleichwohl aber ein erhöhtes Diabetesrisiko). Umgekehrt leiden alte Menschen oft unter reduzierter Insulinproduktion, was dazu führt, dass schon eine relativ geringgradige Insulinresistenz genügt, um auffällige Glukose-
werte zu produzieren. Auch erstgradige Verwandte von Typ-2Diabetikern zeigen bereits als Gesunde eine reduzierte Betazellfunktion.
Prospektive Studie zur Betazellprotektion in Planung Von einer wirksamen Diabetestherapie wäre also zuallererst die Protektion der Betazelle zu verlangen. Leider lässt sich dieser Effekt aus den üblicherweise in klinischen Studien erhobenen Endpunkten nicht so leicht ersehen. Um einen Vergleich zwischen verschiedenen Gruppen oraler Antidiabetika im Hinblick auf die langfristige Wirksamkeit zu ermöglichen, wurde die ADOPT-Studie ins Leben gerufen. Sie verglich Metformin, den Sulfonylharnstoff Glyburid sowie Rosiglitazon über vier Jahre in einer Population von mehr als 4000 Typ-2Diabetikern. Die Studie zeigte, dass sich der Zustand von mehr Patienten, die den Sulfonylharnstoff einnahmen, langfristig signifikanter verschlechterte als bei Patienten unter den beiden anderen Therapien (Abbildung) (3). Eine weitere Arbeit von Kahn und seiner Gruppe lieferte die Erklärung: Bei einem Teil der Patienten wurden einmal jährlich orale Glukosetoleranztests durchgeführt. Sie zeigten, dass sich in allen drei Gruppen die Insulinsensitivität über die vier Jahre verbessert hatte. In der Sulfonylharnstoffgruppe war diese Verbesserung am geringsten und stand einer deutlichen Verschlechterung der Insulinantwort gegenüber. Unter Metformin und mehr noch unter Rosiglitazon kam es hingegen zu einer deutlicheren Zunahme der Insulinsensitivität und zu einer geringeren Abnahme der Betazellfunktion, was sich in einen Gesamtvorteil umrechnen liess – allerdings nur bei Respondern (4). Wurden jene Patienten untersucht, die über die vier Jahre die Krankheitskontrolle verloren hatten, ergab sich ein anderes Bild. Bereits zu Beginn der Studie war die Insulinantwort dieser Patienten schlechter und verschlechterte sich in allen drei Gruppen bis zum Erreichen des Endpunkts dramatisch. Antworten auf die Frage, ob und wie sich der Prozess des Betazellverlusts bei Menschen mit hohem Diabetesrisiko aufhalten lässt, wird in den kommenden Jahren die RISE-Studie liefern. In der RISE-Studie werden Personen mit Prädiabetes und frühem Diabetes eingeschlossen und einer aufwendigen Diagnostik zur Evaluation der Betazellfunktion unterzogen. Anschliessend werden sie in vier Gruppen randomisiert und über ein Jahr mit Metformin, Liraglutid plus Metformin, Basalinsulin (Glargin) plus Metformin sowie Plazebo behandelt. Zusätzlich wird es zwei pädiatrische Arme geben, in de-
Diabetes • Dezember 2014 27
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Abbildung: Geschätzte Inzidenz des Monotherapie-Versagens unter verschiedenen Wirkstoffen (nach 3).
nen Metformin oder Basalinsulin plus Metformin zum Einsatz kommen. Nach sechs und zwölf Monaten sowie nach insgesamt 15 Monaten (auf die 12 Behandlungsmonate folgt ein 3-monatiges Wash-out) wird die Betazelldiagnostik wiederholt (5). Von der RISE-Studie werden insofern neue Antworten erwartet, als die Studie ein randomisiertes, prospektives Design mit einer genauen Evaluation der Betazellfunktion verbinden wird.
Das biologische Bindeglied zwischen Zuckerund Lipidstoffwechsel Völlig anderen Spuren im Dickicht der Typ-2-Diabetes-Pathologie folgen Prof. Dr. med. Domenico Accili an der New Yorker Columbia University und seine Gruppe. Sie sind auf der Suche nach einem verbindenden Faktor zwischen den verschiedenen Puzzlesteinen Insulinresistenz in der Peripherie, Glukoseproduktion in der Leber, Betazellversagen und noch einigen weiteren Symptomen des Diabetikers wie zum Beispiel auffälligem Essverhalten und gestörtem Lipidmetabolismus. Ihr besonderes Interesse gilt dabei den sogenannten FoxO-Proteinen (Forkhead-Box-Proteine) und den für sie kodierenden Genen. FoxO sind Transkriptionsfaktoren, die in praktisch allen Organen des Körpers eine bedeutende Rolle spielen. «Wir konnten zeigen, dass sowohl die für die Glukoneogenese wichtige Glukose-6-Phosphatase als auch ihr für die Glukagonproduktion verantwortlicher Gegenspieler, die Glukokinase, von FoxO kontrolliert werden. In Abwesenheit von FoxO funktionieren beide Mechanismen nicht. Was geschieht dann mit der Glukose? Sie wird zu Fett», sagt Accili. Und im hepatischen Fettstoffwechsel spielen wiederum FoxO eine entscheidende Rolle. Unter anderem entscheiden sie, ob die Leber mehr oder weniger atherogene Lipide in die Zirkulation
abgibt. Insgesamt kann die Funktion der verschiedenen FoxOProteine in der Leber als Bindeglied zwischen dem Glukoseund dem Lipidmetabolismus interpretiert werden. Zusätzlich scheint FoxO auch im Rahmen der Atherogenese und Endothelfunktion mitzuspielen (6). Auch in der Betazellpathologie des Typ-2-Diabetes sieht Accili einen Beitrag von FoxO. Und zwar kann das für FoxO kodierende Gen in inaktiviertem Zustand in gesunden Betazellen nachgewiesen werden. Bei beginnendem Diabetes kommt es zunächst zu einer Aktvierung von FoxO. Im fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung verschwinden FoxO dann gemeinsam mit dem Insulin. Accilli interpretiert die Aktivierung von FoxO als einen Teil der Mechanismen, mit denen sich die Betazelle vor zunehmendem Stress zu schützen versucht (7). Darüber hinaus ist er überzeugt, dass das Betazellversagen im Rahmen des Typ-2-Diabetes zumindest im Frühstadium reversibel ist, da es nicht sofort zum Tod, sondern zu einer Entdifferenzierung der Zellen kommt, die ihre Fähigkeit zur Insulinproduktion verlieren. Selbst eine Umdifferenzierung von Beta- in Alphazellen sei möglich, was die erhöhten Glukagonspiegel von Typ-2-Diabetikern erklären könne. Therapien, die an FoxO angreifen, könnten in Zukunft also völlig neue Optionen in der Diabetestherapie eröffnen.
Reno Barth
Referenzen: 1. Brunzell JD et al. Relationships between fasting plasma glucose levels and insulin secretion during intravenous glucose tolerance tests. J Clin Endocrinol Metab. 1976; 42 (2): 222–229. 2. Kahn SE et al. Quantification of the relationship between insulin sensitivity and beta-cell function in human subjects. Evidence for a hyperbolic function. Diabetes. 1993; 42 (11): 1663–1172. 3. Kahn SE et al. Glycemic durability of rosiglitazone, metformin, or glyburide monotherapy. N Engl J Med. 2006; 355 (23): 2427–2443. 4. Kahn SE et al. Effects of rosiglitazone, glyburide, and metformin on β-cell function and insulin sensitivity in ADOPT. Diabetes. 2011; 60 (5): 1552–1560. 5. RISE Consortium: Restoring Insulin Secretion (RISE): design of studies of β-cell preservation in prediabetes and early type 2 diabetes across the life span. Diabetes Care. 2014; 37 (3): 780–788. 6. Haeusler RA et al. Integrated control of hepatic lipogenesis versus glucose production requires FoxO transcription factors. Nat Commun. 2014; 5: 5190. 7. Buteau J, Accili D. Regulation of pancreatic beta-cell function by the forkhead protein FoxO1. Diabetes Obes Metab. 2007; 9 Suppl 2: 140–146.
Quellen: «The beta cell in type 2 diabetes: lessons starting at the bedside», 8th Albert Renold Lecture, Dr. Steven Kahn. Oral Presentation #1338; «The new biology of diabetes», 46th Claude Bernard Lecture, Prof. Domenico Accili. Oral Presentation #1336. EASD-Kongress vom 15. bis 19. September 2014 in Wien.
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