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Neuer Faktor für Zunahme des Typ-2-Diabetes
Erhöhen Umweltchemikalien das Diabetesrisiko?
Die steigende Inzidenz des Typ-2Diabetes wird für gewöhnlich auf Lifestylefaktoren wie Übergewicht, Bewegungsmangel, «Western Diet» und dergleichen zurückgeführt. Doch ein weiterer Faktor ist hinzukommen: Umweltverschmutzung.
I n allen Menschen inklusive neugeborener Babys können heute Umweltschadstoffe nachgewiesen werden», sagt Dr. med. Jérôme Ruzzin von der Arbeitsgruppe für Umwelttoxikologie der Universität Bergen. Zusammen mit anderen Toxikologen hat er besonders eine grosse Gruppe praktisch allgegenwärtiger Chemikalien im Visier: die sogenannten POP (persistent organic pollutants; siehe Kasten), die sich mangels rascher Abbauwege in der Nahrungskette anreichern. Fetter Fisch, Fleisch und Milch-
schon mit Insulinresistenz und Diabetes in Verbindung gebracht wurden (1). Zahlreiche Studien aus verschiedenen Ländern zeigen eine positive Assoziation von POP-Exposition und Typ-2-Diabetes, so Ruzzin.
POP und Diabetesrisiko Er arbeitet mit seiner Gruppe seit Jahren daran, die Verbindung zwischen POP und Diabetesrisiko nicht nur epidemiologisch aufzuspüren, sondern auch in experimentellen Modellen zu belegen. Der erste Schritt dazu war die Zellkultur: Adipozyten wurden in vitro mit einem aus Zuchtlachs extrahierten «POP-Cocktail» behandelt und entwickelten in der Folge eine Insulinresistenz. Weiterführende Experimente zeigten, dass die verschiedenen Chemikalien des Cocktails durchaus unterschiedliche Wirkungen entfalteten. Dioxine wirkten kaum auf die Insulinsensitivität der Zellen, Organochlorpestizide und DDT hatten den deutlichsten Effekt.
«Unsere Untersuchungen zeigten auch, dass POP
zahlreiche Kernrezeptoren besetzen, die mit Genen in
Verbindung stehen, welche für Mitochondrienfunktion,
Lipogenese und Inflammation wichtig sind. All das hat
»mit Insulinresistenz und Diabetes zu tun.
produkte können erhebliche Mengen davon enthalten. Viele dieser Verbindungen sind sogenannte «endokrine Disruptoren», stören also hormonelle Regelkreise in Organismus und Zelle. Insbesondere östrogenähnliche Wirkungen sind bekannt, die jedoch auch
Persistent organic
pollutants: POP
POP sind inerte Substanzen, die über lange
Zeit unverändert erhalten bleiben. Dazu gehö-
ren unter anderem Dioxine, polychlorierte Bi-
phenyle (PCB) und Organochlorpestizide. Ob-
wohl beispielsweise PCB in der Schweiz in
offenen Systemen seit 1972 nicht mehr einge-
setzt werden dürfen und seit 1986 generell
verboten sind, bleiben viele dieser Schadstoffe
in der Umwelt nachweisbar. Und sie gelangen
überall hin. POP wurden bereits in den entle-
gensten Regionen der Welt, wie zum Beispiel
dem unbewohnten Enewetak Atoll im Pazifik,
gefunden.
reb
In einem nächsten Schritt wurde das Konzept im Tiermodell untersucht. Dazu wurden Ratten entweder mit normalem Futter oder zwei Varianten einer fettreichen Diät gefüttert. In einer Gruppe wurde dem Rattenfutter normales Fischöl zugesetzt, in der anderen Gruppe wurde gereinigtes und POP-freies Fischöl verwendet. Nach einem Monat hatten alle Tiere unter fettreicher Kost viszerales Fett zugelegt, jedoch bei POP-freiem Öl in signifikant geringerem Masse. Unter POPhaltiger, fettreicher Ernährung bildeten die Ratten eine Insulinresistenz aus – die komplett ausblieb, wenn fettreich und POP-frei gefüttert wurde. Das POP-haltige Öl führte überdies zu Lipiddeposition in der Leber und systemischer Entzündung. Ruzzin: «Unsere Untersuchungen zeigten auch, dass POP zahlreiche Kernrezeptoren besetzen, die mit Genen in Verbindung stehen, welche für Mitochondrienfunktion, Lipogenese und Inflammation wichtig sind. All das hat mit Insulinresistenz und Diabetes zu tun.»
Übergewicht und Insulinresistenz Um die Verbindung zwischen Insulinresistenz und POP-Belastung beim Menschen nachzuweisen, bedient man sich epidemiologischer Methoden. «Wir wissen, dass Übergewicht ein wichtiger Risikofaktor für Insulinresistenz ist», sagt Ruzzin, «doch nicht alle übergewichtigen Menschen werden insulinresistent.» Selbst bei einem BMI jenseits von 35 entwickelt rund ein Drittel der Betroffenen keine Insulinresistenz (3). Weithin werden genetische Differenzen als Ursache vermutet, doch die Bergener Gruppe stellte die Hypothese auf, dass es auch an der POP-Exposition liegen könnte. Ruzzin berichtet von einer noch unpublizierten Pilotstudie mit metabolisch gesunden sowie insulinresistenten übergewichtigen Frauen, die in der insulinresistenten Gruppe signifikant höhere Belastungen mit zahlreichen POP feststellte. Dieser Befund passt zu epidemiologischen Studien aus mehreren Ländern, die neben der erwarteten Assoziation von Übergewicht und Diabetes auch die Belastung mit Umweltchemikalien als zusätzlichen Risikofaktor identifizierten. Zuletzt wurde diese Relation für die Bevölkerung Kataloniens nachgewiesen (4). Ruzzin hält es für wahrscheinlich, dass angesichts solcher Daten die Belastung durch Umweltgifte neben genetischer Disposition, Übergewicht und Bewegungsmangel in die Liste der Risikofaktoren für Diabetes mellitus Typ 2 aufgenommen werden wird.
Reno Barth
Referenzen: 1. Alonso-Magdalena P, Quesada I, Nadal A. Endocrine disruptors in the etiology of type 2 diabetes mellitus. Nat Rev Endocrinol. 2011; 7 (6): 346–353. 2. Ruzzin J et al. Persistent organic pollutant exposure leads to insulin resistance syndrome. Environ Health Perspect. 2010; 118 (4): 465–471. 3. Ferrannini E et al. Insulin resistance and hypersecretion in obesity. European Group for the Study of Insulin Resistance (EGIR). J Clin Invest. 1997; 100 (5): 1166–1173. 4. Gasull M et al. Blood concentrations of persistent organic pollutants and prediabetes and diabetes in the general population of Catalonia. Environ Sci Technol. 2012; 46 (14): 7799–7810.
Quelle: «Organic pollutants and type 2 diabetes», Oral Presentation #1422, EASD-Kongress vom 15. bis 19. September 2014 in Wien.
26 Diabetes • Dezember 2014