Transkript
CongressSelection
Immer mehr Diabetes von zu viel Hygiene?
Typ-1-Diabetes dramatisch im Steigen begriffen
Beinahe unbemerkt und im Schatten der Typ-2-Diabetes-Epidemie bleiben Meldungen über dramatische Anstiege der Inzidenz des Diabetes mellitus Typ 1. Betroffen sind vor allem auch immer jüngere Kinder. Wir sprachen mit Prof. Dr. med. Decio Eizirik, dem Leiter des Laboratoriums für Experimentelle Medizin an der Université Libre de Bruxelles.
C ongressSelection: Herr Professor Eizirik, wir hören von einer steigenden Inzidenz des Typ-1-Diabetes, gibt es die wirklich? Prof. Dr. med. Decio Eizirik: Ja, ganz sicher. Ich denke, wir haben derzeit eine wirklich ernste Situation. So ist die Inzidenz des Typ1-Diabetes beispielsweise in Finnland, wo es sehr gute Daten gibt, seit den Fünfzigerjahren auf das Fünffache gestiegen. Ähnliche Entwicklungen sehen wir in ganz Europa und – soweit sich das eben aus dem verfügbaren Datenmaterial feststellen lässt – auf der ganzen Welt.
Wissen wir, was die Ursachen sind, beziehungsweise haben wir zumindest eine Theorie? Was wir beobachten, ist, dass Menschen mit immer geringerem genetischem Risiko die Krankheit bekommen, dass die Genetik als Ursache in den Hintergrund tritt. Es muss also etwas mit unserer Umwelt zu tun haben. Was wir auch beobachten, ist, dass es den deutlichsten Anstieg bei den Erkrankungen derzeit in den Ländern des ehemaligen Ostblocks, wie zum Beispiel Polen und Tschechien, gibt. Das sind Länder, in denen sich der Lebensstil in den letzten Jahren deutlich verändert hat und nach wie vor stark verändert.
Und wie erklärt man sich den Einfluss auf das Diabetesrisiko? Dazu gibt es eine Reihe von Hypothesen. Eine, die mir sinnvoll erscheint, ist die sogenannte Hygienehypothese. Sie besagt, dass unser Immunsystem in der Kindheit beispielsweise durch Parasiteninfektionen trainiert wird. Dabei lernen regulatorische Zellen, Autoimmunität zu vermeiden. Bleibt der Kontakt mit Parasiten aus, bleibt auch dieser Lernprozess aus. Wenn dann noch ein bestimmter genetischer Hintergrund und eine Virusinfektion wie zum Beispiel Coxa-
ckie hinzukommen, haben wir
flussen. Mit gegen die Zytokine
eine unglückliche Kombination
gerichteten und antiinflamma-
von Faktoren, die den Autoim-
torischen Medikamenten ver-
munprozess in Gang bringen.
hindern wir Schäden an den
Gelenken. Heilen können wir
Aber gerade Skandinavien war
die Krankheit aber nicht. Beim
doch bereits vor Jahrzehnten
Typ-1-Diabetes ist der Schaden
schon sehr sauber. Ist es dort
ja bereits angerichtet, wenn
noch hygienischer geworden?
man die Krankheit überhaupt
Das ist ein guter Punkt, und ich
erst bemerkt. Es gibt übrigens
weiss keine Antwort darauf. Ganz sicher ist die Hygienehy-
Decio Eizirik
einige Parallelen zwischen der RA und dem Diabetes. Es sind
pothese nicht so einfach anzu-
ähnliche Kandidatengene im
wenden, sondern es scheint noch eine Reihe Spiel, und es gibt bei beiden Erkrankungen
von Faktoren zu geben, die wir noch nicht Familiencluster mit häufigem Auftreten. Viele
kennen.
dieser Menschen zeigen eine ausgeprägte
proinflammatorische Antwort. Warum sich
Bedeutet das, dass wir jetzt mehr Schmutz das bei unterschiedlichen Menschen gegen
in unserer Umwelt brauchen?
unterschiedliche Organe richtet, wissen wir
Tatsächlich werden solche Überlegungen in nicht.
Tiermodellen untersucht. Anne Cooke hat in
Cambridge Experimente mit NOD – «non Autoimmunerkrankungen haben ja eine Ten-
obese diabetic» – Mäusen gemacht. Diese denz, nicht allein zu kommen. Gibt es deutli-
Tiere entwickeln einen Autoimmundiabetes, che Assoziationen zwischen dem Typ-1-Dia-
der dem menschlichen Typ-1-Diabetes sehr betes und anderen Erkrankungen des
ähnlich ist. Sie hat nun gezeigt, dass der Dia- Immunsystems?
betes ausbleibt, wenn man die Tiere mit Nur relativ schwache. Da bewegen wir uns in
Leishmania infiziert. Das ist natürlich nicht der Grössenordnung von 5 Prozent. Die
praktisch verwertbar, weil die Leishmaniose deutlichsten Assoziationen gibt es mit dem
eine gefährliche Krankheit ist, aber es zeigt, Morbus Addison und der Autoimmunthyre-
dass das Konzept stimmen dürfte. Und Anne roiditis.
Cook ist einen Schritt weitergegangen. Sie
isolierte Proteine aus Leishmania, die den Sie beschäftigen sich in Ihrem Labor inten-
gleichen Effekt haben.
siv mit der Rolle der unspezifischen Immun-
antwort im Rahmen der Diabetes-Entste-
Wird es so etwas auch einmal für Menschen hung. Was wissen wir darüber?
geben?
Die unspezifische Immunantwort ist dazu da,
Schwer zu sagen. Das Problem ist, dass wir schnell zu reagieren. Deshalb werden auf
geschätzte 50 wirksame Therapien haben, dieser Ebene des Immunsystems keine Anti-
um eine NOD-Maus vor Diabetes zu schüt- gene erkannt, sondern Muster. Zum Beispiel
zen. Beim Menschen haben wir Null. Das Doppelstrang-RNA, wie sie von Viren bei der
liegt einmal daran, dass das Problem beim Replikation produziert wird. So kann der Or-
Menschen viel heterogener sein dürfte – was ganismus sofort reagieren und muss nicht
wir Typ-1-Diabetes nennen, ist vermutlich auf die Antigenpräsentation warten.
eine Vielzahl verschiedener Erkrankungen. Für die unspezifische Immunantwort sind
Ein weiteres Problem ist, dass wir die Krank- Makrophagen, Natural Killer Cells und zum
heit erst bemerken, wenn nur mehr sehr we- Teil auch B-Lymphozyten zuständig. Nun ha-
nige Betazellen vorhanden sind. Betazellen ben genetische Studien gezeigt, dass Kandi-
bei Nagetieren können aber viel besser re- datengene für Typ-1-Diabetes auch mit dem
generieren als beim Menschen.
unspezifischen Immunsystem in Verbindung
stehen. Dieses System scheint bei Menschen
Verhält sich Typ-1-Diabetes eigentlich an- mit hohem Typ-1-Risiko deutlich hochregu-
ders als andere Autoimmunerkrankungen? liert zu sein, was eine sehr heftige Entzün-
Bei den meisten haben wir ja sehr wohl Mög- dungsantwort bedeutet. Wir glauben, dass
lichkeiten, um zu intervenieren …
es durch zu viel Entzündung zu viel Beta-
Na ja, die Möglichkeiten der Intervention zelltod und schliesslich zur Autoimmunität
sind auch sonst begrenzt. Nehmen wir zum kommt.
Beispiel die rheumatoide Arthritis (RA). Da
können wir die Symptomatik günstig beein- Das Gespräch führte Reno Barth.
24 Diabetes • Dezember 2014