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50 Jahre Diabetestherapie: Eine Erfolgsgeschichte
Neue Therapieoptionen brachten neue Herausforderungen
Praktische alle Tools, die heute für die Therapie sowohl von Diabetes mellitus Typ 1 als auch Typ 2 verfügbar sind, gab es vor einem halben Jahrhundert noch nicht. Die Prognose der Patienten war ungünstig. Die neuen Möglichkeiten der Therapie bedeuten für die Betroffenen ein längeres Leben und weniger Morbidität.
P raktisch alles, was uns heute in der Therapie des Typ1- und Typ-2-Diabetes zur Verfügung steht, war vor einem halben Jahrhundert undenkbar», sagt Prof. Dr. med. Guntram Schernthaner, Vorstand der 1. Medizinischen Abteilung im Wiener Krankenhaus Rudolfstiftung, «wir hatten keine Blutzuckerselbstmessung, keine Insulinpumpen, keine Pens, keine ACE-Hemmer, keine Lipidsenker, und HbA1c sowie Mikroalbuminurie waren nicht bekannt.» Behandelt wurde mit tierischen Insulinen, Sulfonylharnstoffen und Biguaniden. Die Konsequenzen waren schlechte Einstellung bei beiden Diabetesformen und eine ungünstige Prognose. Schernthaner: «Die meisten Typ-2-Diabetiker überlebten nicht lange genug, um ein Nierenversagen zu entwickeln.» Wichtige grosse Schritte wurden erst in den frühen Achtzigerjahren unternommen. So evaluierten die Universitäten Wien und Düsseldorf ein Schulungs- und Behandlungsprogramm für Typ-1-Diabetiker und erreichten damit eine Verbesserung des HbA1c sowie eine Reduktion der Hospitalisierungen von (damals nicht ungewöhnlichen) 10 auf lediglich 1 pro Jahr (1). Für Schernthaner waren es letztlich drei grosse Studien, die die Diabetestherapie nachhaltig veränderten und verbesserten: Diabetes Control and Complications Trial (DCCT), UK Prospective Diabetes Study (UKPDS) und STENO-2.
Dramatische Verbesserungen Über die Jahrzehnte konnten praktisch hinsichtlich aller Endpunkte erhebliche Verbesserungen erreicht werden. Abgenommen haben die Gesamtmortalität, die kardiovaskuläre Mortalität, Fussamputationen, Myokardinfarkte, Schlaganfälle, schwere Retinopathie, Nierenversagen sowie Todesfälle durch hyperglykämische Krisen. Eine Studie bestätigte in der Framingham-Population die signifikante Mortalitätsreduktion zwischen den Perioden 1950 bis 1975 und 1976 bis 2001 (2). Dem steht allerdings eine leichte Erhöhung der Karzinomsterblichkeit bei Diabetikern gegenüber, die sich, so Schernthaner, vermutlich einfach dadurch erklärt, dass Diabetiker heute länger leben. Daten aus dem dänischen Diabetesregister zeigen, dass sich in der Zeit von 1995 bis 2007 in Dänemark zwar die Prävalenz von Diabetes mehr als verdoppelte, gleichzeitig jedoch die Mortalität von Diabetikern in den ersten drei Jahren um 40 Prozent abnahm (3). Über die gesamte Dauer der Studie ging die Sterblichkeit in der diabetischen Population um 4 Prozent pro Jahr zurück. Schernthaner betont, dass ähnliche Register aus vielen anderen Ländern wie den USA, Grossbritannien oder Kanada ähnliche
Guntram Schernthaner
Ergebnisse gebracht hätten. Ähnliches gilt auch für andere bedeutsame Endpunkte. Beispielsweise konnte in Finnland die Amputationsrate bei Diabetikern in nur 11 Jahren um 50 Prozent gesenkt werden (4). Dennoch haben Diabetiker in Finnland im Vergleich zur gesunden Normalbevölkerung nach wie vor ein 7-fach erhöhtes Amputationsrisiko. Eine aktuelle Studie aus den USA untersuchte die Inzidenz von Endpunkten wie Herzinfarkt, Schlaganfall oder Amputation und fand bedeutsame Reduktionen in der diabetischen Population, denen lediglich geringe Veränderungen in der nicht diabetischen Bevölkerung gegenüberstanden (5).
Nierenversagen bei Diabetikern wird seltener Schernthaner: «Als ich ein junger Arzt war, hat man kaum einen Diabetiker auf einer Dialysestation gesehen. Sie sind alle noch vor dem Nierenversagen an kardiovaskulären Komplikationen verstorben.» So erfolgte der dramatische Anstieg der Diabetiker mit terminalem Nierenversagen paradoxerweise parallel zur Verbesserung der therapeutischen Optionen. Schernthaner: «Es gibt allerdings gute Nachrichten aus jüngerer Zeit (6). Erstmals wurde in den Jahren 1996 bis 2007 ein Rückgang des Anteils an Patienten mit terminalem Nierenversagen in der diabetischen Bevölkerung gesehen.» Der Rückgang der Inzidenz von Nierenversagen wird mit 35 Prozent beziffert. «Ein ähnliches Ergebnis zeigt auch das österreichische Dialyseregister. Wobei der Rückgang von Nierenversagen vor allem durch die Entwicklung bei den Typ-2-Diabetikern getrieben wird. Sie sind heute weit besser
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eingestellt, und zusätzliche Risikofaktoren werden besser kontrolliert. Daher kommt es zu weniger Nierenversagen», sagt Schernthaner. Daten aus Schweden lassen erahnen, dass die gleiche Entwicklung auch bei den Typ-1-Diabetikern stattgefunden hat – nur noch deutlicher. Sie zeigen nämlich insgesamt sehr niedrige kumulative Inzidenzraten von terminalem Nierenversagen. Diese liegen in Schweden durchwegs im einstelligen Prozentbereich über 30 Jahre, bei Frauen noch etwas niedriger als bei Männern (7). Dazu Schernthaner: «Früher musste man mit einer Inzidenz von 20 bis 30 Prozent rechnen. An unserem Zentrum betreuen wir eine grosse Zahl von Typ-1-Diabetikern. Und wir sehen heute allenfalls noch Einzelfälle von neu aufgetretenem terminalem Nierenversagen.» Zurückgegangen ist auch die Mortalität von Typ-2-Diabetikern, die bereits eine diabetische Nephropathie entwickelt haben. Lag sie in den Jahren 1983 bis 2002 noch in der Region von 80 Prozent in 20 Jahren, so waren es zwischen 2000 und 2010 nur mehr rund 50 Prozent (8). Schernthaner: «Das ist das Ergebnis multifaktorieller Interventionen. Ich bin überzeugt, dass wir in den kommenden Jahren noch einmal eine Reduktion in dieser Grössenordnung sehen werden.»
Vor- und Nachteile intensivierter Zuckereinstellung In den vergangenen 50 Jahren sind freilich auch Fragen aufgetreten, die derzeit noch nicht mit ausreichender Evidenz beantwortet werden können. Dazu gehört zum Beispiel die Frage nach der Sinnhaftigkeit einer intensivierten Therapie. Diese wurde in mehreren Studien verglichen, allerdings sei – mit Ausnahme von UKPDS – die Beobachtungszeit in diesen Studien zu kurz gewesen, so Schernthaner. Informationen zu dieser Fragestellung liefern die Studien UKPDS, PROactive, ADVANCE, VADT und ACCORD, die in einer Metaanalyse zusammengefasst wurden (9). Diese zeigt eine Reduktion der kardiovaskulären Mortalität um rund 20 Prozent durch die intensivierte Therapie, allerdings keinen Effekt auf die Gesamtmortalität. «Erhöht war die Mortalität unter intensivierter Therapie jedoch nur in einer der Studien, nämlich ACCORD. Und wir alle wissen, dass in ACCORD eine sehr artifizielle Therapie gewählt wurde, die kein erfahrenes Zentrum im klinischen Alltag so machen würde.» Im Hinblick auf die Mortalität gelte es auch, einen Blick auf die treibenden Faktoren zu werfen. So zeigen Studiendaten, dass über fünf Jahre Blutdruckkontrolle und Senkung des LDLCholesterins einen deutlicheren Effekt auf die kardiovaskulären Todesfälle haben als eine Reduktion des HbA1c (10). Daten der Emerging Risk Factor Collaboration Group zeigen ebenfalls wesentlich steilere Anstiege der Mortalität mit erhöhtem LDL-Cholesterin und systolischem Blutdruck als mit dem Zucker (11). Für den Nüchternzucker hat sich eine U-förmige Kurve ergeben, das heisst, die Mortalität steigt bei sehr
niedrigen Werten wieder an. Allerdings müsse auch daran gedacht werden, dass eine intensive Blutzuckerkontrolle Mikround Makroalbuminurie erheblich reduzieren kann, wie zuletzt eine Analyse von ACCORD zeigte (12). In ADVANCE wurden unterschiedliche Optimalwerte für das HbA1c gefunden (13). Während makrovaskuläre Komplikationen und Mortalität bei einem HbA1c von 7 Prozent am niedrigsten waren, bewährte sich im Hinblick auf die mikrovaskulären Komplikationen ein HbA1c-Wert von 6,5 Prozent. Nun gelte es, so Schernthaner, diese Erfahrungen und Erfolge, die derzeit nur in den westlichen Industriestaaten erreicht werden, weltweit zu etablieren.
Reno Barth
Referenzen: 1. Mühlhauser I et al. Bicentric evaluation of a teaching and treatment programme for type 1 (insulin-dependent) diabetic patients: improvement of metabolic control and other measures of diabetes care for up to 22 months. Diabetologia. 1983; 25 (6): 470–476. 2. Preis SR et al. Trends in all-cause and cardiovascular disease mortality among women and men with and without diabetes mellitus in the Framingham Heart Study, 1950 to 2005. Circulation. 2009 Apr 7; 119 (13): 1728–1735. 3. Carstensen B et al. The Danish National Diabetes Register: trends in incidence, prevalence and mortality. Diabetologia. 2008; 51 (12): 2187–2196. 4. Ikonen TS et al. Fewer major amputations among individuals with diabetes in Finland in 1997–2007: a population-based study. Diabetes Care. 2010; 33 (12): 2598–2603. 5. Gregg EW et al. Changes in diabetes-related complications in the United States, 1990–2010. N Engl J Med. 2014; 370 (16): 1514–1523. 6. Williams ME. Diabetic CKD/ESRD 2010: a progress report? Semin Dial. 2010 Mar-Apr; 23 (2): 129–133. 7. Möllsten A et al. Cumulative risk, age at onset, and sex-specific differences for developing end-stage renal disease in young patients with type 1 diabetes: a nationwide population-based cohort study. Diabetes. 2010; 59 (7): 1803–1808. 8. Andrésdóttir G et al. Improved survival and renal prognosis of patients with type 2 diabetes and nephropathy with improved control of risk factors. Diabetes Care. 2014; 37 (6): 1660–1667. 9. Ray KK et al. Effect of intensive control of glucose on cardiovascular outcomes and death in patients with diabetes mellitus: a meta-analysis of randomised controlled trials. Lancet. 2009; 373 (9677): 1765–1772. 10. Preiss D, Ray KK. Intensive glucose lowering treatment in type 2 diabetes. BMJ. 2011; 343: d4243. 11. Emerging Risk Factors Collaboration. Diabetes mellitus, fasting blood glucose concentration, and risk of vascular disease: a collaborative meta-analysis of 102 prospective studies. Lancet. 2010; 375 (9733): 2215–2222. 12. Genuth S, Ismail-Beigi F. Clinical implications of the ACCORD trial. J Clin Endocrinol Metab. 2012; 97 (1): 41–48. 13. Zoungas S et al. Association of HbA1c levels with vascular complications and death in patients with type 2 diabetes: evidence of glycaemic thresholds. Diabetologia. 2012; 55 (3): 636–643.
Quelle: «Improvement of patient care in 50 years: a great success.» Oral Presentation #1340, EASD 2014 vom 15. bis 19. September in Wien.
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