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Alter hippokratischer Eid und die neuen oralen Antikoagulanzien
«Die neuen oralen Antikoagulanzien einsetzen, ohne die Patienten zu schädigen», lautete der Titel einer Veranstaltung am ESC 2014 in Barcelona in leichter Abwandlung des Primum nihil nocere. Die von Experten vorgestellten Schlüsselbereiche umspannten demnach die prompte Diagnose des spezifischen Schlaganfallsubtyps, das Vermeiden von Blutungen oder den flexiblen Umgang mit Dosierungen. Ein eigenes Kapitel war zudem für den Einsatz neuer Technologien (Stichwort Apps) als auch Altbewährtem (Buch für die Kitteltasche) reserviert, die den Einsatz der NOAC in der täglichen klinischen Praxis vereinfachen sollen.
S chlaganfall ist nicht gleich Schlaganfall», verwies Prof. Dr. med. Carlos A. Molina von der Stroke Unit des Hospital Vall d’Hebron in Barcelona auf verschiedene ischämische Subtypen: an erster Stelle stehen die kryptogenen Schlaganfälle mit 36 Prozent, gefolgt von lakunären Schlaganfällen (26%) und solchen mit kardioembolischer Pathogenese (19%). Das Vorhofflimmern ist nach wie vor der stärkste Risikofaktor und mit steigendem Alter zunehmend (1, 2). Das höchste Schlaganfall-Rezidivrisiko weisen TIA-Patienten mit Atherosklerose einer grossen Arterie auf, gefolgt von TIAPatienten mit Okklusion eines kleinen Gefässes, an dritter Stelle stehen Patienten mit Kardioembolie. Zudem ist die Bildgebung ein wichtiges Verfahren zum Identifizieren von Hochrisiko-Patienten, nämlich jenen Patienten, die 24 Stunden nach TIA multiple kleine Läsionen im MRI zeigen. Ein Score wie CHADS ist wiederum ein gutes Werkzeug für das Einstufen des Risikos für Tod, Insult und systemische Embolie bei Patienten mit Vorhofflimmern; «der HAS-BLED wurde speziell zur Einstufung des Risikos für schwere Blutungen, vor allem gastrointestinale Blutungen, entwickelt, und eignet sich weniger für die Einstufung des Risikos einer intrakraniellen Blutung», betonte Molina. Mikroblutungen in der Bildgebung verweisen auf ein erhöhtes Risiko für eine intrakranielle Blutung unter oraler Antikoagulation.
Blutungsereignisse differenziert betrachten Einen Überblick über die Blutungsereignisse in ENGAGE AFTIMI 48 gab nachfolgend Prof. Dr. med. Robert P. Giugliano von der Harvard Medical School (3, 4). In diese Studie waren rund 21 000 Patienten mit Vorhofflimmern sowie moderatem bis hohem Schlaganfallrisiko eingeschlossen; sie erhielten randomisiert entweder Warfarin oder Edoxaban in einer höheren beziehungsweise geringeren Dosierung (60 mg/Tag bzw. 30 mg/Tag). Die Dosierung des NOAC wurde um 50 Prozent vermindert bei Patienten mit einer Ausgangskreatinin-Clearance von 30 bis 50 ml/min, einem Körpergewicht unter 60 kg oder bei Einnahme eines starken P-GP Inhibitors (s. unten). Wichtigster Wirksamkeitsendpunkt waren Schlaganfall oder ein systemisches embolisches Ereignis (SEE), erster Sicherheitsendpunkt war die schwere Blutung laut ISTH-Kriterien (International Society on Thrombosis and Haemostasis).
Beide Dosierungen von Edoxaban zeigten ihre Nichtunterlegenheit gegenüber Warfarin bezüglich Schlaganfall/SEE; tendenziell traten unter der höheren Dosierung weniger Schlaganfälle/SEE auf, dieses Ergebnis hatte aber keine statistische Signifikanz, wie Giugliano ausführte. Schwere Blutungen traten unter Warfarin am meisten auf, danach folgten die Gruppen der höheren beziehungsweise der niederen Dosierung von Edoxaban. «Mortalität und kardiovaskulärer Tod konnten unter Edoxaban statistisch signifikant reduziert werden, verglichen mit Warfarin.» Eine Metaanalyse von Ruff et al. betrachtete Gesamtmortalität und grössere Blutungen über die vier grossen Studien (RE-LY, ROCKET AF, ARISTOTLE, ENGAGE-AF-TIMI 48) hinweg (5). Die Analyse zeigte eine konsistente Abnahme der Gesamtmortalität um etwa 10 Prozent sowie eine gesamthafte Abnahme der Blutungen um 14 Prozent – mit weniger Blutungsereignissen in ARISTOTLE sowie ENGAGE AF-TIMI 48. In Letzterer betrachtete der Kardiologe anschliessend die vier Hauptursachen für kardiovaskulären Tod unter NOAC vs. Warfarin genauer (4): Bei drei der vier Ursachen, nämlich plötzlicher Herztod (45%), letales Herzversagen/Schock (23%) beziehungsweise letaler ischämischer Insult (8,8%) zeigten sich keine Unterschiede zwischen den Gruppen. Bei der vierten Ursache, der letalen Blutung, konnte ein statistisch hochsignifikanter Unterschied beobachtet werden: 65 letale Blutungen unter Warfarin standen 35 Fällen unter hochdosiertem Edoxaban sowie 25 Fällen unter niedrigdosiertem Edoxaban gegenüber. «Die meisten dieser letalen Blutungen waren intrakraniell lokalisiert, hier zeigte sich auch der wesentliche Unterschied. Extrakranielle Blutungen – gastrointestinal, retroperitoneal – waren in allen Gruppen gleich selten.» Verglichen mit gut eingestelltem Warfarin reduziert Edoxaban Blutungen, einschliesslich letaler Blutungen, und die Mortalität, fasst der Kardiologe zusammen.
Ausbalancieren des Risikos Antikoagulation ist «das Ausbalancieren des Risikos», erklärt Dr. med. Christian T. Ruff vom Brigham and Women’s Hospital an der Harvard Medical School, «zwischen Verhindern eines Schlaganfalls und Verhindern der furchtbaren Konsequenz einer intrakraniellen Blutung. Im Amerikanischen spricht man davon, den ‹sweet spot› zu finden: den optimalen Bereich in der Mitte.»
Kardiologie • November 2014 39
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NOAC bei AF: App am Smartphone, Handbuch in der Kitteltasche
Digital und analog harmonisch vereint: Unter www.noacforaf.eu oder via QR-Code stehen neben dem PDF des kompletten Leitfadens unter anderem eine Zusammenfassung sowie eine App zum kostenlosen Herunterladen bereit, zusätzliche Slides allerdings nur für Mitglieder der EHRA (European Heart Rhythm Association); zudem gibt es ein ganz klassisches Booklet mit den wichtigsten Botschaften, «das ich im Krankenhaus immer in meiner Kitteltasche griffbereit habe», stellt Prof. Dr. med. Hein Heidbuchel von der Universität Löwen das neue Projekt vor.
Eine kurze Auswahl des Inhalts: Kontraindikationen für die NOAC-Therapie: Mechanischer Klappenersatz und mittelschwere bis schwere Mitralklappeninsuffizienz (meist rheumatisch bedingt). Begründung: Ausschluss aus Phase-III-Studien, nachteilige Ergebnisse mit Dabigatran nach Klappenersatzchirurgie und fehlende klinische Daten für alle Xa-Hemmer (6). Allerdings: «Patienten mit anderen Klappenerkrankungen sind nicht automatisch von dieser Therapie auszuschliessen! Patienten etwa mit leichter bis mittelschwerer Aortenstenose reagierten gut auf NOAC, und da diese Gruppe von sich aus ein höheres Insultrisiko hat, zeigt sich hier ein höherer absoluter Nutzen.» Über den Einsatz bei Bioprothesen oder schwerer Aortenstenose wird noch diskutiert; nach Klappenersatz ist eine mögliche Lösung, NOAC einige Wochen postoperativ nicht einzusetzen.
Weitere Themen: Arzneimittelwechselwirkungen mit farbkodierter Übersicht, Niereninsuffizienz (häufig bei den älteren Patienten), Vorgehen vor geplantem chirurgischem Eingriff, Einleitung und Follow-up der Therapie.
Wann ist also bei NOAC eine Modifikation oder Reduktion der Dosierung erforderlich? «Alle vier NOAC-Wirkstoffe werden renal ausgeschieden, allerdings liegt die renale Clearance von Dabigatran bei 80 Prozent, die von Apixaban bei 27 Prozent.» Hinsichtlich Arzneimittelwechselwirkungen sind alle NOAC aktiv am P-Glykoprotein Transportprotein (P-GP), bei gleichzeitiger Einnahme von potenten P-GP-Hemmern wie etwa Quinidin oder Verapamil steigen daher die NOAC-Plasmawerte. Rivaroxaban und Apixaban wiederum zeigen Interaktionen mit dem Cytochrom-P450-Enzym der Leber, bei bestimmten Patienten ist hier eine Modifikation gerechtfertigt. «Es gibt wichtige Unterschiede im Metabolismus, bei der renalen Exkretion oder bei Dosierungsstrategien, diese können eine Änderung des Risiko-Nutzenprofils der NOAC bei bestimmten Populationen bedingen», fasst Ruff die aktuelle Datenlage zusammen. Es sei aber vermutlich nicht erforderlich, die Einnahme der NOAC regelmässig zu überwachen; klinische Merkmale alleine (Alter, Körpergewicht, Kreatinin-Clearance, Einnahme von P-GP Hemmern) seien wahrscheinlich ausreichend, um eine Anpassung der Dosierung bei gleichzeitigem Erhalt der Effektivität und Prävention einer Blutung vorzunehmen.
Lydia Unger-Hunt
Literatur: 1. Sacco RL et al. Race-ethnic disparities in the impact of stroke risk factors: the northern Manhattan stroke study; Stroke 2001; 32: 1725–1731. 2. Ng KH et al. Anticoagulation in Patients Aged ≥75 years with Atrial Fibrillation: Role of Novel Oral Anticoagulants. Cardiol Ther 2013; 2: 135–149. 3. Ruff CT et al. Evaluation of the novel factor Xa inhibitor edoxaban compared with warfarin in patients with atrial fibrillation: design and rationale for the Effective aNticoaGulation with factor xA next GEneration in Atrial Fibrillation-Thrombolysis In Myocardial Infarction study 48 (ENGAGE AF-TIMI 48). Am Heart J 2010; 160: 635–641. 4. Giugliano RP et al. Edoxaban versus warfarin in patients with atrial fibrillation. NEJM 2013; 28; 369: 2093–2104. 5. Ruff CT et al. Comparison of the efficacy and safety of new oral anticoagulants with warfarin in patients with atrial fibrillation: a meta-analysis of randomised trials, Lancet 2014; 383: 955–962. 6. Eikelboom JW et al. Dabigatran versus warfarin in patients with mechanical heart valves. NEJM 2013; 369: 1206–1214.
Quelle: «Hippocratic wisdom: How to use the NOACs and Do No Harm», ESC-Kongress 2014 in Barcelona.
Ebenfalls frei zum Herunterladen ist eine «Antikoagulationskarte» in 16 europäischen Sprachen (plus Japanisch) für die Patienten, mit Angabe von Beginn und Wirkstoffen der gerinnungshemmenden Therapie sowie Arztterminen.
40 Kardiologie • November 2014