Transkript
CongressSelection
Von Biomarkern und Biologika
Aktuelle Entwicklungen in der MS-Therapie
Rund 2,8 Millionen Menschen weltweit leiden an der entzündlichen, degenerativen, fortschreitenden Autoimmunerkrankung multiple Sklerose. Im jungen Erwachsenenalter ist MS die häufigste neurologische Erkrankung, die zu fortschreitender Behinderung führt. Dieser hohen Bedeutung Rechnung tragend, waren diesem Thema gleich 10 wissenschaftliche Sitzungen der ersten gemeinsamen Jahrestagung der europäischen neurologischen Gesellschaften EFNS und ENS gewidmet. Hier ein Einblick in wichtige Studien.
Mehr als 200 Abstracts des Kongresses hatten mit Erforschung und klinischer Behandlung der multiplen Sklerose zu tun. Ein viel diskutiertes Thema war dabei die zunehmende Bedeutung von Biomarkern für das Management der Erkrankung. Diese sollen rasch und nichtinvasiv Diagnosen bestätigen oder ausschliessen, den weiteren Krankheitsverlauf oder den möglichen Erfolg einer Therapie bei individuellen Patienten vorhersagen. Die Palette der untersuchten Marker ist gross.
Rolle der Entzündungsmarker Intensiv beforscht wird die Rolle von Entzündungsmarkern. So konnte eine tschechische Gruppe zeigen, dass im spinalen Liquor von MS-Patienten Spiegel von Beta-2-Mikroglobulin und Interleukin-8 deutlich höher waren als in einer gesunden Kontrollgruppe (1). Die Ergebnisse einer anderen Studie, die in Istanbul präsentiert wurde, weisen darauf hin, dass das Protein sIFNAR2 sich als weiterer diagnostischer MS-Biomarker etablieren könnte (2). Als ein neuer MS-Marker könnte sich zum Beispiel auch der Nachweis von Eisen im Gehirn mittels Magnetresonanztomografie erweisen, wie eine auf dem Kongress vorgestellte Studie aus Graz belegt. Sie zeigte, dass im Gehirn von MS-Patienten die Eisenkonzentration vor allem in den frühen Krankheitsphasen rasch zunimmt und mit einem Verlust an Gehirnvolumen assoziiert ist (3). Eine wichtige und für die Therapie entscheidende Rolle könnte Biomarkern in Zukunft auch bei der Unterscheidung der verschiedenen MS-Verlaufsformen zukommen. Dank dieser Biomarker könnte es möglich werden, schon früh zwischen schubförmig remittierendem (RRMS), primär-progredientem (PPMS) und sekundär-progredientem (SPMS) Verlauf zu differenzieren. Eine grosse, EU-geförderte Studie, die beim Kongress in Istanbul präsentiert wurde, belegt, dass im Blut nachweisbare Marker wie CD40L, Eotaxin oder IL-8 das Ansprechen auf eine Interferon-beta-Therapie vorhersagen können (4).
Neue Substanzen im Fokus Auf dem Joint Congress of European Neurology wurden zahlreiche Studien zur Sicherheit und Wirksamkeit erst kürzlich zugelassener Substanzen wie Teriflunomid, Dimethylfumarat oder Alemtuzumab präsentiert. So untersuchte eine Analyse der Phase-III-Studie CARE, ob Alemtuzumab im Vergleich zu
Interferon-beta-1a in bestimmten Subgruppen besser oder schlechter wirksam ist als in anderen. Die Antwort lautet: Nein. Über 24 Wochen erwies sich Alemtuzumab gegenüber der Interferontherapie in allen Subgruppen als gleichermassen überlegen im Hinblick auf die Entwicklung neuer Läsionen im MRI. Weder Geschlecht noch Alter, ethnische Herkunft, geografische Region, Baseline-MRI, Expanded Disability Status Scale Score oder andere klinische Parameter beeinflussten das Ausmass der Überlegenheit. Geringe Unterschiede gab es lediglich beim Endpunkt Gehirnatrophie. Hier profitierten zwar auch alle Subgruppen, jüngere Patienten mit weniger ausgeprägten MRI-Läsionen jedoch am deutlichsten (5).
Teriflunomid bei MS-Erstmanifestation Neue Daten gibt es auch zum Einsatz des oralen Immunmodulators Teriflunomid bei der Erstmanifestation der MS (klinisch isoliertes Symptom). Auf Basis der Phase-III-Studie TOPIC – die gezeigt hatte, dass Teriflunomid bei Patienten mit einer klinischen Erstmanifestation das Risiko eines Übergangs zur manifesten MS reduziert – wurde die Wirkung der Therapie auf die Leukozyten- und Lymphozytenzahl in dieser Population untersucht. Die Studie zeigte einen Rückgang der Neutrophilen- und Lymphozytenzahlen um durchschnittlich 14 Prozent, wobei die Werte jedoch im Mittel innerhalb des als normal gewerteten Bereiches blieben. Nur 3 von mehr als 600 Patienten brachen die Behandlung wegen Neutro- beziehungsweise Lymphopenie ab. Die Zellzahlen nahmen in den ersten 12 Wochen der Behandlung ab und blieben dann stabil. Es wurden keine vermehrten Infektionen registriert (6).
Neue Daten zum Einsatz von Interferon beim CIS Auch zum Einsatz der Interferone beim klinisch isolierten Symptom gibt es aktuelle Daten. So wurde auf Basis der BENEFIT-Studie untersucht, welche Faktoren sich als Prädiktoren für ein langfristiges Ausbleiben weiterer Krankheitsaktivität (sowohl klinisch als auch in der Bildgebung) eignen. Dabei erwies sich ein früher Therapiebeginn mit Interferon Beta-1b als günstiger für die Prognose über die nächsten 5 Jahre. Während bei frühem Therapiebeginn bei 14 Prozent der Patienten nach 5 Jahren keinerlei Krankheitsaktivität nachweisbar war, lag dieser Anteil bei einer Verzögerung des
Neurologie • Oktober 2014
3
CongressSelection
Therapiebeginns um durchschnittlich 1,5 Jahre bei nur 6 Prozent. Wurde lediglich die klinische Krankheitsaktivität betrachtet, blieben insgesamt 44 Prozent des Kollektivs über 5 Jahre frei von MS (7). Auch bei älteren Therapien wie den Interferonen gilt es, das theoretische Verständnis des Wirkmechanismus zu verbessern. Eine in Istanbul vorgestellte Arbeit untersuchte die Wirkung von Interferon-beta auf CD4+-Lymphozyten – und zwar konkret auf die Mitochondrien der Lymphozyten. Die Studie ergab, dass unter Einfluss von Interferon das intrazelluläre ATP in den Mitochondrien dosisabhängig abnimmt. Dies war bei anderen Immuntherapien (Glatiramerazetat, Azathioprin, Mitoxantron) nicht oder in deutlich geringerem Mass der Fall. Die Spiegel von iATP waren bei Respondern niedriger als bei Nicht-Respondern. Hinzu kam eine dosisabhängige Depolarisation des mitochondrialen Transmembranpotenzials in vivo. Reduzierte iATP-Level wurden auch mit bestimmten Genotypen in Verbindung gebracht (8).
2-Jahres-Follow-up zu Dimethylfumarat bei schubförmig verlaufender MS
Im Rahmen des EFNS/ENS-Kongresses in Istanbul wurden auch Daten des 2-Jahres-Follow-ups der Phase-III-Studien DEFINE und CONFIRM präsentiert, die die Wirksamkeit und Sicherheit von delayed-release Dimethylfumarat (DMF) bei der schubförmig verlaufenden MS untersuchten. Diese auf 5 Jahre geplante Erweiterungsstudie hat den Namen ENDORSE. Patienten, die im Rahmen von DEFINE/CONFIRM 2-mal (BID) oder 3-mal (TID) täglich DMF 240 mg erhalten hatten, setzten in ENDORSE ihr jeweiliges Regime fort. Die Patienten aus den Plazebo- und Glatiramerazetat-Gruppen von DEFINE/CONFIRM wurden ebenfalls in die BID- und TID-Gruppen randomisiert. In den ersten 2 Jahren des Follow-ups war die Mehrzahl der Patienten in den DMF-Gruppen frei von Progression in der Bildgebung. Die von Plazebo auf DMF umgestellten Patienten sprachen ebenfalls gut auf die Therapie an und zeigten im 2. Jahr von ENDORSE ebenfalls zu mehr als 70 Prozent keine Progression mehr (9).
Kaum zunehmende Behinderung unter Natalizumab Die Studie «Safety of TYSABRI® Re-dosing and Treatment» (STRATA) ist eine open-label multinationale Studie zum Einsatz von Natalizumab bei der schubförmig verlaufenden MS. Die Teilnehmer wurden aus verschiedenen randomisierten, kontrollierten Studien mit Natalizumab übernommen. In STRATA wurde die zunehmende Behinderung nach dem Expanded Disability Status Scale (EDSS) Score evaluiert. Ermittelt wurde der Anteil an Patienten mit einer bestätigten Progression auf einen EDSS-Score von ≥ 4,0 oder ≥ 6,0 im Kollektiv der Patienten mit mehr als 2 EDSS-Bewertungen. Von den insgesamt 1094 in STRATA aufgenommenen Patienten hatten 300 einen EDSS-Score ≥ 4,0 und 109 einen EDSSScore ≥ von 6,0. Wurden die Patienten aus der Studie genommen, die bereits zu Beginn einen EDSS-Score ≥ von 4,0 zeigten, so kam es in den 6 Jahren der Studie bei 56 der 617 Patienten zu einem Anstieg des EDSS-Scores auf ≥ 4,0; von 770 untersuchten Patienten erreichten 37 einen bestätigten EDSS-Score von 6,0. Die Autoren schliessen aus diesen Daten, dass es unter fortgesetzter Therapie mit Natalizumab auch langfristig nur bei weniger Patienten zu einem Fortschreiten der Behinderung kommt.
Rescueeinsatz von Alemtuzumab
In einer kleinen Beobachtungsstudie wurde der Einsatz von Alemtuzumab als Rescuetherapie bei Patienten mit aggressivem Krankheitsverlauf, die zuvor nicht auf Mitoxantron angesprochen hatten, untersucht. Die kleine Arbeit kann mittlerweile eine Beobachtungszeit von durchschnittlich 5,8 Jahren aufweisen und zeigt ein gutes Ansprechen dieser schwierigen Patienten auf Alemtuzumab. Im Jahr vor Beginn der Therapie verschlechterte sich der Zustand der Patienten deutlich. Bevor Alemtuzumab begonnen wurde, hatten die Patienten im Schnitt über 2,7 Jahre Mitoxantron erhalten. Zuvor waren Natalizumab, Methotrexat, Azathioprin, Cyclophosphamid und Fingolimod versucht worden. Unter Alemtuzumab kam es bei fast allen Patienten zumindest zu einer Stabilisierung. Nur 1 Patient verschlechterte sich, 2 brachen die Studie ab.
Reno Barth
Referenzen: 1. Matejcikova Z. Cerebrospinal fluid inflammatory markers in patients with multiple sclerosis. EFNS/ENS 2014, Abstract PP 2068. 2. Orpez-Zafra T et al. Evaluation of sIFNAR2 as a potential diagnostic biomarker of multiple sclerosis. EFNS/ENS 2014, Abstract PP4149. 3. Khalil M et al. Dynamics of brain iron accumulation differ between clinically isolated syndrome and multiple sclerosis: a longitudinal 3T MRI study. EFNS/ENS 2014, Abstract OS2121. 4. Hegen H et al. Serum biomarkers predict IFNb treatment response in patients with multiple sclerosis. EFNS/ENS 2014, Abstract OS2120. 5. Barkhof F et al. Alemtuzumab demonstrates improvement in MRI outcomes across baseline subgroups versus subcutaneous interferon beta-1a in relapsing-remitting multiple sclerosis patients who relapsed on prior therapy. EFNS/ENS 2014, Abstract EP 1143. 6. Comi G et al. The effect of teriflunomide on lymphocyte and neutrophil count in patients with a first clinical episode consistent with multiple sclerosis: results from the TOPIC study. EFNS/ENS 2014, Abstract EP1145. 7. Freedman MS et al. Predictors of freedom from detectable disease activity in patients with clinically isolated syndrome treated with interferon beta-1b in the BENEFIT trial. EFNS/ENS 2014, Abstract EP1148 Faissner S et al. Interferon-beta specifically affects mitochondrial activity in CD4+- lymphocytes: potential mechanism of action. EFNS/ENS 2014, Abstract EP1147. 8. Arnold DL et al. 4-year follow-up of delayed-release dimethyl fumarate treatment in relapsing-remitting multiple sclerosis (RRMS): integrated MRI outcomes from DEFINE, CONFIRM, and the ENDORSE extension study. EFNS/ENS 2014, Abstract EP1150. 9. Goodman A et al. Assessment of disability status with longterm natalizumab treatment in the STRATA study. EFNS/ENS 2014, Abstract EP1151. 10. Le Page E et al. Alemtuzumab as rescue therapy in a cohort of 15 aggressive multiple sclerosis patients previously treated by Mitoxantrone: an observational study. EFNS/ENS 2014, Abstract EP2128.
4 Neurologie • Oktober 2014