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Therapie der Migräne
Die Akutmedikation unter Kontrolle bringen
Chronische Kopfschmerzen stellen für die betroffenen Patienten, aber durchaus auch für die behandelnden Ärzte eine erhebliche Belastung dar. Ein zentrales Problem in diesem Zusammenhang ist in vielen Fällen der Übergebrauch von Analgetika.
In der Behandlung chronischer Kopfschmerzen stehen im Wesentlichen drei Strategien zur Verfügung, so Prof. Dr. med. Jean Schoenen, CHR de la Citadelle, Liège, Belgien: • Medikamente • nicht medikamentöse Therapien – in der Regel aus dem Be-
reich der Physiotherapie • die Neurostimulation. Schoenen: «Bei einem grossen Teil der Patienten muss man zumindest zwei dieser Strategien kombinieren.» Dabei bezieht sich der Experte auf die am stärksten unter Kopfschmerzen leidenden Patienten. Von chronischem Kopfschmerz spricht man bei mehr als 15 Schmerztagen im Monat über mindestens 3 Monate. Dermassen häufige Kopfschmerzen sind nicht selten und betreffen rund 3 bis 4 Prozent der Gesamtbevölkerung. Die häufigste Form des chronischen Kopfschmerzes ist die chronische Migräne. Ebenfalls nicht selten ist der chronische Spannungskopfschmerz. Clusterkopfschmerzen – die wichtigste Form der trigeminoautonomen Kopfschmerzen – können ebenfalls mit grosser Häufigkeit auftreten und werden von den Betroffenen als besonders quälend empfunden («suicidal headache»). Neben diesen primären gibt es auch eine Reihe von sekundären Kopfschmerzformen, unter denen dem durch chronischen Schmerzmittelgebrauch verursachten Kopfschmerz besondere Bedeutung zukommt.
Chronifizierung ist keine Einbahnstrasse Für die chronische Migräne ist eine neue Klassifikation in Gebrauch (ICHD-3 beta), die neben den 15 Tagen Kopfschmerz im Monat fordert, dass der Patient insgesamt bereits mehr als 5 Attacken von Migräne mit oder ohne Aura gehabt haben muss. An mindestens 8 Tagen im Monat müssen die Kopfschmerzen die Kriterien von Migräne mit oder ohne Aura erfüllen oder zur Einnahme eines Triptans oder Ergotamins führen. Schoenen: «Das betrifft rund 2 Prozent der Bevölkerung, ist also keineswegs selten.» Bei der Migräne ist Chronifizierung keine Einbahnstrasse. Studien zeigen, dass innerhalb eines Jahres etwa 3 Prozent der Migräneerkrankungen chronisch werden, dass sich aber in der gleichen Zeit rund die Hälfte der Fälle von chronischer Migräne wieder zur episodischen Migräne rückbilden (1). Zahlreiche Faktoren sind bekannt, die eine Chronifizierung fördern beziehungsweise einer Remission im Wege stehen. Eine hohe Schmerzhäufigkeit ist in jeder Hinsicht ungünstig, ebenso wie Medikamenten- oder Koffeinübergebrauch. Dementsprechend kommt der Prävention und Therapie von Medikamentenübergebrauch auch eine wichtige Rolle bei der
Prävention der Chronifizierung zu. Zumindest als Alarmsignal sollte eine Einnahme von Akutschmerzmedikation an mehr als 10 Tagen im Monat gewertet werden. Als problematisch haben sich Kombinationen von Analgetika und Triptanen erwiesen, wenn möglich ist bei Migränepatienten NSAR der Vorzug zu geben. Schoenen: «Bei Patienten mit leichter bis moderater Migräne haben sich NSAR als genauso gut wirksam erwiesen wie Triptane. Nur bei der schweren Migräne sind Triptane besser.» Darüber hinaus reduzieren NSAR zumindest bei Patienten mit bis zu 8 Attacken pro Monat das Risiko der Chronifizierung. Triptane und kombinierte Analgetika haben diesen Effekt nicht (2). Naproxen hat sich in der Behandlung der akuten und chronischen Migräne im Vergleich zur Kombination aus Naproxen und Sumatriptan als überlegen erwiesen (3). Laut einer dänischen Studie sollte bei Patienten mit Medikamentenübergebrauch und chronischer Migräne zugleich mit dem Absetzen der Akutmedikation eine medikamentöse Attackenprophylaxe begonnen werden (4).
Medikamentöse Attackenprophylaxe wenig wirksam Die medikamentöse Vorbeugung von Attacken habe sich hingegen, so Schoenen, als nur mässig erfolgreich erwiesen. Die verschiedenen in dieser Indikation eingesetzten Medikamente sind schon bei der episodischen Migräne nur zu etwas mehr als 50 Prozent wirksam und haben zum Teil erhebliche Nebenwirkungen. Bei der chronischen Migräne ist die Wirkung noch schlechter. Lediglich Topiramat kann noch als wirksam eingestuft werden, alle anderen Medikamente sind entweder wirkungslos oder wurden nicht in Studien untersucht. Einen entscheidenden Schritt vorwärts könnten, so Schoenen, monoklonale Antikörper gegen das Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP) bedeuten. Einige dieser Biologicals werden in der Behandlung der Migräne untersucht. Die am weitesten erforschten haben in Phase-II-Studien anhaltende Wirkung über mehrere Wochen gezeigt (5).
Noch wenig Evidenz zu weiteren Optionen Wenn die klassischen medikamentösen Massnahmen nichts helfen, bleiben bei der chronischen Migräne nicht mehr viele Optionen beziehungsweise besteht zu den verbleibenden Optionen lediglich begrenzte Evidenz. Für Botoxinjektionen konnte in einer einzigen Studie eine Reduktion der Schmerztage bei Patienten mit chronischer Migräne nachgewiesen werden (6). Innerhalb von 24 Wochen wurde eine Schmerzreduktion um 8 Tage erreicht. Zu bemerken war allerdings auch eine anhaltende und deutliche Plazebowirkung mit 6 Ta-
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gen Schmerzreduktion. Angesichts der vielen offenen Fragen ist Schoenen der Ansicht, dass die Methode gegenwärtig nur in spezialisierten Zentren eingesetzt werden sollte. Auch einige Verfahren zur Neurostimulation wurden bei therapieresistenter Migräne untersucht. Mehrere Arbeiten beschäftigen sich mit der Occipitalisstimulation und konnten auch Effekte beobachten. Allerdings ist die Aussagekraft dieser Daten in Diskussion. Schoenen: «Meiner Meinung nach fehlt eine Arbeit, die zeigt, dass die Methode wirkt beziehungsweise dass sie so gut wirkt wie beim Clusterkopfschmerz.» Untersucht werden ebenfalls transkraniale Verfahren. Hier könnten nach anfänglichen Misserfolgen neue Einsichten in die Pathophysiologie der chronischen Migräne in naher Zukunft zu einsatzfähigen Verfahren führen.
Kopfschmerz und Medikamentenübergebrauch Eine Reihe aktueller, im Rahmen des Joint Congress of European Neurology in Istanbul präsentierte Arbeiten beschäftigten sich mit dem Problemfeld Kopfschmerz und Medikamentenübergebrauch (Medication Overuse Headache, MOH). Wie häufig MOH ist, zeigte eine prospektive Arbeit der Universitätsklinik Valladolid in Spanien, die die klinischen und demografischen Charakteristika von Patienten mit chronischer Migräne untersuchte. Ausgewertet wurden die Daten von 150 Patienten, die von Januar 2013 bis Anfang 2014 der Kopfschmerzambulanz zugewiesen wurden. Studienautorin Dr. Marina Ruiz Pinero: «Medikamentenübergebrauch und belastende Ereignisse sind unter den von chronischer Migräne Betroffenen verbreitete Risikofaktoren. Wir konnten sehen, dass die bisherige Verwendung von prophylaktischen Medikamenten und Triptanen unzureichend ist.» In 70 Prozent der Fälle wurde Medikamentenübergebrauch diagnostiziert, bei 42 Prozent der Patienten wurden belastende Ereignisse, bei 12 Prozent affektive Störungen und bei 6 Prozent Adipositas als Risikofaktoren gefunden (7). Dass die Kopfschmerzen infolge von Medikamentenübergebrauch bei richtiger Behandlung eine gute Prognose haben, zeigt eine Studie der Katip-Celebi-Universität in Izmir. Untersucht wurde die langfristige Wirksamkeit eines strukturierten Entgiftungsprogramms. Dieses erwies sich als voller Erfolg: 77 Prozent der Studienteilnehmer hatten 12 Jahre nach dem
Therapieprogramm nach wie vor keine chronischen Kopfschmerzen mehr, bei 20 Prozent wurde eine Reduktion der Kopfschmerzen um mehr als 50 Prozent erreicht. Nur bei 3 Prozent der Teilnehmenden war die Behandlung langfristig ein Misserfolg. «Die Langzeitverlaufsstudie zeigte einen deutlichen Rückgang in der Häufigkeit von MOH. Patienten, die zuvor als behandlungsresistent galten, profitierten von einer multidisziplinären Therapie und einer engen Verlaufskontrolle», so Studienautor Dr. med. Yesim Y. Beckmann (9).
Reno Barth
Literatur: 1. Scher AI et al. Factors associated with the onset and remission of chronic daily headache in a population-based study. Pain. 2003; 106 (1–2): 81–89. 2. Bigal ME et al. Acute migraine medications and evolution from episodic to chronic migraine: a longitudinal population-based study. Headache. 2008; 48 (8): 1157–1168. 3. Cady R et al. SumaRT/Nap vs naproxen sodium in treatment and disease modification of migraine: a pilot study. Headache. 2014; 54 (1): 67–79. 4. Hagen K et al. Management of medication overuse headache: 1-year randomized multicentre open-label trial. Cephalalgia. 2009; 29 (2): 221–232. 5. Dodick DW et al. Safety and efficacy of LY2951742, a monoclonal antibody to calcitonin gene-related peptide, for the prevention of migraine: a phase 2, randomised, double-blind, placebo-controlled study. Lancet Neurol. 2014; 3 (9): 885–892. 6. Diener HC et al. OnabotulinumtoxinA for treatment of chronic migraine: results from the double-blind, randomized, placebo-controlled phase of the PREEMPT 2 trial. Cephalalgia. 2010; 30 (7): 804–814. 7. Ruiz Piñero M et al. Chronic migraine: characteristics in a prospective headache registry. EFNS/ENS 2014, EP1245. 8. Antonaci et al. Monitoring the use of symptomatic drugs in headache: a population study. EFNS/ENS 2014, EP3243. 9. Beckmann Y et al. Medication overuse headache: a 12-year followup study of 77 patients. EFNS/ENS 2014, EP1233.
Quelle: Joint Congress of European Neurology, «Strategies in the Management of Chronic Headache Patients», Postersessions; 31. Mai bis 3. Juni 2014 in Istanbul. EFNS/ENS-Presseaussendung.
Fachärztliche Betreuung statt Selbstmedikation
Frühe und kompetente medizinische Betreuung ist der vielleicht wichtigste Faktor in der Prävention von Schmerzmittelabusus. So zeigt eine aktuelle Studie der Universität Pavia, dass die fachärztliche Behandlung einer Selbstmedikation bei Kopfschmerzen vorzuziehen ist. Für die Studie wurden 274 Patienten mit symptomatischer Kopfschmerzmedikation in Apotheken rekrutiert und von der Selbstmedikation in ein betreutes Therapieverhältnis übernommen. Bei fachärztlicher Führung konnte die Kopfschmerzdauer der Patienten, die zuvor auf Selbstmedikation zurückgegriffen hatten, innerhalb der ersten 3 Behandlungsmonate mehr als halbiert werden. Parallel dazu nahmen die Intensität der Kopfschmerzen und die Dosis der monatlichen Analgetika ab. «Die Ergebnisse belegen, dass der Wechsel von der Selbstmedikation zur ärztlichen Betreuung die Anzahl der symptomatischen Behandlung und die Zahl der monatlichen Kopfschmerzattacken reduzieren sowie die Lebensqualität der Patienten mit Kopfschmerzen verbessern kann», so Studienautor Prof. Dr. med. Fabio Antonaci auf dem EFNS/ENSKongress in Istanbul (8).
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