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ECTRIMS/ACTRIMS: Highlights vom weltgrössten MS-Kongress
Multiple Sklerose – Neues aus Forschung und Praxis
Mehr als 8500 MS-Spezialisten aus Forschung und Klinik trafen sich Mitte September auf dem weltweit grössten MS-Kongress, der gemeinsam von der Europäischen (ECTRIMS) und der Amerikanischen (ACTRIMS) Fachgesellschaft zur Behandlung und Erforschung der Multiplen Sklerose (European/American Committee for Treatment and Research in Multiple Sclerosis) in Boston veranstaltet wurde. In mehr als 1000 Vorträgen und Postern wurden die neuesten Erkenntnisse aus Klinik und Grundlagenforschung vorgestellt, hier eine kleine Auswahl.
DECIDE-Studie: Anti-CD25-Antikörper verringert die Schubrate
Bei der Multiplen Sklerose (MS) spielen autoreaktive T-Zellen eine wichtige Rolle. Die Aktivität dieser Zellen wird unter anderem durch Interleukin-2 (IL-2) verstärkt. Daclizumab ist ein humanisierter monoklonaler Antikörper, der an CD25-Rezeptoren antagonistisch wirkt und immunologische Prozesse beeinflusst, die bei MS eine Rolle spielen. Bei einer Modifikation des Antikörpers (Daclizumab high yield process, DAC HYP) wurde das Glykosylierungsprofil geändert, um die zelluläre Zytotoxizität zu verringern. Auf dem ECTRIMS/ACTRIMS stellt Prof. Dr. med. Ludwig Kappos, Universitätsspital Basel, die primären Ergebnisse der Phase-III-Studie DECIDE vor (1). Die randomisierte kontrollierte Doppelblindstudie ging der Frage nach, ob Daclizumab HYP (Daclizumab high yield process, DAC HYP) bei mehr als 1800 Patienten mit schubförmiger MS (RRMS) über 2 Jahre mehr Schübe verhindert als Interferon beta-1a. Die Studie erreichte ihren primären Endpunkt: DAC HYP reduzierte die jährliche Schubrate (primärer Endpunkt) im Vergleich zu Interferon beta-1a um signifikant 45 Prozent (95%Konfidenzintervall [95%-KI] 35,5–53,1%, p < 0,0001) (Abbildung 1). Nach 144 Wochen waren noch 67 Prozent der mit DAC HYP behandelten Patienten schubfrei, aber nur 51 Prozent der Interferon-beta-1a-Patienten. Auch im Hinblick auf radiologische Parameter war DAC HYP überlegen (Reduktion neuer bzw. vergrösserter T2-Läsionen um 54%, p < 0,0001). Die Behinderungsprogression war nach 3 Monaten um 16 Prozent reduziert (p = 0,16), nach 6 Monaten um 27 Prozent (p = 0,0332). Die Abnahme des Hirnvolumens über 2 Jahre war signifikant geringer unter DAC HYP (p < 0,0001). Im Hinblick auf die Therapiesicherheit bestätigte sich das bekannte Nebenwirkungsprofil von DAC HYP, und die Nebenwirkungen waren gut zu behandeln. Fazit: DAC HYP könnte in Zukunft eine vielversprechende Therapieoption für Patienten mit RRMS werden, resümierte Kappos.
Erhalt des Hirnvolumens: Vierter Schlüsselparameter der Krankheitsaktivität
Das zentrale Behandlungsziel bei schubförmiger MS (RRMS) ist die Eindämmung der Krankheitsaktivität (no evidence of disease activity, NEDA), bisher gemessen anhand der 3 Schlüs-
selparameter Schubfreiheit, MRT-Aktivität und Behinderungsprogression (NEDA-3). Neue Daten sprechen dafür, dem bisherigen NEDA-Trio den Erhalt des Hirnvolumens als viertes Kriterium hinzuzufügen, denn die Hirnatrophie gilt als Prädiktor für eine langfristige Krankheitsprogression (2). Die Aufnahme der Hirnatrophie als weiteres NEDA-Kriterium (NEDA-4) erlaubt eine ausgewogenere Einschätzung der Krankheitsaktivität sowohl auf MRT- als auch auf klinischer Ebene, so Kappos. Eine langfristig erfolgreiche Behandlung der RRMS sollte daher alle 4 wichtigen Schlüsselparameter günstig beeinflussen, die zur Kontrolle der Krankheitsaktivität notwendig sind: Neben Schubrate, Behinderungsprogression und MRT-Aktivität auch Hirnatrophierate. Fingolimod stellte seine Wirkung auf die Krankheitsaktivität nach NEDA3 in einer gepoolten Analyse der Studien FREEDOMS und FREEDOMS II unter Beweis. Daten aus Phase-III-Studien belegen, dass es die Hirnatrophierate im Vergleich zu Plazebo sowie zu Interferon beta-1a i.m. konsistent und si-gnifikant um jeweils mehr als 30 Prozent senkt (alle p < 0,001). Neue Daten, die Kappos auf dem ECTRIMS/ACTRIMS vorstellte, untermauern, dass Fingolimod die Krankheitsaktivität auf allen Ebenen wirksam eindämmt. So wurde bei den damit behandelten Patienten signifikant häufiger eine Krankheitskontrolle nach NEDA-4 erreicht (Abbildung 2). Bei einem zugrunde gelegten Schwellenwert von 0,4 Prozent erreichten in der Fingolimod-Gruppe 4-mal mehr Patienten NEDA-4 als in der Plazebogruppe (19,7% vs. 5,3%; Odds ratio [OR] 4,41;p < 0,0001).
Abbildung 1: Signifikante Reduktion der jährlichen Schubrate um 45 Prozent unter DAC HYP im Vergleich zu Interferon beta-1a (nach 1).
Neurologie • Oktober 2014
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Abbildung 2: Mit Fingolimod erreichten 4-mal mehr Patienten NEDA-4 als mit Plazebo (nach 2).
Raucher entwickeln doppelt so häufig Antikörper gegen Natalizumab Rauchen schadet nicht nur Lungen und Herz-Kreislauf, sondern darüber hinaus haben rauchende MS-Patienten offensichtlich auch ein erhöhtes Risiko, Antikörper gegen Natalizumab zu entwickeln. Dies zeigen neue Forschungen der Arbeitsgruppe um Prof. Dr. med. Tomas Olsson, Stockholm, Schweden (3). Bereits frühere Untersuchungen zeigten, dass Rauchen das Risiko erhöht, an MS zu erkranken. Bei schweren Rauchern stieg das Risiko bis auf das 3-Fache. Oraler Tabakkonsum (Schnupf- oder Kautabak) vermindert dagegen das MS-Risiko
Forschungsoffensive für progrediente MS
Langfristige Investitionen und gebündelte Kräfte Kräfte bündeln und Barrieren beseitigen, um die Entwicklung von Therapien der progressiven Multiple Sklerose zu beschleunigen: Mit diesem Ziel hat die International Progressive MS Alliance auf dem ECTRIMS/ACTRIMS-Kongress die ersten 22 Stipendien für Forscher aus neun Ländern vorgestellt.
Mit dieser ersten Förderphase fällt der Startschuss zu einem ehrgeizigen Programm, das 22 Millionen Euro im Laufe der nächsten sechs Jahre in Forschungsprojekte investieren wird. Mithilfe der globalen Förderprogramme der Alliance sollen laufende Studien unterstützt und zudem neue Forschungsmassnahmen auf den Weg gebracht werden. «Zum ersten Mal stellen MS-Gesellschaften aus aller Welt ohne Rücksicht auf geografische Grenzen gemeinsam Mittel zur Verfügung, um die im Bereich der progredienten MS so dringend benötigten neuen Erkenntnisse zu finanzieren», betont Cynthia Zagieboylo, Vorsitzende des Leitungsausschusses der Alliance und CEO der US-amerikanischen «National MS Society». Die Resonanz ist gross: Insgesamt 195 eingegangene innovative Forschungsvorschläge aus weltweit 22 Ländern untermauern die Notwendigkeit und die Zündkraft dieser Initiative. KW
Mehr Infos unter: www.ProgressiveMSAlliance.org
(OR 0,5–0,9). Dies deutet auf eine Lungenirritation als ursächlichen Faktor hin. So konnte gezeigt werden, dass Rauchen mit HLA-Genen interagiert, die zu MS prädisponieren. Dies legt eine lokale Antigenpräsentation und Aktivierung von reaktiven T-Zellen im ZNS nahe, was die MS-Entstehung triggert. Die Auswertung von 1338 mit Natalizumab behandelten Patienten zeigte nun, dass bei Rauchern im Vergleich zu Nichtrauchern ein mehr als doppelt so hohes Risiko besteht, Antikörper gegen Natalizumab zu entwickeln. Bei Patienten, die zum Zeitpunkt des Screenings rauchten, lag die Odds ratio (OR) bei 2,4 (95%-KI 1,2–4,4). Dabei korrelierte das Risiko eng mit dem Zigarettenkonsum. Berücksichtigte man das Rauchverhalten in den zwei Jahren vor dem Screening, stieg die OR auf 2,7 (95%-KI 1,5–5,1). Diese Ergebnisse bestärken die Hypothese, dass die Lunge ein wichtiges immunreaktives Organ ist, betonte Olson.
Hungern gegen MS? Übergewichtige erkranken häufiger an MS als Normalgewichtige, hiess es in der Plenary Session (4). In der Nurses’ Health Study erkrankten Frauen, die bereits mit 18 Jahren einen BMI über 30 aufwiesen, in den folgenden Jahren mehr als doppelt so oft an einer MS wie Normalgewichtige. In einer schwedischen Studie war das Erkrankungsrisiko bei einem BMI von 27 bis 29 verdoppelt und bei einem BMI von 23 bis 25 bereits um 20 Prozent höher. Die Risikoerhöhung betraf vor allem adipöse Mädchen, für Jungen zeigte sich nur ein Trend, so Dr. med. Ruth Ann Marrie, Winnipeg, Kanada. Zytokine aus dem Fettgewebe könnten eine Rolle bei der MSEntwicklung spielen. Leptin aktiviert offenbar Makrophagen und unterstützt die Produktion proinflammatorischer Botenstoffe wie TNF-alpha sowie Interleukin 12 und 18. Es fördert die T-Zell-Proliferation und hemmt zugleich die regulatorischen T-Zellen, berichtete Dr. med. Anne Cross, Saint Louis, MO, USA. Dagegen hemmt Adiponektin die TNF-alpha-und NF-Kappa-B-Synthese von Makrophagen und bremst die Makrophagenentwicklung aus myeloischen Vorläuferzellen. Hungern scheint über hohe Adiponektinspiegel dazu beizutragen, autoaggressive T-Zellen zu «entschärfen», während Übergewicht das Gegenteil bewirkt. Eine neue Studie geht nun der Frage nach, ob sich eine kalorienreduzierte Diät bei übergewichtigen MS-Patientinnen günstig auf den Krankheitsverlauf auswirkt.
Kirsten Westphal
Literatur: 1. Kappos L et al. Primary results of DECIDE: a randomized, doubleblind, double-dummy, active-controlled trial of daclizumab HYP vs. Interferon β-1a in RRMS patients. FC1.1, ECTRIMS/ACTRIMS 2014 in Boston. 2. Kappos L et al. Inclusion of brain volume loss in a revised measure of multiple sclerosis disease-activity freedom: the effect of fingolimod. FC1.5, ECTRIMS/ACTRIMS 2014 in Boston. 3. Olsson T et al. Smokers run increased risk of developing antinatalizumab antibodies. PS5.4, ECTRIMS/ACTRIMS 2014 in Boston. 4. «Comorbidities and risk behaviors», Plenary Session 5, ECTRIMS/ ACTRIMS 2014 in Boston.
Quelle: Joint ACTRIMS-ECTRIMS Meeting vom 10. bis 3. September 2014 in Boston, MA, USA.
10 Neurologie • Oktober 2014