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Neue Kardiologieleitlinien: Konsequenzen für die Praxis
Die beiden im letzten Jahr publizierten Leitlinien der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie (ESC) zum Management von Bluthochdruck und koronarer Herzkrankheit (KHK) waren ein bedeutendes Thema der diesjährigen gemeinsamen Tagung der SGIM und der ESCIM. Im Rahmen eines Satellitensymposiums referierten namhafte Experten über die Neuerungen der Leitlinien und erläuterten die damit verbundenen Herausforderungen für die Praxis.
Hypertoniebehandlung: bei jüngeren Patienten frühzeitige Intervention prüfen
Laut aktuellen Leitlinien zur Hypertoniebehandlung ist für die Patientenmehrheit ein Zielblutdruck von < 140/90 mmHg massgebend (1). Für einzelne Patientengruppen gelten jedoch Abweichungen: Bei Diabetikern liegt der Zielwert für den diastolischen Blutdruck bei < 85 mmHg. Für Patienten mit chronischer Nierenerkrankung gilt der allgemeine Zielwert (140/90 mmHg) mit Ausnahme von Fällen schwerer Proteinurie, für diese Patienten eine Reduktion des systolischen Zielwerts auf < 130 mmHg empfohlen. Die Leitlinien machen zudem beim Alter Unterschiede: So weisen sie bei älteren Patienten ≥ 80 Jahre einen systolischen Blutdruck von 140 bis 150 mmHg als tolerierbar aus. Allerdings sollte der Aktivitätsgrad und der allgemeine Gesundheitszustand des Patienten bei der Entscheidung über eine Intervention mit einbezogen werden, führte Prof. Dr. med. Michel Burnier, Lausanne, weiter aus. Bei Patienten < 80 Jahre mit guter Konstitution könne daher eine Reduktion des systolischen Blutdrucks auf den allgemeinen Zielwert (< 140 mmHg) in Betracht gezogen werden. Hinsichtlich jüngerer Patienten (ab 40 Jahren) sei die Studienlage dagegen nach wie vor lückenhaft, und Fragen der täglichen Praxis blieben offen, so Burnier weiter. Gerade bei jüngeren Patienten sei dem Fortschreiten von Herz-KreislaufErkrankungen durch frühzeitige Intervention Rechnung zu tragen. Eine Behandlungsentscheidung sollte zudem Faktoren wie Bewegungsmangel, viszerale Fettleibigkeit oder auffällige Stoffwechselparameter berücksichtigen. Dementsprechend könne eine Intervention – beginnend mit Lebensstiländerungen – auch bei jüngeren Patienten mit geringem kardiovaskulärem Gesamtrisiko bereits ab einem Grad-1-Bluthochdruck sinnvoll sein, schlussfolgerte der Referent.
Stabile KHK – Medikamente in Betracht ziehen und perkutane Intervention gut abwägen
Bei Patienten mit stabiler KHK und guter Leistungsfähigkeit sowie vergleichsweise guter Herzfunktion stellt sich laut PD Dr. med. Jean-Paul Schmid, Bern, die Frage, inwieweit die Behandlung der Beschwerden mittels perkutaner Koronarintervention (PCI) sinnvoll ist. So verglich die COURAGE-Studie den längerfristigen Nutzen einer PCI plus medikamentöser Behandlung mit demjenigen einer ausschliesslich medikamentösen Behandlung (2). Eingeschlossen waren 2287 Pa-
tienten mit myokardialer Ischämie und klinisch signifikanter KHK. Das Ergebnis: Hinsichtlich des Risikos für Tod und Myokardinfarkt ergaben sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Studienarmen (HR = 1,05; p = 0,62). Auch bezüglich weiterer kardiovaskulärer Ereignisse (z.B. akutes Koronarsyndrom) war zwischen den beiden Behandlungsstrategien kein signifikanter Unterschied zu ermitteln. Laut derzeitiger Datenlage sei eine optimale medikamentöse Therapie einer PCI beim genannten Patiententyp zumindest nicht unterlegen, folgerte Schmid, legte dabei aber Wert darauf, dass dies die chronische Angina betreffe, nicht das akute Koronarsyndrom. Bei der Entscheidung zwischen invasiver und konservativer Behandlung sollten immer auch die Risiken einer PCI in Betracht gezogen werden. Selbst bei Verwendung moderner, medikamentenfreisetzender Stents ist beispielsweise das 4-Jahres-Risiko für das Auftreten einer nachgewiesenen oder vermuteten Stentthrombose von 5,7 Prozent bei der Therapieentscheidung nicht zu vernachlässigen (3).
Second-Line-Therapie je nach Komorbiditäten und Präparateverträglichkeit vorziehen
Gemäss dem Diagnoseschema der aktuellen Leitlinien entscheidet ab einer Vortestwahrscheinlichkeit von 15 Prozent die 1-Jahres-Mortalitätsrate über das weitere Vorgehen (4): So sind bei einer geschätzten Mortalitätsrate von ≥ 3 Prozent invasive Behandlungsstrategien empfohlen. Doch wie kann die jährliche Mortalitätsrate eines Patienten verlässlich bestimmt werden? Eine Abschätzung dieses Parameters ermöglicht beispielsweise der Duke-Treadmill-Score, der auf ST-Segmentabweichung und potenziellem Auftreten einer Angina unter physischer Belastung basiert (5). Eine andere Option bietet die Bestimmung der Ausdehnung ischämischer Areale des Herzgewebes mittels bildgebender Verfahren wie zum Beispiel die Myokardszintigrafie. Laut klinischer Untersuchungen ist bei einem Anteil des ischämischen Gewebes von < 10 Prozent die ausschliesslich medikamentöse Behandlung einer Revaskularisation hinsichtlich der Mortalitätsrate überlegen (6). Ein höherer Anteil des betroffenen Gewebes (> 10%) spricht hingegen für die invasive Strategie. Zur Vorbeugung kardiovaskulärer Ereignisse bei chronischer KHK empfehlen die Leitlinien zunächst eine Anpassung des Lebensstils (physische Aktivität, gesunde Ernährung, Raucherentwöhnung). Die medikamentöse Prävention basiert
46 Hausarztmedizin • September 2014
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Tabelle:
Beginn mit Lifestylemassnahmen und medikamentöser Therapie
Andere Risikofaktoren, asymptomatische Organschäden oder Krankheiten Keine anderen RF
1–2 RF
≥ 3 RF
OD, CKD Grad 3 oder Diabetes
Hochnormal systolisch 130–139 diastolisch 85/89
Blutdruck (mmHg) Grad–I–HT
systolisch 140–159 diastolisch 90–99
keine Blutdrucktherapie
Lifestylemassnahmen, keine
Blutdrucktherapie
Lifestylemassnahmen, keine
Blutdrucktherapie
Lifestylemassnahmen, keine
Blutdrucktherapie
Lifestylemassnahmen für einige Monate,
dann Medikamente Ziel: < 140/90 mmHg
Lifestylemassnahmen für einige Wochen,
dann Medikamente Ziel: < 140/90 mmHg
Lifestylemassnahmen für einige Wochen,
dann Medikamente Ziel: < 140/90 mmHg
Lifestylemassnahmen, Medikamente
Ziel: < 140/90 mmHg
Grad-II-HT systolisch 160–179 diastolisch 100–109
Lifestylemassnahmen für einige Wochen,
dann Medikamente Ziel: < 140/90 mmHg Lifestylemassnahmen für
einige Wochen, dann Medikamente Ziel: < 140/90 mmHg Lifestylemassnahmen,
Medikamente Ziel: < 140/90 mmHg
Lifestylemassnahmen, Medikamente
Ziel: < 140/90 mmHg
Grad-III-HT systolisch ≥ 180 diastolisch ≥ 110
Lifestylemassnahmen, sofort Medikamente
Ziel: < 140/90 mmHg
Lifestylemassnahmen, sofort Medikamente
Ziel: < 140/90 mmHg
Lifestylemassnahmen, sofort Medikamente
Ziel: < 140/90 mmHg
Lifestylemassnahmen, sofort Medikamente
Ziel: < 140/90 mmHg
Symptomat. CVD, CKD Grad ≥ 4 oder Diabetes mit OD/RF
Lifestylemassnahmen, keine
Blutdrucktherapie
Lifestylemassnahmen, Medikamente
Ziel: < 140/90 mmHg
Lifestylemassnahmen, Medikamente
Ziel: < 140/90 mmHg
Lifestylemassnahmen, sofort Medikamente
Ziel: < 140/90 mmHg
CKD: chronische Nierenerkrankung; CVD: kardiovaskuläre Erkrankung; HT: Hypertonie; OD: Organschäden; RF: Risikofaktor
nach wie vor primär auf ASS, Statinen sowie ACE-Hemmern. Zusätzlich zu dieser Basistherapie werden zur First-LineBehandlung der Angina pectoris kurz wirkende Nitrate in Kombination mit Betablockern oder Kalziumkanalblocker empfohlen. Je nach Kontraindikationen, Komorbiditäten und Verträglichkeit dieser Wirkstoffe können jedoch Präparate, die bei unzulänglicher Symptomkontrolle für die Second-LineTherapie vorgesehen sind, in der First-Line-Behandlung bevorzugt werden. Die wahrscheinlich vorteilhaftesten Wirkstoffe dieser Gruppe sind – laut Schmid – Ranolazin, Nicorandil und lang wirksame Nitrate.
Klaus Karp
Referenzen: 1. ESH/ESC Task Force for the Management of Arterial Hypertension: 2013 Practice guidelines for the management of arterial hypertension of the European Society of Hypertension (ESH) and the European Society of Cardiology (ESC): ESH/ESC Task Force for the Management of Arterial Hypertension. J Hypertens 2013; 31 (10): 1925–1938. 2. Boden WE et al. Optimal medical therapy with or with out PCI for stable coronary disease. N Engl J Med 2007; 356: 1503–1516. 3. Wenaweser P et al. Incidence and correlates of drug-eluting stent thrombosis in routine clinical practice. 4-year results from a large 2-in-
stitutional cohort study. J Am Coll Cardiol 2008; 52 (14): 1134–1140. 4. Montelascot et al. 2013 ESC guidelines on the management of stable coronary artery disease: the Task Force on the management of stable coronary artery disease of the European Society of Cardiology. Eur Heart J 2013; 34 (38): 2949–3003. 5. 2013 ESC guidelines on the management of stable coronary artery disease – addenda. Originally published by Mark DB et al.: Prognostic value of a treadmill exercise score in outpatients with suspected coronary artery disease. N Engl J Med 1991; 325 (12): 849–853. 6. 2013 ESC guidelines on the management of stable coronary artery disease – addenda. Originally published by Hachamovitch R et al. Comparison of the short-term survival benefit associated with revascularization compared with medical therapy in patients with no prior coronary artery disease undergoing stress myocardial perfusion single photon emission computed tomography. Circulation 2003; 107 (23): 2900–2907.
Quelle: « Kontroverse Patientenfälle in der Hausarztpraxis: Helfen die neuen ESC/SHG-Guidelines? – eine interaktive Expertendiskussion», Satellitensymposium A. Menarini AG, im Rahmen der European and Swiss Conference of Internal Medicine, ESCIM, 14. bis 16. Mai 2014 in Genf.
Das gesamte Symposium finden Sie unter: vascordhct.ch; Benutzername: vascord; Passwort: hct, Passwort (Film): menarini
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