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Frauengesundheit: Gender auf der Agenda
Unterschiede von Männern und Frauen sind auch in der Medizin bestens bekannt. Besonders deutlich treten sie bei kardiovaskulären Erkrankungen in Erscheinung: So haben Frauen eine höhere Mortalität nach Herzinfarkt oder Bypass-Operation sowie häufiger offene Koronararterien bei akutem Koronarsyndrom. Dennoch werden in der Forschung nach wie vor überwiegend männliche Probanden eingesetzt, mit der Folge, dass bei Frauen eine weniger evidenzbasierte Medizin zum Einsatz kommt, kritisieren Expertinnen – mit weitreichenden Auswirkungen.
S eit Jahrzehnten sind Unterschiede in der Physiologie von Männern und Frauen wie Variationen in der Genexpression, höhere Suszeptibilität für Arzneimittelnebenwirkungen bei Frauen oder hormonelle Unterschiede bestens bekannt, erklärt Dr. med. Ute Seland vom Institut für Geschlechterforschung in der Medizin (GIM) an der Charité Berlin. Männer und Frauen haben andere Krankheitsmanifestationen und Pathophysiologien, zeigen ein anderes Ansprechen auf die Therapie, ein anderes Risikobewusstsein und andere Einstellungen gegenüber Ärzten, «was im Management von Krankheiten berücksichtigt werden sollte».
Betrug an der weiblichen Gesundheit «Typisch Frau» in der prämenopausalen Lebensphase sind beispielsweise Depression oder Autoimmunerkrankungen, postmenopausal treten oft Morbus Alzheimer, Osteoporose, koronare Herzkrankheit, Diabetes oder diastolische Herzinsuffizienz auf. Männer sind hingegen typischerweise eher von Erkrankungen der Nieren oder Koronararterien betroffen, häufig sind auch plötzlicher Tod, systolische Herzinsuffizienz oder das Versagen einer Organtransplantation. «Doch trotz der offensichtlichen Relevanz der Geschlechterunterschiede hinsichtlich klinischer Endergebnisse dominieren nach wie vor männliche Forschungsobjekte bei medizinischen Studien», kritisiert die Expertin. So würden statistisch gesehen für jedes weibliche Tiermodell etwa 5,5 männliche Tiermodelle eingesetzt. «Die derzeit an Frauen angewandte Medizin ist einfach weniger evidenzbasiert als bei Männern.» Noch schärfer formuliert es ein Kommentar im «Nature»: Der «unbeabsichtigte» Endeffekt der Nicht-Berücksichtigung des Geschlechts in der Medizin sei quasi ein «Betrug an der weiblichen Gesundheit» (1).
Höhere Mortalität, weniger Diagnosen Besonders deutlich zeigen sich die Unterschiede zwischen Männern und Frauen bei kardiovaskulären Erkrankungen, weist eine Vielzahl von Untersuchungen nach: • Eine retrospektive US-Amerikanische Studie an 385 000 Pa-
tienten nach Myokardinfarkt (40 % weibliche Probanden) zeigt eine höhere frühe Mortalität junger Frauen (2). • Frauen mit derselben Symptomatik und demselben Risikoprofil erhalten weniger Leitlinien-basierte Diagnosen (An-
giografie, Belastungs-EKG, Belastungs-Bildgebung werden seltener eingesetzt) (3). • Bei Definition der unterschiedlichen Typen des Myokardinfarkts (MI) werden Frauen lediglich beim Typ 1 (Plaque-Ruptur mit Thrombose) erwähnt, obwohl bekannt ist, dass auch andere MI-Typen für Frauen relevant sind (Vasospasmus, endotheliale Dysfunktion) (4). • Unterschiede bei koronarer Herzkrankheit: Männer neigen mehr zu lokalisierter Stenose, bei Frauen ist die Krankheit generalisiert, und Plaque-Erosion sowie Mikroemboli stehen im Vordergrund (5). • Frauen haben doppelt so häufig offene Koronararterien bei akutem Koronarsyndrom wie Männer (6). • Eine Metaanalyse von 17 Studien verweist auf unterschiedliche Stressfaktoren, die einen MI auslösen können: bei Frauen eher emotionaler Stress, bei Männern häufiger schwere körperliche Aktivität (7). • Frauen haben im Rahmen einer Bypass-Operation eine höhere Mortalität, zeigt eine Studie an 1000 Patienten der Charité (8). Insgesamt berichten lediglich 24 Prozent aller kardiovaskulären Trials über geschlechtsspezifische Ergebnisse, stellen die ESC-Guidelines für Hypertonie fest, obwohl Frauen 44 Prozent der Teilnehmer ausmachen (9). Die Hypertonie-Guidelines selbst wiederum beziehen sich nur bei einer Empfehlung spezifisch auf Frauen: Sie sollten im gebärfähigen Alter ACE-Hemmer, ARB sowie den direkten Reninhemmer Aliskiren aufgrund der Teratogenität dieser Substanzen vermeiden.
Kardiovaskuläres Risiko junger Frauen beachten Auch die kardiovaskulären Risikofaktoren zeigen Geschlechterunterschiede, erklärt Seland weiter: Während bei Männern Rauchen der wichtigster Risikofaktor für Myokardinfarkt ist, stehen bei Frauen Hypertonie und Diabetes im Mittelpunkt. Risikofaktoren der Hypertonie bei Frauen sind Hyperlipidämie, gestörte Glukosetoleranz, Übergewicht, Ehestress, niedriger beruflicher Status oder die Einnahme oraler Kontrazeptiva; die Risikofaktoren für Männer sind demgegenüber eher Alkohol, Rauchen, Ärger, Schlafapnoe, Jobstress/Unsicherheit. Übrigens: Von den kardiovaskulären Risikofaktoren ist eine höhere Anzahl junger Frauen betroffen, als man vielleicht annehmen könnte. Seland: «In Deutschland erreichen die
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wenigsten jungen Frauen – um die 40 Jahre alt – das kardiovaskuläre Ideal von niedrigem Cholesterin und Blutdruck, Nichtraucherstatus und körperlicher Aktivität. Die meisten jungen Frauen haben einen kardiovaskulären Risikofaktor und gelten damit als at ‹risk›; viele werden auch als Hochrisikopatientinnen eingestuft. Das wird in der Praxis häufig übersehen.»
Frauen: stärkere Anpassung an westlichen Lebensstil Die zunehmende Prävalenz von Adipositas sowie metabolischem Syndrom und Diabetes ist vor allem bei Frauen aufgrund der engen Korrelation mit kardiovaskulären Erkrankungen sehr risikoreich, erklärt Prof. Dr. med. Petra-Maria Schumm-Draeger, Leiterin der Endokrinologie Abteilung am Städtischen Klinikum München. Die Verteilung des Körperfetts gilt hier als starker Indikator für metabolische und kardiovaskuläre Veränderungen, «am gefährlichsten ist die androide Fettverteilung. Das Bauchfett korreliert sehr stark mit allen Merkmalen des metabolischen Syndroms wie etwa Hypertonie, Dyslipidämie und Typ-2-Diabetes.» Bei starker Gewichtszunahme von Frauen kommt es gleichzeitig auch zu einer Verschiebung von der gynoiden Adipositas in Richtung abdomineller Adipositas und damit auch zu einer Veränderung des Gleichgewichts zwischen männlichen und weiblichen Hormonen sowie einer Erhöhung der kardiovaskulären Risikofaktoren. Übergewichtige oder adipöse Frauen haben generell ein höheres Risiko, ein metabolisches Syndrom oder einen Typ2-Diabetes zu entwickeln.
Europaweit hohe Prävalenzen Deutschland, Grossbritannien und Griechenland zeigen die höchsten Prävalenzraten der Adipositas in Europa und auch den stärksten Anstieg in der Altersgruppe der 25- bis 34-Jährigen, «also der Generation, die mit Computern und Unterhaltungsmedien aufgewachsen ist». In Grossbritannien liegt die Prävalenz der morbiden Adipositas mit einem BMI von > 40 bei 1,5 Prozent (Männer) beziehungsweise fast 4 Prozent (Frauen) (10). «Frauen scheinen sich in diesen Ländern dem westlichen Lebensstil stärker anzupassen – meiner Meinung nach ist das ein weltweites Phänomen», kommentiert Schumm-Draeger. Mit massiven Auswirkungen nicht nur auf die gesamte Lebenserwartung, sondern auch «auf die Lebenserwartung ohne Behinderungen für die Aktivitäten des täglichen Lebens», wie die Expertin betont: Bei einem BMI zwischen 30 und 35 ist diese behinderungsfreie Lebenserwartung bei Männern um knapp drei Jahre verkürzt, bei Frauen um fast vier Jahre (10). Die bei höherem BMI beobachtete höhere Mortalität wurde jüngst in einer Studie im Lancet an knapp 900 000 Teilnehmern bestätigt (11).
Frauenfaktoren ungeklärt Aber warum trifft diese höhere Mortalität besonders Frauen? «Hier sind noch viele Fragen offen», gibt die Internistin zu. Die verschiedenen, «fast täglich» neu entdeckten Zytokine beeinflussen vor allem Faktoren des metabolischen Syndroms wie Hypertonie, Dyslipidämie, Entzündung, Atherosklerose oder Thrombose, «dies gilt aber gleichermassen für Männer und Frauen». Ein möglicher Faktor bei Frauen in der Menopause könnte die von Östrogenmangel induzierte Insulinresistenz sein, die einen gestörten Glukosemetabolismus zur Folge hat (gestörte Insulinsekretion, gestörte Glukoseaufnahme am Muskel oder erhöhte Lipolyse am Fettgewebe).
Zusätzlich werden ein Ungleichgewicht zwischen Östrogenrezeptoren alpha und beta diskutiert: «Bei Dominanz der betaRezeptoren kommt es bei adipösen Frauen mit Typ-2-Diabetes zu einer verminderten NO-Produktion und damit zu Vasokonstriktion, chronischer Inflammation und in weiterer Folge kardiovaskulären Erkrankungen.» (12). Hier seien aber mehr klinische Studien erforderlich, um die Frage umfassend diskutieren zu können. Bei Frauen mit Diabetes reicht zudem ein einziger zusätzlicher Risikofaktor wie etwa Hypertonie, um das kardiovaskuläre Risiko stärker ansteigen zu lassen als bei Männern, berichtet Schumm-Draeger von der «Diabetes in Germany» (DIG)-Studie (13). Dieses Problem wird sich nur noch verschärfen: Laut Voraussagen der Internationalen Diabetesföderation steigt die Prävalenz von Diabetes mellitus in Europa zwischen 2013 und 2024 von 8,5 Prozent auf 10,3 Prozent, die Krankheit wird also knapp 70 Millionen Menschen betreffen.
Chancengleichheit für Frauen gefordert Die SWEETHEART-Studie untersuchte wiederum 2700 Frauen und Männer nach Myokardinfarkt (14). Ihre Ergebnisse: • Die Rate von neu diagnostiziertem Diabetes war bei Frauen
wesentlich höher als bei Männern. • Bei der Mehrheit der Myokardinfarkt-Patientinnen wurden
ein gestörter Glukosestoffwechsel und damit ein hohes Risiko für nachfolgende kardiovaskuläre Ereignisse identifiziert. • Bei weiblichen Patienten wurde seltener eine Koronarangiografie durchgeführt (94,6% vs. 96,7% bei Männern). • Drei Jahre nach einem Myokardinfarkt verstarben 30,5 Prozent der weiblichen Patienten versus 21,8 Prozent der Männer. «Meiner Meinung nach ist es sehr wichtig, kontinuierlich eine sorgfältige experimentelle und klinische Forschung zu betreiben, um aufgrund der neuen Daten eine echte Chancengleichheit bezüglich Prävention, Diagnose und Therapie adipöser Patientinnen mit metabolischem Syndrom zu erreichen», schliesst Schumm-Draeger. «Diese Chancengleichheit ist derzeit einfach nicht gegeben, es gibt hier viel Raum für Verbesserung.»
Lydia Unger-Hunt
Quelle: «New developments in women’s health», Symposium der European and Swiss Conference of Internal Medicine, ESCIM, 14. bis 16. Mai 2014 in Genf.
Detaillierte Literaturangaben online unter www.rosenfluh.ch
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