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Androgensubstitution bei der Frau: Sinn oder Unsinn?
Endokrine Alterung betrifft mehr als nur die Sexualhormone
Die Anti-Aging-Medizin ist für die einen ein vielversprechender und zukunftsorientierter Wissenschaftszweig, für die anderen Tummelplatz profitorientierter Scharlatane. Basis der Auseinandersetzung sollte es sein, die endokrinen Veränderungen im Alter zu kennen und erst dann zu diskutieren, ob es sinnvoll und vorteilhaft ist, diese therapeutisch zu korrigieren.
Männliche Feten sind schon früh sehr hohen Testosteronwerten ausgesetzt, die einerseits für die Entwicklung der Geschlechtsorgane wichtig sind, anderer-
zehnmal stärker sind als diejenigen von Benzodiazepinen. «Wenn Sie älteren Damen, die über Schlaflosigkeit klagen, abends 200 mg Pregnanolon verschreiben, werden sie in den
seits aber auch auf epigenetische Vorgänge Einfluss haben, meisten Fällen wieder ausgezeichnet schlafen», erwähnte
die für die späteren Herzkreislaufrisiken mitentscheidend Neulen.
sind. Diese Exposition fehlt den weiblichen Feten. Viel wird also schon früh im Leben vorgespurt, erklärte Prof. Dr. med.
Auswirkungen von Hormonersatztherapien
Joseph Neulen, Klinik für Gynäkologische Endokrinologie und Schon 2002 hatte eine Studie belegen können, dass Frauen,
Reproduktionsmedizin, Aachen.
die langfristig (> 10 Jahre) eine Hormonersatztherapie (HRT)
Estrogen- und Progesteronmangel verschärft die endokrinen Altersveränderungen
durchgeführt hatten, eine geringere Inzidenz von AlzheimerDemenz aufwiesen (1). «Dies ging dann im Getümmel der WHI-Studie unter», so Neulen. «Aber kürzlich wurde die Stu-
Im Alter kommt es dann zu sehr vielfältigen endokrinen Ver- die erneut publiziert, und es zeigte sich, dass dieser Effekt
änderungen, die sowohl die Hyothalamus-Hypophysen- auch 10 Jahre später noch anhielt.» (2) Allerdings muss die
Nebennierenachse als auch die Schilddrüse und die zirkadia- Hormoneinwirkung lange vor Auftreten der ersten Demenz-
nen Rhythmen betreffen. Im Vergleich zu jüngeren Männern symptome erfolgen.
sinkt bei den älteren die Ausschüttung von Wachstumshor- Andere psychische Veränderungen nehmen im Alter zu, vor al-
mon, und es fehlt die nächtliche Spitze, es fehlt der nächtli- lem Sorge, Depressivität und Angst vor Stürzen, während Pho-
che Prolaktinanstieg, die Kortisolausschüttung im Tagesver- bien und Panikattacken abnehmen. Dies ist dem zentralen
Kortisolanstieg zuzuschreiben. Im
Anschluss an die Publikation der Wo-
«In einer weiteren Auswertung der WHI-Studie hatten Diabeti-
kerinnen ein 3-mal höheres kardiovaskuläres und ein 7-mal hö-
heres Krebssterberisiko. Bei Frauen haben wir die Option, durch
»eine estrogene Substitution diesem Risiko entgegenzuwirken.
men’s Health Initiative (WHI)-Studie wurde breit berichtet, dass durch den konsekutiven Verzicht auf die Hormonsubstitution die Mammakarzinominzidenz dramatisch abgenommen hätte. Doch die 2008 publizierte Nachbeobachtungsstudie hat die ur-
sprüngliche Aussage nicht bestätigt
(3). Die Differenz in der Mammakar-
lauf sinkt insgesamt, in noch höherem Mass auch die zinominzidenz war in der Gruppe mit kombiniertem Hormon-
Ausschüttung von Thyreoidea-stimulierendem Hormon (TSH). ersatz zwar noch vorhanden, aber nicht mehr signifikant.
Bei älteren Frauen kommen zu diesen Entwicklungen noch die «Von 2002 bis 2005 hat man uns mit den WHI-Daten schlicht
postmenopausalen Auswirkungen des Estrogenmangels. Die- betrogen», klagte Neulen, «die eigene Studie hat es wider-
ser führt zu einem zerebralen Serotoninmangel, der Schlaf- legt.»
störungen nach sich zieht, und zu einer Noradrenalindomi- Eindeutig sind die Auswirkungen einer Hormonsubstitution
nanz, welche den REM-Schlaf beeinträchtigt. Diese auf den Glukosemetabolismus. Die Heart and Estrogen/pro-
Gleichgewichtsveränderung begünstigt zusammen mit einem gestin Replacement Study (HERS) (4) und die WHI-Studie (5)
im Liquor nachweisbaren starken Anstieg der zentralen Korti- stimmen in der Beobachtung überein, dass eine HRT das Ri-
solspiegel auch Depressionen im Alter. Ethanol, Benzodiaze- siko, einen Typ-2-Diabetes zu entwickeln, deutlich reduziert.
pine oder Melatonin verstärken die zerebrale Wirkung der Physiologisch lässt sich dies durch die Stoffwechseleffekte
Gamma-Aminobuttersäure (GABA). Dies trifft auch zu für Pro- von Estrogen wie Hemmung der hepatischen Glukoneo-
gesteron und synthetische Progesteronderivate. Insbeson- genese, flachere Verläufe der Insulinkonzentrationen oder
dere Pregnanolon und Androsteron haben am Rezeptor von Apoptoseschutz für die Betazellen gut erklären.
GABA unabhängige direkte aktivierende Wirkungen, die etwa Die Resultate des Ernährungsarms der WHI-Studie haben ge-
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zeigt, dass eine Ernährungsweise mit geringem Fettanteil weder kardiovaskuläre Erkrankungen noch Kolorektal- oder Brustkarzinome günstig zu beeinflussen vermag (6–8). «Wenig Fett ist also nicht der Schlüssel zum Geheimnis», summierte Neulen. Mit Blick auf eine Erhöhung des Diabetesrisikos unter Statinen setzte Neulen auch ein Fragezeichen hinter die unreflektierte Senkung von Lipidwerten bei älteren Frauen mit diesen Wirkstoffen. Denn im Alter ist Diabetes die wichtigste Mortalitätsursache, wie eine weitere Auswertung der WHI-Studie zeigte, in der Diabetikerinnen ein 3-mal höheres kardiovaskuläres und ein 7-mal höheres Krebssterberisiko hatten (9). «Bei Frauen haben wir die Option, durch eine estrogene Substitution diesem Risiko entgegenzuwirken», so Neulen. Zudem bedeutet Diabetes einen Risikofaktor für Muskelschwund, funktionelle Einschränkung und Behinderung, alles Kennzeichen der gefürchteten «Frailty» im höheren Alter. Als prophylaktische Lebensstilmassnahme eignet
gel korrelieren nicht zuverlässig mit der sexuellen Aktivität und erlauben keine Rückschlüsse auf die Androgenaktivität auf Zellebene. Als Prävalenz der HSDD werden für Europa 7 bis 16 Prozent angegeben. «Die Basis des sexuellen Verlangens ist komplex, viele Neurotransmitter, Geschlechtshormone, das limbische System, aber auch höhere kortikale Areale sind involviert, und psychosoziale Faktoren spielen eine wichtige Rolle», erklärte Wunder, «insbesondere möchte ich die Bedeutung der psychosozialen Faktoren betonen.» Für Frauen ist besonders die Qualität der Beziehung zum Partner für die sexuelle Appetenz entscheidend. Mit dem Alter nimmt das sexuelle Verlangen ab, aber auch der Anteil der Frauen, die sich dadurch gestört fühlen. So bleibt die HSDD-Prävalenz in etwa konstant (11). In der natürlichen Perimenopause und Menopause kann die hormonell bedingte Abnahme des spontanen Verlangens auch ohne grossen Einfluss auf das Sexualleben der Frau und ih-
«Das bedeutet also auch, dass Frauen mit niedrigem sexuellem Verlangen keine Testo-
steronsupplementation verschrieben werden sollte, bis Langzeitstudien Wirksamkeit und
»Sicherheit belegt haben.
sich hingegen eine kalorische Restriktion weder in jüngerem noch in fortgeschrittenerem Alter. Somit bleibt nur der Rat zu einer adäquaten, ausgewogenen Ernährung als beste Voraussetzung für Gesundheit und Langlebigkeit.
Störungen der sexuellen Appetenz sind nicht nur hormonabhängig Schon mit etwa 50 Jahren lässt sich eine Abnahme des freien und totalen Testosterons um rund die Hälfte nachweisen. Eine chirurgisch induzierte Menopause kann zudem langfristige Auswirkungen auf das Gehirn haben, selbst wenn eine HRT durchgeführt wird, erklärte Privatdozentin Dr. med. Dorothea Wunder, Médecin-chef Unité de Médecine de Reproduction et Endocrinologie Gynécologique, Maternité CHUV, Lausanne, unter Hinweis auf eine eben publizierte Studie (10). Verschiedene Untersuchungen haben nach chirurgisch induzierter Menopause einen abrupten Estrogenabfall auf nicht mehr nachweisbare Spiegel, eine 50-prozentige Reduktion von Androstendion und einen 70-prozentigen Rückgang der Dehydroepiandrosteron (DHEA)-Konzentration. Bei mindestens 30 bis 50 Prozent der Fälle bestehen Symptome eines Androgenmangels, trotz scheinbar adäquater Estrogensubstitution. Diese Symptome umfassen eine verminderte Wahrnehmung des Wohlbefindens, Depression, Energiemangel, Abnahme von Muskelmasse und -kraft sowie eine Verminderung des sexuellen Verlangens, der Rezeptivität, sexuellen Erregbarkeit und des Orgasmus. Daneben kann es zu einem Verlust der Pubesbehaarung und auch zu Veränderungen von Kognition und Gedächtnis kommen. «Diese schweren Auswirkungen, die trotz Hormonsubstitution weiter bestehen können, sind auch eine wichtige Botschaft: nicht unnötig Ovarien entfernen.» Eine sexuelle Appetenzstörung (hypoactive sexual desire disorder, HSDD) ist definitionsgemäss ein persistierender oder wiederkehrender Mangel respektive eine Abwesenheit von sexuellen Phantasien und Gedanken, ein Fehlen von sexuellem Verlangen oder Empfänglichkeit für sexuelle Aktivität, das persönlich belastend empfunden wird. Die HSDD-Diagnose erfolgt immer klinisch, denn die zirkulierenden Androgenspie-
res Partners bleiben, wenn dieser weiter interessiert ist und Initiativen ergreift. Bei der chirurgisch induzierten Menopause ist das HSDD-Risiko mit 40 Prozent hingegen sehr hoch (12, 13). Auch Komorbiditäten können das sexuelle Verlangen stören. Hier sind besonders genitale und Harnwegserkrankungen (Beckenschmerzen, Zustand nach Hysterektomie, Urininkontinenz, lower urinary tract symptoms [LUTS]) von Bedeutung. Unter den Medikamenten sind Appetenzstörungen als Nebenwirkung für Psychopharmaka (selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer, Antipsychotika), Antihypertensiva und in der Therapie hormonempfindlicher Tumore eingesetzte Onkologika bekannt. Der Einfluss von oralen Kontrazeptiva wird kontrovers diskutiert (14). In die Evaluation einer Patientin mit HSDD müssen Stressverarbeitung, Schlafmuster, Veränderungen der Selbstwertschätzung, negatives Körperbild, körperliches Aktivitätsniveau, die Art der Kontrazeption, Medikamente, Alkohol und Drogen sowie die Familienanamnese einbezogen werden.
Mit Androgenen das sexuellen Verlangen therapeutisch beeinflussen? Lokale Estrogene sind wichtig für den Erhalt und die Funktion des Vaginalepithels. Sie erhöhen die lokale Durchblutung und fördern die vaginale Lubrikation. Seit den Dreissigerjahren sind Androgene bei weiblicher sexueller Dysfunktion therapeutisch eingesetzt worden, erinnerte Wunder, in der Schweiz ist eine solche Behandlung derzeit off-label. Ein Testosteronpflaster, mit dem über gute Resultate berichtet wurde, ist nicht mehr im Handel, ein Testosterongel ist nur noch in Belgien zur Behandlung des Lichen sclerosus offiziell zu bekommen. Allerdings kann in der Schweiz in der Apotheke eine magistrale Rezeptur als Gel (4% Testosteron) bestellt werden. Das Gel wird 1-mal täglich auf Arm oder Schenkel eingerieben. Zu beachten sind mögliche Nebenwirkungen wie lokale Hypertrichose, Klitorisvergrösserung, Akne, Hirsutismus, Stimmveränderung. Über günstige Auswirkungen einer Androgentherapie auf die Knochengesundheit und über eine bessere kognitive Funktion ist zwar berichtet worden, noch besteht aber hinsichtlich der
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Sicherheit keine Klarheit, warnte Wunder. Eine Androgentherapie senkt das HDL-Cholesterin, hat sonst aber wahrscheinlich keine kardiovaskulären Auswirkungen. Ungenügend sind die Daten zur Sicherheit für Endometrium und Leber. Für das Brustkrebsrisiko liegen widersprüchliche Daten vor. Unbedingt zu bedenken ist ferner, dass eine systemische Androgentherapie bei Frauen, welche keine Estrogene benützen, zu einer völlig unnatürlichen Hormonumgebung mit unbekannten Risiken führt (15). Eine Cochrane-Review fand zwar gute Evidenz für eine positive Wirkung von Testosteron auf die sexuelle Funktion, wenn es zusammen mit einer HRT bei postmenopausalen Frauen verabreicht wird (16), warnt aber vor den androgenen Nebenwirkungen und den unbekannten Langzeitfolgen. «Das bedeutet also auch, dass Frauen mit niedrigem sexuellem Verlangen keine Testosteronsupplementation verschrieben werden sollte, bis Langzeitstudien Wirksamkeit und Sicherheit belegt haben», forderte Wunder. Ähnlich zurückhaltend äusserte sich Wunder auch zur Zufuhr von DHEA, das physiologischerweise in der Nebennierenrinde (NNR) Vorstufe verschiedener weiblicher und männlicher Geschlechtshormone ist. Bei einer NNR-Insuffizienz und tiefen DHEA-Spiegeln wird eine orale DHEA-Substitution diskutiert, aber die Einschätzungen sind kontrovers. In der Schweiz ist DHEA nicht zugelassen. Mit einer Dosierung von 50 mg sind androgene Nebenwirkungen zu befürchten. Für die positiven Auswirkungen von DHEA auf kognitive Funktionen – eine in den USA seit Jahren sehr gefragte Hypothese – fand ein Cochrane-Review keine ausreichende Evidenz (17). Einige Empfehlungen gibt es zur topischen vaginalen Testosteron- oder DHEA-Applikation, allerdings basieren die Daten zur Verbesserung sexueller Funktionen auf kleinen Zahlen, und es fehlt die Basis zur Beurteilung der Sicherheit der Therapie (18, 19). In mehreren Studien ist hingegen belegt, dass Tibolon (Livial®) bei behandelten Frauen im Vergleich zu Patientinnen unter Plazebo oder unter konjugierten Estrogenen oder zu Patientinnen ohne Therapie die Libido verbessert. Eine weitere Option ist Gynodian® Depot, das Prasteronenanthat (mit gleicher Wirkung wie DHEA) sowie Estradiolvalerat enthält und als i.m.-Injektion 1-mal pro Monat verabreicht
Take Home Messages
• Das endokrinologische Altern ist gekennzeichnet durch einen Verlust der zirkadianen Rhythmen, durch einen peripheren Verlust von Wachstumshormon, Prolaktin, weiblichen Geschlechtshormonen, Schilddrüsenhormonen und durch eine Störung des Glukosestoffwechsels.
• Es fehlen zudem anabole Wirkungen. • Ein gesunder Lebensstil umfasst eine adäquate Ernährung mit ausrei-
chend Nährstoffen, adäquate tägliche körperliche Betätigung. • Schliesslich kann eine Behandlung mit Hormonen (L-Thyroxin, Ge-
schlechtshormone) individuell erwogen werden. • Nach chirurgisch induzierter Menopause bestehen bei mindestens 30 bis
50 Prozent der Fälle Symptome eines Androgenmangels. • Eine sexuelle Appetenzstörung (hypoactive sexual desire disorder, HSDD)
ist definitionsgemäss ein persistierender oder wiederkehrender Mangel respektive eine Abwesenheit von sexuellen Phantasien und Gedanken, ein Fehlen von sexuellem Verlangen oder Empfänglichkeit für sexuelle Aktivität, sofern dies als persönlich belastend empfunden wird. • Komorbiditäten können das sexuelle Verlangen stören, besonders genitale und Harnwegserkrankungen sowie diverse Medikamente. • Androgeneinsatz zur Behandlung einer sexuellen Appetenzstörung ist in der Schweiz off-label.
wird. Gynodian kann nur bei Status nach Hysterektomie allein verschrieben werden, sonst ist die Kombination mit einem Gestagen obligatorisch. Zu beachten sind dieselben Kontraindikationen wie bei anderen HRT sowie Hirsutismus und Stimmveränderungen als Nebenwirkung.
Halid Bas
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Quelle: Prof. Dr. med. Joseph Neulen, Aachen: «Endokrine Veränderungen im Alter». Privatdozentin Dr. med. Dorothea Wunder, Lausanne: «Androgentherapie: Sinn oder Unsinn?» im Rahmen des 6. Hauptthemas «Evidenzbasierte Anti-Aging-Medizin». Jahreskongress der Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (SGGG), 25. bis 27. Juni 2014 in Interlaken.
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