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Überaktive Blase, State of the Art: Wo stehen wir heute?
Die überaktive Blase (OAB) ist ein häufiges Leiden mit vielfältiger Symptomatik, einem komplexen pathophysiologischen Hintergrund und in beständiger Entwicklung befindlichen therapeutischen Optionen. Diese wurden in den letzten Jahren durch neue orale Medikamente, die intravesikale Injektion von Botulinumtoxin sowie die sakrale Neuromodulation erweitert.
Die überaktive Blase kann isoliert auftreten oder in Verbindung mit einer ganzen Reihe von Symptomen des unteren Harntrakts. Dieser gesamte Komplex wird unter dem Begriff der Lower Urinary Tract Symptoms – LUTS – zusammengefasst. Beim Mann ist nicht selten auch die Prostata involviert. Das Problem ist so häufig, dass im höheren Alter eine Mehrzahl der Menschen in den Industriestaaten betroffen sein dürfte. Im Rahmen des EpiLUTS Survey gaben 71 Prozent der befragten Männer über 40 an, Probleme mit dem unteren Harntrakt zu haben (1). Eine überaktive Blase ist seltener, aber mit Prävalenzangaben zwischen 20 und 30 Prozent bei den 70-Jährigen in den Studien SIFO und EPIC immer noch sehr häufig. Die beiden Studien zeigen auch, dass Männer und Frauen mit ungefähr gleicher Häufigkeit von einer OAB betroffen sind (2, 3).
Eine gestörte Koordination der glatten Muskulatur Lässt man die benigne Prostatahyperplasie, die heute ebenfalls als zum LUTS-Komplex gehörig aufgefasst wird, einmal beiseite, so erweist sich die überaktive Blase als eine Art Koordinationsstörung der glatten Muskulatur. «Die Blase ist 99,7 Prozent des Tages mit dem Speichern von Harn beschäftigt. In dieser Zeit ist der Tonus der gestreiften Sphinktermuskulatur hoch, die glatte Muskulatur der Blase ist entspannt. Während der fünf bis acht Miktionen pro Tag entspannt sich der Sphinktermuskel, und es kommt zur Kontraktion der glatten Blasenmuskulatur. Dieses Zusammenspiel kann aus unterschiedlichen Gründen gestört sein», sagt Prof. Dr. Karl-Dietrich Sievert vom Universitätsklinikum Tübingen. Eine Reihe pathophysiologischer Hintergründe kommt infrage. Sievert nennt funktionelle Störungen der Blase, neurologische Ursachen oder beim Mann Prostataprobleme. Innerhalb der LUTS wird die OAB heute als eigener Symptomkomplex betrachtet (4).
Symptome als Basis der Diagnose Die Diagnose wird anhand der Symptomatik gestellt, die jedoch vielfältig und variabel sein kann. Typischerweise treten Drang, erhöhte Miktionsfrequenz und in der Folge ein reduziertes Miktionsvolumen, eine verkürzte «warning time» sowie im schlimmsten Fall (Drang-)Inkontinenz auf. Für die Diagnose OAB müssen jedoch keineswegs alle genannten Symptome vorhanden sein. Sievert: «Die OAB ist
auch häufig mit einer Detrusorüberaktivität assoziiert, sollte mit dieser jedoch nicht verwechselt werden. Überaktive Blase ist eine symptomatische Diagnose, Detrusorüberaktivität ist ein urodynamischer Befund.»
Das Leitsymptom der überaktiven Blase heisst Drang Die besondere Bedeutung des Drangs sowohl für die Diagnostik als auch den Leidensdruck der Patienten unterstreicht auch Prof. Dr. Andrea Tubaro von der Universität La Sapienza in Rom: «Im Zentrum der OAB-Symptomatik steht der Drang. Es gibt keine überaktive Blase ohne Drang. Andere Symptome wie vor allem Inkontinenz können, müssen aber nicht auftreten.» Während bei Frauen mit dieser Symptomatik sofort an die Blase gedacht wird, drehen sich beim Mann die diagnostischen Bemühungen oft zunächst um die Prostata. Dazu Sievert: «Die Prostata ist aber keineswegs immer die Ursache für Beschwerden rund um die Miktion.»
Auch bei Männern nicht nur an BPH, sondern auch an eine OAB denken Der eingeschränkte Blick auf das Geschehen führt auch zu eingeschränktem therapeutischem Handeln. Laut einer Erhebung von Verispan aus dem Jahr 2005 wird ein erheblicher Teil der männlichen OAB-Patienten gegen eine BPH behandelt und erhält keine für die OAB zugelassene Medikation (5). Doch auch bei einer korrekten Diagnose müssen es nicht immer Medikamente sein. Tubaro: «Am Anfang sollte immer die Beratung stehen. Blasentraining ist effektiv. Aber das genügt nicht immer, und daher sollte man die medikamentöse Therapie im Auge behalten.» Führen die verhaltenstherapeutischen Massnahmen nicht zum gewünschten Erfolg, besteht die weitere Eskalation im Einsatz von Medikamenten und Botoxinjektionen bis hin zu chirurgischen Verfahren.
Anticholinergika am weitesten verbreitet Die gebräuchlichste Substanzgruppe in der medikamentösen Therapie der OAB sind die wirksamen und bewährten Anticholinergika – genauer Antimuskarinika. Um die Nebenwirkungen dieser Substanzen gering zu halten, wird nicht nur Selektivität für den für die Kontraktion glatter Muskulatur in der Blasenwand verantwortlichen M3-Rezeptor gefordert. Leider kommen M3-Rezeptoren auch in den Speicheldrüsen vor, weshalb Mundtrockenheit eine häufige und unangenehme
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Nebenwirkung der Anticholinergika ist. Dieses Problem lässt sich reduzieren, wenn das gewählte Antimuskarinikum nicht nur rezeptorspezifisch, sondern auch gewebespezifisch ist. Solifenacin weist im Vergleich zu den übrigen Antimuskarinika eine gewisse M3-Selektivität und dazu eine ausgeprägte Gewebeselektivität für die Blase auf (6). Sievert: «Das hilft, die Nebenwirkungen zu reduzieren.» Tatsächlich zeigen Studien, dass Solifenacin unter den Antimuskarinika die beste Adhärenz zu verzeichnen hat (7).
Neue Option in der medikamentösen Therapie Eine Innovation in der Therapie der OAB stellt der Beta-3Adrenozeptoragonist Mirabegron dar, der über die Stimulation der Beta-3-Rezeptoren der Blasenwand die OAB-Symptomatik reduziert. Ein wesentlicher Vorteil dieses Prinzips liegt in dem Umstand, dass sich die Beta-3-Adrenozeptoren beim Menschen zu 97 Prozent in der Blase befinden, also eine hohe Gewebespezifität besteht. Die Stimulation des Beta-3-Adrenozeptors bewirkt über mehrere Pathways eine Relaxation der glatten Blasenmuskulatur. Sievert: «Es kommt zu einer Inhibition der spontanen Muskelaktivität. Die Dehnbarkeit der Blase nimmt zu, es wird mehr Dehnung benötigt, um den Miktionsreflex auszulösen, und die afferente Aktivität nimmt ab – und damit die Symptome. Dabei hat Mirabegron allenfalls einen minimalen Effekt auf die Kontraktionen der Blase während der Miktion. Es besteht also keine Gefahr von Harnverhalten.» In den Zulassungsstudien konnte Mirabegron im Vergleich zu Plazebo die Zahl der Miktionen sowie die Häufigkeit von Drang- und Inkontinenzepisoden signifikant reduzieren (8). In Zukunft sollen auch Kombinationen von Mirabegron mit Anticholinergika untersucht werden.
Intravesikale Gabe von Botulinumtoxin … Eine relativ neue und nach wie vor in Diskussion befindliche Option in der Therapie der OAB stellt die intravesikale Injektion von Botulinumtoxin dar. Diese hat in den aktuellen Guidelines der EAU den Empfehlungsgrad A bei Patienten, die mit Antimuskarinika nicht adäquat behandelt werden können. Ebenfalls eine Grad-A-Empfehlung, wenn auch eine vorsichtigere, gibt es für die sakrale Neuromodulation, die bei therapierefraktärer Dranginkontinenz versucht werden kann, falls die Möglichkeiten dazu vorhanden sind. Unklar ist allerdings, welcher Methode der Vorzug zu geben ist, wenn Medikamente nicht ausreichen. Prof. Dr. Francisco Cruz vom Hospital São João in Porto bevorzugt Botulinumtoxin, konkret Onabotulinum Toxin B. Als Gründe nennt er unter anderem den nachvollziehbaren Wirkmechanismus, einfache Applikation, gute Verträglichkeit sowie die gute Evidenz aus Studien. Auch die Kosten seien akzeptabel. Vor allem aber sei es möglich, mit den Injektionen von Botulinumtoxin auf Veränderungen der Erkrankung zu reagieren. Studiendaten hätten nämlich gezeigt, dass OAB über die Jahre nicht nur schlechter werden, sondern auch wieder vollständig verschwinden kann (9, 10). Das Botulinumtoxin wird mit dem Zystoskop an 20 Punkten oberhalb des Trigonums in die Blasenwand injiziert. Cruz: «Das ist einfach. Jeder Urologe ist dazu in der Lage.» Die Diagnose einer Detrusorüberaktivität mittels Urodynamik ist nicht erforderlich. In Studien erwies sich Botulinumtoxin im Vergleich zu Plazebo als signifikant und deutlich überlegen (11). Rund 27 Prozent der Patienten wurden in den Studien zu 100 Prozent kontinent. Legt man den Cut-off etwas grosszügiger, also etwa bei 50 Prozent Kontinenz, liegt die Erfolgsrate in der Region von
60 Prozent. Die im letzten Jahr am amerikanischen Urologenkongress AUA als Poster präsentierten Langzeitdaten zeigten, dass zumindest über fünf Zyklen von Injektionen die Wirksamkeit erhalten bleibt.
… oder doch die sakrale Neuromodulation?
Für Prof. Dr. Karel Everaert vom Universitätsspital Gent ist die sakrale Neuromodulation die Methode der Wahl. Er verweist auf aktuelle Daten, die die Überlegenheit des Verfahrens im Vergleich zu den Anticholinergika zeigen (12). Direkte Vergleichsstudien zu Botulinumtoxin fehlen allerdings. Aus den verfügbaren Daten liesse sich allenfalls indirekt der Schluss ableiten, dass sich die Lebensqualität der Patienten mit sakraler Neuromodulation deutlicher bessere. Die lange Laufzeit der Neuromodulation mit einer Batterielebensdauer von fünf bis sechs Jahren sei für viele Betroffene ein Argument für die Methode, während die regelmässigen Behandlungen mit dem Zystoskop von vielen OAB-Patienten abgelehnt werden.
Reno Barth
Literatur: 1. Sexton CC et al. The overlap of storage, voiding and postmicturition symptoms and implications for treatment seeking in the USA, UK and Sweden: EpiLUTS. BJU Int. 2009; 103 Suppl 3: 12–23. 2. Milsom I et al. How widespread are the symptoms of an overactive bladder and how are they managed? A population-based prevalence study. BJU Int. 2001; 87 (9): 760–766. 3. Irwin DE et al. Population-based survey of urinary incontinence, overactive bladder, and other lower urinary tract symptoms in five countries: results of the EPIC study. Eur Urol. 2006; 50 (6): 1306–1314. 4. Chapple CR, Roehrborn CG. A shifted paradigm for the further understanding, evaluation, and treatment of lower urinary tract symptoms in men: focus on the bladder. Eur Urol. 2006; 49 (4): 651–658. 5. Verispan Patient Longitudinal Data, MAT 2005. 6. Ohtake A et al. In vitro and in vivo tissue selectivity profile of solifenacin succinate (YM905) for urinary bladder over salivary gland in rats. Eur J Pharmacol. 2004; 492 (2–3): 243–250. 7. Basra R, Kelleher C. A review of solifenacin in the treatment of urinary incontinence. Ther Clin Risk Manag. 2008; 4 (1): 117–128. 8. Khullar V et al. Efficacy and tolerability of mirabegron, a β(3)-adrenoceptor agonist, in patients with overactive bladder: results from a randomised European-Australian phase 3 trial. Eur Urol. 2013; 63 (2): 283–295. 9. Wennberg AL et al. A longitudinal population-based survey of urinary incontinence, overactive bladder, and other lower urinary tract symptoms in women. Eur Urol. 2009; 55 (4): 783–791. 10. Irwin DE et al. Dynamic progression of overactive bladder and urinary incontinence symptoms: a systematic review. Eur Urol. 2010; 58 (4): 532–543. 11. Chapple C et al. OnabotulinumtoxinA 100 U significantly improves all idiopathic overactive bladder symptoms and quality of life in patients with overactive bladder and urinary incontinence: a randomised, double-blind, placebo-controlled trial. Eur Urol. 2013; 64 (2): 249–256. 12. Siegel S et al. Results of a prospective, randomized, multicenter study evaluating sacral neuromodulation with InterStim therapy compared to standard medical therapy at 6-months in subjects with mild symptoms of overactive bladder. Neurourol Urodyn. 2014 Jan 10. doi: 10.1002/nau.22544. [Epub ahead of print]
Quelle: Debatte im Rahmen der wissenschaftlichen Sitzung «Refractory problems in functional urology» und Satellitensymposium «OAB: Scientific theories becoming clinical practice: Past, present and future», gesponsert von Astellas. Alles im Rahmen des 29. Jahreskongresses der European Association of Urology, 11. bis 15. April 2014 in Stockholm.
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