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CongressSelection
Urologie- und Urogynäkologie-Forschungspreis 2014
Internationale Auszeichnung geht nach Frauenfeld
Im Rahmen der Jahrestagung der European Association of Urology (EAU) wurde der mit 150 000 US-Dollar dotierte «Urologie- und Urogynäkologie-Forschungspreis 2014» der Astellas European Foundation verliehen. In diesem Jahr ging die Auszeichung in die Schweiz, an ein Forscherteam der Frauenklinik des Kantonsspitals Frauenfeld. Das Projekt des schweizerischösterreichischen Teams wurde aus 35 internationalen Eingaben ausgewählt. Wir fragten die Leiterin Dr. Marianne Gamper und den Chefarzt des Blasen- und Beckenbodenzentrums, Professor Dr. Volker Viereck nach Hintergründen und möglichen Implikationen für die Praxis.
C ongress Selection: Herzlichen Glückwunsch zur Auszeichnung mit dem Forschungspreis. Können Sie Ihr Projekt und dessen praktische Bedeutung kurz skizzieren? Woraus ist diese Forschung entstanden? Marianne Gamper (MG): Danke vielmals! Bei unserer Forschung geht es darum, mehr über eine sehr schmerzhafte chronische Blasenkrankheit, das sogenannte «Bladder Pain Syndrome», auch «Interstitielle Zystitis» genannt, herauszufinden. Bis heute kann diese Krankheit häufig erst im Spätstadium eindeutig erkannt werden. Mit einem neuen Diagnosetest wollen wir erstmals Frühformen erkennen, um rechtzeitig eine gezielte Therapie einleiten und so das schmerzhafte Spätstadium vermeiden zu können. Die Idee für diese Forschung kam aus dem Klinikalltag.
Inwiefern? Können Sie das ein wenig präzisieren? Volker Viereck (VV): Am Blasen- und Beckenbodenzentrum des Kantonsspitals Frauenfeld sehen wir sehr viele Patientinnen mit dem Spätstadium der Interstitiellen Zystitis, das heisst mit den invalidisierenden Symptomen wie Blasenschmerzen, plötzlichem Harndrang bis hin zum Urinverlust, verbunden mit bis zu 20 Toilettengängen pro Tag, aber auch mit gehäuften nächtlichen Toilettengängen. Diese Patientinnen haben einen hohen Leidensdruck wegen der starken Schmerzen und sind wegen der gestörten Nachtruhe häufig übermüdet und erschöpft bis depressiv. Da die Ursache und die Frühformen der Erkrankung nicht bekannt waren, konnten wir nur symptomatische, aber keine kausalen Therapien anbieten. Den Schlüssel zum Erfolg konnte nur ein neuer Approach, die Molekularbiologie, liefern.
Was genau konnte die Molekularbiologie hier beitragen? MG: Beim Vergleich von Blasengewebeproben von gesunden und erkrankten Frauen fanden wir charakteristische molekulare Marker für das Spätstadium der Interstitiellen Zystitis. Interessant und überraschend war nun, dass einige dieser Marker auch bei gewissen Patientinnen mit Reizblase, einer anderen chronischen Blasenkrankheit, nachweisbar waren. Es könnte sich hier um Frühformen der Interstitiellen Zystitis handeln. Unser Ziel ist es, mit einem molekularen Test diese Frühformen zu erkennen, rechtzeitig zu behandeln und damit das invalidisierende Fortschreiten der Erkrankung zu verhin-
dern. Reizblasenpatientinnen mit negativen Markern werden weiterhin mit den bewährten Standardtherapien behandelt.
Mit diesem Preis hat die Jury das Konzept
einer interdisziplinären und internationa-
len Forschung honoriert – was genau darf
man sich darunter vorstellen?
MG: Interdisziplinär: Unser Kernteam be-
steht heute aus einer Molekularbiologin,
einem Uro-Gynäkologen, einer Pathologin
Marianne Gamper
und einer Statistikerin. International: Alle
Patientinnen, die in unserer Studie untersucht wurden, kom-
men vom Blasen- und Beckenbodenzentrum der Frauenklinik
des Kantonsspitals Frauenfeld, die Grundlagenforschung wird
an der ETH Zürich und an der Medizinischen Universität Graz
in Österreich gemacht. Die Fäden laufen am Schluss wieder
im Blasen- und Beckenbodenzentrum der Frauenklinik, Kan-
tonsspital Frauenfeld, zusammen.
Das interdisziplinäre Team
Frau Dr. sc. nat. Marianne Gamper ist Molekularbiologin und arbeitet seit über acht Jahren auf Grundlagenebene zum Thema Interstitielle Zystitis. Sie leitet das Projekt, arbeitet am Kantonsspital Frauenfeld in der Arbeitsgruppe von Prof. Viereck und hat einen Laborarbeitsplatz am Laboratorium für Organische Chemie der ETH Zürich. Herr Professor Dr. med. Volker Viereck ist Chefarzt der Uro-Gynäkologie und Leiter des Blasen- und Beckenbodenzentrums der Frauenklinik am Kantonsspital in Frauenfeld. Seit vielen Jahren arbeitet er im Schwerpunktgebiet Blasen- und Beckenbodenerkrankungen der Frau. Frau Professor Dr. med. Sigrid Regauer ist Fachärztin für Pathologie am Institut für Pathologie der Medizinischen Universität Graz in Österreich. Sie ist Spezialistin für Gynäkopathologie und Dermatopathologie und beschäftigt sich seit Jahren mit ano- und urogenitalen Erkrankungen und Schmerzbildern. Sie erweitert mit ihrem Input die spärlich vorhandenen Kenntnisse bei der histologischen Beurteilung von Blasenbiopsaten in der Abklärung von schmerzhaften Blasenerkrankungen. Frau JoEllen Welter, Master of Public Health, hilft als wissenschaftliche Mitarbeiterin der Frauenklinik des Kantonsspitals Frauenfeld bei der biomedizinischen Auswertung. Nähere Informationen: Blasen- und Beckenbodenzentrum, Frauenklinik, Kantonsspital Frauenfeld, Postfach, 8501 Frauenfeld. Tel. 052-723 70 60, Fax 052-723 70 59, E-Mail: info@blasenzentrum-frauenfeld.ch.
Urologie • Juni 2014
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Welche Ansatzpunkte verfolgen Sie bei der
weiteren Forschung? Wird daraus ein Test für
den Alltag resultieren?
MG: Die Ziele unserer Forschung sind es,
die molekularen Ursachen der Interstitiellen
Zystitis zu ergründen, charakteristische mo-
lekulare Marker zu finden und einen Diag-
nosetest zu erarbeiten. Seit 2006 haben wir
von über 200 Patientinnen Gewebeproben
aus der Blase, aber auch Blut- und Urin-
Volker Viereck
proben gesammelt. Mit Genexpressionsarrays wurden Blasenbiopsien von Patientin-
nen mit dem Spätstadium der Interstitiellen Zystitis und von
gesunden Kontrollen verglichen. Dabei haben wir über 1000
charakteristische Genexpressionen für die Interstitielle Zysti-
tis gefunden. Werden diese Daten mit Genexpressionsprofilen
von anderen Krankheiten verglichen, so fällt auf, dass die In-
terstitielle Zystitis Ähnlichkeiten mit Krankheiten des Immun-
systems und mit lymphatischen und rheumatischen Krank-
heiten hat. Interessant ist, dass viele gefundene, stark
exprimierte Gene typisch für B- und T-Lymphozyten sind. Die
dominanten biologischen Prozesse sind die Immun- und Ent-
zündungsreaktionen.
Einige dieser Genexpressionen haben wir ausgewählt und bei
einem grösseren Patientinnenkollektiv getestet. Neben den
Patientinnen mit dem Spätstadium «Interstitielle Zystitis»,
das heisst mit den sogenannten «Hunnerschen Läsionen»,
wurden auch Blasenbiopsien von Reizblasenpatientinnen un-
tersucht. Dabei wurden gewisse Genexpressionsmarker bei
den Reizblasenpatientinnen in einer mittleren Konzentration
Bei der Preisverleihung in Stockholm v. l. n. r.: Ken Jones, Präsident und CEO Astellas Pharma Europe, Dr. sc. nat. Marianne Gamper, Prof. Dr. med. Volker Viereck, Prof. Dr. med. Sigrid Regauer, Yoshihiko Hatanaka, CEO und Präsident Astellas, Ayad Abdulahad, SVP Medical Affairs Astellas Pharma Europe.
Astellas European Foundation
Die gemeinnützige Astellas European Foundation verfolgt das langfristige Ziel, Programme und Aktivitäten zur Förderung der öffentlichen Gesundheit zu unterstützen. Die Stiftung wurde 2005 mit Geldern der Astellas Pharma Inc. gegründet, operiert aber unabhängig. Im Rahmen dieser Zielsetzung unterstützt die Stiftung Wohltätigkeitsorganisationen aus aller Welt mit beträchtlichen Spenden. Neben der Förderung von Forschungsaktivitäten zählen zu den Aktivitäten weiterhin Massnahmen wie Nothilfe an internationale NGO sowie die Unterstützung diverser Wohltätigkeitsorganisationen.
zwischen Interstitieller Zystitis und gesunden Kontrollen nachgewiesen. Das führte dann zur Idee, einen Diagnosetest für die Früherkennung zu erarbeiten.
Liefert die Genexpression geeignete Parameter für einen diagnostischen Test? MG: Von der Aussagekraft her, ja. Aber für die Praxis geeigneter als die Messung der Genexpression in Blasenbiopsien ist eine Analyse im Urin. Dies würde die Diagnosestellung wesentlich vereinfachen, wäre für die Patientinnen nicht invasiv, bringt keine Komplikationen und wäre enorm kostensparend. Bis anhin brauchte es für die Gewebeprobe eine «kurze Narkose», eine sogenannte «Analgosedierung», und die Blutung aus der Biopsiestelle wurde durch Koagulation gestillt. Bis ein Diagnosetest im Urin für den Routinegebrauch etabliert ist, kann es noch Jahre dauern. Deshalb hoffen wir, dass unsere wissenschaftlichen Projekte auch weiterhin finanziell unterstützt werden.
Hätte es therapeutische Konsequenzen, wenn diese Krankheitsformen zusammenhängen? Oder geht es in erster Linie um die Früherkennung? VV: Unsere Hauptmotivation ist es, den Patientinnen mit diesen schweren Blasenkrankheiten mehr Lebensqualität zu ermöglichen. Es gilt herauszufinden, ob und welche der Patientinnen mit Reizblase eine Frühform der Interstitiellen Zystitis haben. Es ist derzeit noch schwer abzuschätzen, wie die Therapie in einem Frühstadium greifen wird und ob der Krankheitsverlauf gemildert oder im besten Fall geheilt werden kann. Wir gehen aber aufgrund unserer klinischen Expertise stark davon aus. Die praktische Bedeutung einer Früherkennung wäre also sehr gross. Die beiden Blasenerkrankungen Reizblase und Interstitielle Zystitis werden heute noch unterschiedlich behandelt. Im Moment wird die Reizblase mit blasenberuhigenden Medikamenten, physiotherapeutischen Massnahmen, grossen Trinkmengen sowie spezifischer Intimpflege behandelt. Diese Massnahmen bringen vielen Patientinnen eine Verbesserung oder Heilung ihrer Beschwerden. Beim Spätstadium der Interstitiellen Zystitis werden spezielle Blaseninstillationen mit relativ teuren Medikamenten durchgeführt. Das ist auch mit einem grossen Zeitaufwand für die Patientin verbunden. Nach rationaler Diagnose eines Frühstadiums der Interstitellen Zystitis könnten diese Medikamente früher eingesetzt werden, und die Behandlung wäre höchstwahrscheinlich erfolgreicher als in einem späteren Stadium. MG: Unsere Forschungsergebnisse könnten aber auch das Tor zu einer neuartigen molekularbiologischen Blasentherapie, einer sogenannten «Targeted Therapy», öffnen. Darunter versteht man moderne Therapieprinzipien zum Beispiel mit monoklonalen Antikörpern, die sich gezielt an molekulare Strukturen von schädlichen Zellen binden und dadurch bewirken, dass diese Zellen absterben. Diese Therapie unterscheidet sich von den klassischen Therapien dadurch, dass sie selektiv die schädlichen, aber nicht die gesunden Zellen angreift.
Die Fragen stellte Christine Mücke.
Publikationen: 1. Gamper M et al., Int Urogynecol J 2013; 24: 2049–2057. 2. Gamper M et al., BMC Genomics 2009; 10: 199.
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