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Chronische Obstipation bei Kindern
Steckt vielleicht eine Nahrungsmittelallergie dahinter?
Chronischer Durchfall ist bei Kindern mit Kuhmilchintoleranz das häufigste gastrointestinale Symptom. Können aber Nahrungsmittelallergien gelegentlich auch zum gegensätzlichen Symptom, also zu chronischer Obstipation, führen? Ein Teil der Kleinkinder mit chronischer Verstopfung reagiere tatsächlich positiv auf kuhmilchfreie Diät, berichtete Prof. Dr. Sibylle Koletzko, Kinderklinik im Dr. von Haunerschen Kinderspital, Ludwig-Maximilians-Universität, München. Noch unklar sei jedoch, welcher Mechanismus für die Kuhmilch-ObstipationConnection verantwortlich sei und ob es sich dabei um eine Allergie handle.
V erstopfung ist bei Kindern ein häufiges Problem. Beispielsweise aus Italien werde berichtet, dass 17,6 Prozent der Kinder verstopft seien mit weniger als 3 Defäkationen pro Woche, sagte die Referentin. Häufig sei nicht die Darmpassage verlangsamt, sondern es handle sich um ein Stuhlretentionsverhalten mit Stuhlverhärtung.
Kuhmilchallergie an chronischer Obstipation schuld?
Aus zahlreichen Fallberichten und aus randomisierten, kontrollierten Interventionsstudien ist bekannt, dass allergische Entzündungen bei Kindern die Darmpassage nicht nur beschleunigen, sondern auch verzögern können, sodass es zu schwerer Verstopfung kommen kann. In einer prospektiven, nicht plazebokontrollierten Studie zeigte die sizilianische Arbeitsgruppe von Giuseppe Iacono, Palermo, dass von 27 Kindern im Alter von 5 bis 36 Monaten, alle mit therapierefraktärer Obstipation, 21 (78%) auf eine kuhmilchfreie Diät ansprachen (1). Als dieselbe Arbeitsgruppe 3 Jahre später in einer so renommierten Fachzeitschrift wie dem «New England Journal of Medicine» die erstaunlichen Resultate einer grösseren, nunmehr doppelblinden Cross-Over-Studie publizierte, waren manche Spezialisten perplex. Hatten sie jahrelang die Gelegenheit verpasst, zahlreichen Kindern mit chronischer Obstipation durch kuhmilchfreie Diät das Leben zu erleichtern?
Spezifische IgE-Antikörper nicht immer vorhanden
Während der Studie sprach die chronische Verstopfung bei 68 Prozent von 65 Kleinkindern im Alter von 11 bis 72 Monaten auf den Ersatz der Kuhmilch durch Sojamilch
an (2). Vor Studienbeginn waren die 65 Kinder während durchschnittlich 8,7 Monaten chronisch verstopft (1 Stuhlentleerung alle 3 bis 15 Tage) und hatten nicht auf Laxanzien angesprochen. Bei 49 Kindern bestanden Analfissuren mit perianalem Erythem oder Ödem. Nach einer 2-wöchigen Beobachtungsperiode erhielt je die Hälfte der Kinder während 2 Wochen Kuhmilch oder Sojamilch. Anschliessend folgte eine 1-wöchige Auswaschperiode, und danach wurde die Milchart für 2 Wochen gewechselt. Als positives Ansprechen wurden mindestens 8 Stuhlentleerungen während einer 2-wöchigen Behandlungsperiode gewertet. Bei 44 Kindern verschwanden in der Sojamilchperiode nicht nur die Verstopfung, sondern auch die Defäkationsschmerzen sowie die Analfissuren und das perianale Erythem oder Ödem. In der Kuhmilchperiode sprach dagegen kein Kind positiv an. Die doppelblinde, plazebokontrollierte, orale Provokationstestung mit Kuhmilch bestätigte den schädlichen Einfluss der Kuhmilch. Nach 5 bis 10 Tagen unter Kuhmilchprovokationsdiät wurden alle Kinder, die auf Sojamilch positiv angesprochen hatten, wieder verstopft, der Stuhl wurde wieder hart und die Defäkation wieder schmerzhaft. Nur 18 der 44 Kinder, die
Symptome bei allergischer Reaktion
Wenn allergische Reaktionen den Magen-Darm-Trakt betreffen, können vielfältige Symptome ausgelöst werden: • Dysmotilität im oberen Gastrointestinaltrakt: zum Beispiel
Nausea, Erbrechen, verzögerte Magenentleerung, Bauchschmerzen • Dysmotilität im unteren Gastrointestinaltrakt: Diarrhö bei zu schnellem Transit, Obstipation bei zu langsamem Transit • Gastrointestinale Entzündung mit Ulzerationen, Blutungen oder enteropathischem Proteinverlust • Systemische Reaktionen, Anaphylaxie
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ronen kommunizierten, berichtete die Referentin. Wenn die Mastzellen degranulieren, werden auch die Nervenzellen getroffen. Die Beeinflussung von Nervenzellen des Plexus submucosus bewirkt gesteigerte Sekretion mit Diarrhö und Schmerzen. Werden dagegen Neuronen des Plexus myentericus getroffen, wird die Motilität beeinträchtigt, sodass die Darmpassage verlangsamt wird und Verstopfung resultiert.
Eine Verstopfung oder eine Diarrhö können Symptome einer allergischen Reaktion sein.
auf Sojamilch ansprachen, wiesen spezifische IgE-Antikörper gegen Kuhmilchantigen auf. Wahrscheinlich spielen also IgE-Antikörper bei der allergischen Reaktion, die zur Dysmotilität mit Obstipation führt, keine oder nur eine untergeordnete Rolle.
Mögliche pathogenetische Mechanismen
Nachfolgende Studien hätten die hohe Ansprechrate von gut zwei Dritteln (68%) nie reproduzieren können, berichtete Koletzko. Sie äusserte die Vermutung, dass sich an der sizilianischen Studie besonders stark selektionierte Kinder beteiligten. In einer neueren spanischen Cross-Over-Studie sprach etwas mehr als ein Drittel (39%) von 69 Kindern mit chronischer Verstopfung klar und reproduzierbar auf eine kuhmilchfreie Diät an (3). Bei diesen 27 Kindern besserte sich der Stuhlgang während einer ersten Phase mit Kuhmilcheliminationsdiät. Sobald sie wieder Kuhmilcheiweiss erhielten (Provokationsphase), wurden die Kinder wieder verstopft. Schliesslich sprachen sie auf eine zweite Phase mit kuhmilchfreier Diät erneut positiv an. Mit keinem Labortest liess sich das Ansprechen oder Nichtansprechen voraussagen. Eine durch spezifische IgE-Antikörper vermittelte immunologische Pathogenese war nicht nachweisbar (3). Wie kann denn eine allergische Entzündung der Darmschleimhaut bei verstopften Kindern ohne nachweisbare spezifische IgE-Antikörper die Darmmotilität beeinflussen? Wahrscheinlich können die in erhöhter Zahl in der Dickdarmwand nachweisbaren eosinophilen Granulozyten, Mastzellen und Lymphozyten eine «myenterische Ganglionitis» auslösen, also eine Entzündung des Nervensystems im Darm, und dadurch die Darmmotilität stören. Beispielsweise sei bekannt, dass sich Mastzellen nahe bei Darmganglienzellen befänden und mit den Neu-
Eliminationsdiät hilft Erwachsenen mit chronischen Analfissuren
Bei Patienten mit chronischer Verstopfung, die mit Kuhmilchhypersensitivität assoziiert ist, wird ein erhöhter Ruhedruck des Analsphinkters gemessen, und häufig sind Analfissuren zu finden. Ein hoher Sphinkterdruck begünstigt die Entstehung von Analfissuren, die durch Schmerzen bei der Defäkation das Stuhlretentionsverhalten und die Verstopfung verstärken. In einer aktuellen Studie wurde getestet, ob Erwachsene mit schmerzhaften, chronischen Analfissuren von einer Eliminationsdiät (oligoantigene Diät) profitieren können (4). 161 Patienten mit chronischen Analfissuren wurden randomisiert 2 Gruppen zugeteilt, die während 8 Wochen entweder eine echte oligoantigene Eliminationsdiät oder eine Scheineliminationsdiät befolgten. Zudem wurde in beiden Gruppen topisch mit Nifedipin und Lidocain behandelt. In der Gruppe mit echter Eliminationsdiät heilten die Analfissuren bei 69 Prozent komplett ab, in der Scheindiätgruppe dagegen nur bei 45 Prozent (4). Im doppelblinden, plazebokontrollierten, oralen Provokationstest kam es bei 13 der 60 durch Eliminationsdiät geheilten Patienten durch Kuhmilchprovokation und bei 7 Patienten durch Weizenprovokation zum Rückfall (erneutes Auftreten von Analfissuren und Zunahme des Ruhedrucks des Sphincter ani). Zumindest bei 20 der insgesamt 161 Erwachsenen mit schmerzhaften chronischen Analfissuren war also ein Zusammenhang mit Nahrungsmitteln eindeutig nachweisbar.
Alfred Lienhard
Referenzen: 1. Carroccio A et al. Review article: chronic constipation and food hypersensitivity – an intriguing relationship. Aliment Pharmacol Ther 2006; 24: 1295–1304. 2. Iacono G et al. Intolerance of cow’s milk and chronic constipation in children. N Engl J Med 1998; 339: 1100–1104. 3. Irastorza I et al. Cow’s-milk-free diet as a therapeutic option in childhood chronic constipation. J Pediatr Gastroenterol Nutr 2010; 51: 171–176. 4. Carroccio A et al. Oligo-antigenic diet in the treatment of chronic anal fissures. Evidence for a relationship between food hypersensitivity and anal fissures. Am J Gastroenterol 2013; 108: 825–832.
Quelle: «Infantile colitis and chronic obstipation – Can food allergy be the cause?». Vortrag im Workshop 17: «Gastro-intestinal food allergy», EAACI-WAO World Allergy & Asthma Congress, 24. Juni 2013 in Mailand.
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