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Ressourcen fördern, nicht nur Defizite beheben
Altersmedizin muss mehr leisten als die Organmedizin bei jüngeren Patienten. Zentrale Aspekte in der Betreuung betagter und hochbetagter Menschen seien Autonomie und Teilhabe, erklärte Prof. Dr. Cornel Christian Sieber, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Chefarzt Barmherzige-Brüder-Krankenhaus, Regensburg.
Die Konsequenzen der Bevölkerungsalterung werden in Medien, politischen Debatten und manchmal auch in der Forschung missverstanden. Das Altern wird am häufigsten in negative Begriffe gefasst und mit der Frage verbunden, ob Gesundheits- und Sozialwesen sowie wirtschaftliches Wachstum erhalten werden können. «Wir plädieren dafür, dass die grössere Langlebigkeit der Menschen nicht als Problem, sondern als ein Grund zur Feier angesehen wird», zitierte Sieber einen Brief engagierter Fachleute an die Zeitschrift «The Lancet» (1). Mit dieser Einstellung ist ein auch menschlich gewinnbringender Zugang zu den besonderen Fragestellungen in der Geriatrie möglich. Diese umfassen mehr als die organorientierte Medizin und beziehen in einem Team zusätzliche Therapien mit ein, die zum Ziel haben, den funktionellen Zustand alter Menschen, deren Lebensqualität und Autonomie zu optimieren. Die grossen Herausforderungen im letzten Lebensabschnitt sind: • Immobilität • Instabilität • Inkontinenz • intellektueller Abbau • Isolation • iatrogene Probleme • Inappetenz.
Der andere Blick
Die geriatrische Medizin stützt sich auf zwei Hauptachsen. Einerseits ist dies die herkömmliche Nosologie der Organmedizin mit Diagnose und kausaler Therapie, allenfalls durch Spezialisten. Andererseits versucht die Geriatrie das Problem der Behinderung durch geeignete Erhebungsinstrumente – also mittels Funktionsanalyse – zu erfassen und einen Therapiebedarf zu formulieren, wobei das funktionelle Resultat zählt. Die Berücksichtigung funktioneller Aspekte führt auch zu
einer anderen Einschätzung der Altersentwicklung auf Bevölkerungsebene. Klassischerweise wird bloss ein Altersquotient angegeben, das heisst der Anteil der über 65Jährigen. Heute bleiben ältere Menschen jedoch länger gesund, übernehmen oft noch Jobs oder kümmern sich um andere Menschen. Die Adult Diasability Dependency Ratio (ADDR) trägt anstelle des Alters dem Gesundheitszustand Rechnung, womit sich eine neue Rechnung auftut (2). Während nach dem klassischen Altersquotienten für 2010 auf 100 Erwerbstätige 33 Rentner kommen – und 2050 sogar 63 auf 100 –, zeigt die ADDR, dass 2010 auf 100 Menschen nur 12 mit Aktivitätseinschränkungen entfallen und dass dieser Anteil 2050 lediglich auf 15 pro 100 steigen wird.
Alte sind anders
Heute kann sich die Geriatrie auf eine ganze Batterie von Funktionsmessungen stützen, welche körperliche Aspekte wie Gehgeschwindigkeit, Alltagsaktivitäten oder Kognition (MMSE, Uhrtest), Depression und auch den Ernährungszustand (Mini Nutritional Assessment, MNA) erfassen. «Ein sehr feiner Kognitionstest ist die einfache Frage nach den Stufen bis zur Wohnungstür. Betagte, vor allem mit Herzinsuffizienz, wissen das in der Regel ganz genau. Erhalten Sie keine präzise Antwort, lohnt sich ein MiniMental-Status-Test», erwähnte Sieber. Im Gegensatz zur herkömmlichen ICD-Klassifikation berücksichtigt die International Classification of Functionality, Disability and Health (ICF) der WHO neben Funktionsfähigkeit und Behinderung auch Kontextfaktoren. «Praktisch wichtig ist es, die Leistung der Körperfunktionen im Kontext der gegenwärtigen, tatsächlichen Umwelt zu betrachten, denn nur sie ermöglicht den für die Betroffenen ausschlaggebenden Aspekt: die Teilhabe», betonte Sieber. Übergewicht hat im Alter eine andere Bedeutung als in jungen Jahren. Betrachtet man die Beziehung zwischen
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Body-Mass-Index (BMI) und Mortalität, verläuft diese uförmig mit einem Sterblichkeitsminimum bei einem BMI zwischen 25 und unter 30, also nicht etwa bei «Normalgewicht» (3). «Machen Sie daher nie Diäten bei hochbetagten Menschen, sie werden nur Muskelmasse verlieren», mahnte der Altersmediziner. Der wichtige funktionelle Aspekt – sich selbst waschen, anziehen, einkaufen und so weiter – wird mit dem ADL-Score (Activities of Daily Living) erfasst. Auch die Höhe des ADL ist vom BMI abhängig und zeigt ein Optimum bei einem BMI von 25 (3).
Frailty und Sarkopenie
Der dem Angelsächsischen entlehnte Begriff Frailty hat eine zentrale Bedeutung erlangt. Frailty geht über das deutsche Wort Gebrechlichkeit hinaus und beschreibt ein altersassoziiertes Syndrom, das gekennzeichnet ist durch eine verminderte Widerstandskraft gegenüber internen und externen Stressoren. Personen, die am Frailty-Syndrom leiden, haben ein erhöhtes Risiko für den Verlust der Selbstständigkeit, für Hospitalisierungen und Tod (4). Neben der physischen gibt es auch eine psychische und eine soziale Frailty (Stichwort Altersarmut). Praktisch äussert sich die körperliche Frailty durch: • Gewichtsverlust (> 5 kg innert 12 Monaten) • empfundene Erschöpfung • Schwäche (Handgriff ) • langsame Gehweise • geringe physische Aktivität. Treffen 1 bis 2 dieser Kriterien zu, wird das als prefrail bezeichnet, ab 3 Punkten ist der Patient frail (5). Von über 65-Jährigen sind rund zwei Drittel prefrail oder frail, also in ihrer Funktionalität eingeschränkt. Gemeinsamer Nenner der Kraft- und Bewegungseinschänkungen ist die Sarkopenie, der altersbedingte Schwund an Muskelmasse. Das lässt sich apparativ messen, aber auch im einfachen Gehtest erfassen. Zur Erfassung der Gehgeschwindigkeit soll der Patient vier Meter gehen, gestoppt wird die benötigte Zeit. Benötigt er mehr als 1 Sekunde pro Meter, ist von einer erhöhten Mortalität auszugehen. Die Muskelmasse kann auch einfach abgeschätzt werden durch Messung des grössten Umfangs am Unterschenkel: Beträgt der Wert unter 31 cm, liegt eine Sarkopenie vor. Eine ausgemergelte Erscheinung legt selbstverständlich eine Sarkopenie nahe, in zunehmender Häufigkeit ist aber auch eine sarkopene Fettleibigkeit zu beobachten, erkennbar an grossem Bauchumfang bei dünnen Beinen.
Polypharmazie als Herausforderung
Organstörungen und Defizite im Alter verleiten oft zu immer neuen therapeutischen Interventionen, was zu langen Listen von Medikamenten führt, welche die Patienten täglich einnehmen sollen. Sieber zitierte in diesem Zusammenhang eine wichtige Arbeit, die am Beispiel einer hypothetischen, multimorbiden, 79-jährigen Frau vorrechnete, dass die Patientin guidelinekonform 12 verschie-
Kasten 1:
Spezifika bei betagten und hochbetagten Patienten
• anderes Risiko • anderer Vorstatus • andere Belastbarkeit • andere Zeitperspektive • andere Zielperspektive
Kasten 2:
Die Priscus-Liste – Hilfsmittel bei der medikamentösen Prioritätensetzung im Alter
• Was muss man bei der Behandlung älterer Menschen berücksichtigen?
• Wie müssen Medikamente aufeinander abgestimmt werden, wenn mehrere chronische Erkrankungen vorliegen?
• Was sind die Ziele der Therapie?
Das Verbundprojekt Priscus (lateinisch: alt, altehrwürdig), koordiniert von der Ruhr-Universität Bochum, sucht Antworten auf diese Fragen. Die Priscus-Liste potenziell inadäquater Medikation für ältere Menschen steht zum Download bereit unter: www.priscus.net
Kasten 3:
Überzeugende Evidenz für Krafttraining und Supplemente bei Frailty
Arbeitsgruppen der Cochrane-Library haben auch nach klinischer Evidenz für Therapieansätze bei geriatrischen Patienten gesucht und sind zu positiven Bewertungen gekommen. Eine Analyse von 121 randomisierten, kontrollierten Studien mit 6700 Teilnehmern untersuchte progressives Widerstandstraining, zwei- bis dreimal pro Woche und in hoher Intensität (1). Die Übersicht ergab, dass das Krafttraining eine effektive Intervention zur Verbesserung der körperlichen Funktionalität bei älteren Menschen war und neben der Steigerung der Kraft auch die Leistungsfähigkeit bei einfachen und komplexen Aktivitäten günstig beeinflusste. Einschränkend halten die Autoren fest, dass sich die Ergebnisse ausserhalb von Studien anders präsentieren könnten und dass mögliche Nebenwirkungen nur ganz unzureichend erfasst wurden. Im Alter sind viele Menschen mangelernährt. Diese prekäre Ernährungssituation kann durch interkurrente Erkrankungen noch verstärkt werden. Daher werden viele Eiweissund/oder Energiesupplemente angeboten, oft in Form von Trinklösungen. Ein Cochrane-Review berücksichtigte randomisierte und «quasirandomisierte» kontrollierte Studien mit derartigen Supplementen bei alten Menschen (2). Die Autoren fanden 62 Studien mit 10 187 Teilnehmenden. Die Nahrungsergänzung bewirkte eine kleine, aber konsistente Gewichtszunahme. Die Mortalität könnte bei unterernährten Betagten durch Supplemente gesenkt werden. Ein günstiger Effekt auf Komplikationen bedarf der Bestätigung. Verbesserungen beim funktionellen Status und Verkürzungen der Hospitalisationsdauer liessen sich nicht nachweisen (Stand 2009).
1. Liu CJ et al. Progressive resistance strength training for improving physical function in older adults. Cochrane Database Syst Rev 2009; 8: CD002759. 2. Milne AC et al. Protein and energy supplementation in elderly people at risk from malnutrition. Cochrane Database Syst Rev 2009 Apr 15; (2): CD003288.
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dene Medikamente in 19 Dosen pro Tag zu 5 verschiedenen Zeitpunkten einzunehmen hätte (6). Selbst bei Einsatz von Kombinationspräparaten und Verzicht auf gewisse eher präventiv eingesetzte Wirkstoffe (z.B. Statin, Bisphosphonat) liess sich diese Verschreibungsliste nur auf 9 Wirkstoffe und 12 Dosen reduzieren. Bei der immer wieder notwendigen Revision der Medikationsliste alter Menschen soll man sich die Spezifika geriatrischer Patienten vor Augen halten (Kasten 1) und eine priorisierende Medizin pflegen. «Priorisierung hat nichts mit Rationierung zu tun», sagte Sieber, «ein gutes Hilfsmittel hierbei ist die Priscus-Liste» (Kasten 2).
Kein Nihilismus bei Hochbetagten
Umgekehrt lohnen sich therapeutische Interventionen auch bei stark funktionseingeschränkten Menschen im hohen Alter (Kasten 3). So liess sich zeigen, dass eine intensive geriatrische Rehabilitation nach Schenkelhalsfraktur auch bei Patienten mit mittelschwerer Demenz zu einer messbaren Funktionsverbesserung mit Reduktion der Pflegebedürftigkeit (Barthel-Index) führte. «Wir müssen bei älteren multimorbiden Menschen von einer defizit-
orientierten zu einer ressourcenorientierten Medizin kommen», mahnte Sieber, «das im Hinblick auf die Erhaltung von Funktionalität und damit Selbstständigkeit.» Auch bei Patienten mit Frailty-Syndrom lassen sich in Kooperation zwischen Sozialdiensten und Altersmedizin praktisch wertvolle Erfolge erzielen.
Halid Bas
Referenzen: 1. Peter LS et al. Population ageing and health. Lancet 2012; 379: 1295– 1296. 2. Sanderson WC, Sherbov S. Remeasuring Aging. Science 2010; 329: 1287–1288. 3. Al Snih S et al. The effect of obesity on disability vs mortality in older Americans. Arch Intern Med. 2007; 167 (8): 774–780. 4. Bergman H et al. Frailty: an emerging research and clinical paradigm – issues and controversies. J Gerontol A Biol Sci Med Sci 2007; 62 (7): 731–737. 5. Fried LP et al. Frailty in older adults: evidence for a phenotype. J Gerontol A Biol Sci Med Sci 2002; 56 (3): M146–156. 6. Boyd CM et al. Clinical practice guidelines and quality of care for older patients with multiple comorbid diseases. Implications for pay for performance. JAMA 2005; 294(6): 716–724.
Quelle: «Geriatrie». Hauptreferat 3 an der 15. Fortbildungstagung des Kollegiums für Hausarztmedizin (KHM), 21. Juni 2013 in Luzern.
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