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Ein «schlagendes» Argument für die Antikoagulation
Für neu einzustellende Patienten mit Vorhofflimmern sowie für solche mit schlechten INR-Werten sind die neuen oralen Antikoagulanzien (NOAK) in der Schlaganfallprophylaxe eine gute Alternative zu den traditionellen Vitamin-K-Antagonisten. Bisher gibt es für Dabigatran in längerfristigen Studien keine Hinweise auf versteckte Nebenwirkungen.
E twa 16 Prozent der Hirnschlagpatienten zeigen ein Vorhofflimmern. Dieses ist aber nur bei rund 10 Prozent die Strokeursache. «Wir sehen recht häufig Patienten, die neben dem Vorhofflimmern auch eine Karotisstenose haben – man muss also immer auch andere Strokeursachen suchen», betonte Prof. Dr. Heinrich Mattle, Neurovaskuläre Abklärungsstation und Stroke Unit, Inselspital Bern. Bluthochdruck, Übergewicht und Diabetes, auch ein Schlafapnoesyndrom, Nierenfunktionsstörungen oder Herzklappenerkrankungen können ein Vorhofflimmern begünstigen. Hausärztinnen und Hausärzte sehen die meisten Patienten mit Vorhofflimmern als Erste. Der typische Patient mit Hirnschlag und Vorhofflimmern hat einen durch einen Embolus hervorgerufenen Territorial-
RE-LY und RELY-ABLE: Schlaganfall und systemische Embolie
0,10 0,08
Dabigatran 150: 1,25 %/Jahr Dabigatran 110: 1,54 %/Jahr HR: 0.81; KI: 95% (0,66–0,96)
Kumulatives Risiko
0,06 0,04 0,02
RE-LY
RELY-ABLE
0 01234 Jahre
Warfarin (nur RE-LY)* Dabigatran 150 mg 2×/Tag Dabigatran 110 mg 2×/Tag
HR = hazard ratio / *Daten aus RE-LY
nach Connolly SJ et al.: AHA Scientific Sessions, 2012
Abbildung: Als Verlängerung der RE-LY-Studie wurden in RELY-ABLE Wirksamkeit und Sicherheit von Dabigatran über 4,3 Jahre hinweg bestätigt: Es ergaben sich weiterhin niedrige Raten an Schlaganfällen und systemischen Embolien unter beiden Dosierungen.
infarkt. Mit den heutigen Möglichkeiten der Bildgebung können sowohl das Volumen des «verlorenen» Hirnareals als auch das perfusionsverminderte, durch Revaskularisation noch rettbare Hirnvolumen erfasst werden.
Antikoagulation als effektive Prävention
Hirnschlagpatienten mit Vorhofflimmern haben ein erhöhtes Risiko für einen erneuten Stroke, und dieses lässt sich ebenso wie das grössere Sterberisiko durch Antithrombotika senken. Parallel dazu verbessern Rhythmus- und Frequenzkontrolle die Herzleistung und die Lebensqualität der Betroffenen. Dies reicht in der Regel jedoch nicht, um das Risiko erneuter zerebraler Embolien zu eliminieren. Dieses Risiko ist mit 12 Prozent pro Jahr sehr hoch. Antithrombotika reduzieren es auf zirka 4 Prozent pro Jahr. «Die Antikoagulation gehört somit in dieser Situation zu einer der wirksamsten medizinischen Präventionsmassnahmen», stellte Mattle fest. Auch bei Patienten mit Vorhofflimmern, die noch kein zerebrales Embolieereignis erlitten haben, senkt die medikamentöse Gerinnungshemmung das Hirnschlagrisiko um zwei Drittel. Das Strokerisiko ist somit «schlagendes» Argument für die Antikoagulation. Nach einer Erhebung aus Basel erhielt aber ein Drittel der Patienten mit Vorhofflimmern und etabliertem Hirnschlagrisiko keine suffiziente medikamentöse Embolieprophylaxe, also entweder gar nichts oder nur ASS beziehungsweise Clopidogrel (1). Der Nutzen der Antikoagulation wird in vielen Fällen bei unmittelbarem Beginn nach dem Hirnschlagereignis durch Blutungen zunichte gemacht. Daher gilt heute folgende Empfehlung (2): • transient ischämische Attacke (TIA): Antikoagulation so-
fort beginnen • leichter Hirnschlag (≤ 4 Punkte auf der NIH-Stroke-
skala): 3 bis 5 Tage warten • mittelgrosse bis schwere Hirninfarkte: 7 bis 14 Tage war-
ten
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Ein wichtiges Ziel muss sein, Hirnblutungen unter antithrombotischer Therapie zu vermeiden. Plättchenhemmer wie ASS oder Clopidogrel sollten wenn irgend möglich nicht mit Antikoagulanzien kombiniert werden, und die INR unter Vitamin-K-Antagonisten (VKA) ist unter 3,0 zu halten (3). «Wichtigster Faktor ist aber der systolische Blutdruck, dieser sollte unter 140 mmHg gesenkt werden», wie Mattle hervorhob. Hat ein Patient mit Vorhofflimmern unter Antikoagulation eine Hirnblutung erlitten, ist die Frage nach einer Wiederaufnahme der Gerinnungshemmung differenziert zu stellen. Randomisierte Studien dazu gibt es nicht, die Empfehlungen stützen sich auf die klinische Erfahrung. Bei tiefen Hirnblutungen, beispielsweise in Basalganglien, Thalamus oder Hirnstamm, soll man die Antikoagulation nach 10 bis 14 Tagen wieder aufnehmen. Bei Blutungen in die Hirnlappen kann das Risiko den Nutzen aufwiegen, und hier ist nach der Ätiologie der Blutung zu unterscheiden. Bei Amyloidangiopathie liegt eine Kontraindikation vor, bei einem kleinen Kavernom kann hingegen antikoaguliert werden. «Das Risiko von Stürzen unter Antikoagulation wird im Hinblick auf intrakranielle Blutungen vermutlich überschätzt», meinte Mattle unter Hinweis auf europäische Guidelines (4), «ein Patient dazu müsste pro Jahr 300-mal stürzen, um den Nutzen der Antikoagulation für die Strokeprävention zunichte zu machen.»
Heute möglich: weniger Blutungen
Wegen des Blutungsrisikos muss vor Beginn einer Antikoagulation ein Risiko-Assessment erfolgen, wozu sich heute der CHA2DS2-VASc-Score anbietet, erklärte Prof. Dr. David Conen, Leitender Arzt Innere Medizin, Universitätsklinik Basel. Bisher erfolgte die Antikoagulation mit einem VKA (Warfarin bzw. Phenprocoumon [Marcoumar®]). Eine Zusammenfassung zeigt, dass die jährliche Schlaganfallrate bei Patienten mit Vorhofflimmern in randomisierten Studien im Warfarinarm zirka 1,7 Prozent pro Jahr betrug, bei einer Häufigkeit intrakranieller Blutungen von 0,61 Prozent pro Jahr (5). Heute stehen in der Strokeprophylaxe neue orale Antikoagulanzien (NOAK) zur Verfügung. In der Schweiz sind dies derzeit Dabigatran (Pradaxa®) sowie Rivaroxaban (Xarelto®). «Wenn man das Ziel der Vermeidung von Hirnblutungen vor Augen hat, sind die NOAK eine Option, denn unter den neuen Wirkstoffen war dieses Risiko im Vergleich zu VKA deutlich geringer. Warum dies so ist, ist nicht ganz klar. Eine Theorie besagt, dass im Hirn viel Faktor VII vorhanden ist, um kleine Blutungen einzudämmen, und dass dieser Schutzmechanismus unter VKA beeinträchtigt wird, nicht aber unter den NOAK», bemerkte Conen. Der absolute Nutzen von Dabigatran im Vergleich zu Plazebo beziehungsweise zu den bisherigen Optionen ist beachtlich. Bei Behandlung von 100 000 Patienten mit Vorhofflimmern während eines Jahres wären unter Plazebo
rund 6000 Schlaganfälle zu erwarten, unter ASS 3450, unter einem VKA 1540 und unter 2x150 mg Dabigatran nur 1010 Schlaganfälle (6). Im indirekten Vergleich war zudem unter den NOAK die Hirnblutungsrate deutlich geringer und lag im Bereich derjenigen von niedrig dosiertem ASS.
Bisherige Langzeitstudien «sehr beruhigend»
«Obwohl wir in der Schweiz im Vergleich zum Ausland sehr lange auf die neuen Medikamente warten mussten, haben wir jetzt den Vorteil, dass andere Länder schon viel mehr Erfahrung haben, zumindest mit Dabigatran», sagte Conen, «und in den bisher publizierten Studien haben sich keine Hinweise auf unerwartete Nebenwirkungen ergeben.» In einer eben veröffentlichten doppelblinden Fortsetzung der Zulassungsstudie von Dabigatran (RELY-ABLE) bei Vorhofflimmern zeigten sich auch unter Langzeitbeobachtung über durchschnittlich 2,3 Jahre für 2 x 150 mg und 2x110 mg Dabigatran vergleichbare Raten für ischämische und hämorrhagische Schlaganfälle, bei einer etwas höheren Rate von schweren Blutungen unter der 2 x 150-mgDosierung (7). «Sehr erfreulich ist, dass die Häufigkeit hämorrhagischer Schlaganfälle mit 0,13 Prozent pro Jahr weiterhin sehr niedrig war. Auch die Herzinfarktrate war mit 0,6 Prozent pro Jahr sehr tief. Dies ist ebenfalls wichtig, weil es Signale gab, dass Dabigatran mit einem leicht erhöhten Herzinfarktrisiko assoziiert sein könnte. Diese Studie zusammen mit einigen weiteren gibt keine Hinweise auf versteckte Nebenwirkungen, die wir noch nicht kennen. Wir müssen sicher weiter wachsam sein, aber dies ist sehr beruhigend», resümierte Conen.
Wichtig: Nierenfunktion
Für die NOAK ist die Nierenfunktion ein wichtiger Baustein bei der Aufnahme und Fortführung der gerinnungshemmenden Therapie. Dabigatran ist bei einer Kreatininclearance (CrCl) < 30 ml/min kontraindiziert. Bei Alter über 80 Jahre, CrCl 30 bis 50 ml/min und bei erhöhtem Blutungsrisiko ist die Dosis anzupassen auf 2 x 110 mg. Die Einnahme zusammen mit Wasser kann ein allfälliges Magenbrennen reduzieren. Auch bei Rivaroxaban ist bei einer CrCl von 30 bis 50 ml/min eine Dosisanpassung notwendig (von 1 x 20 mg auf 1 x 15 mg pro Tag). Rivaroxaban ist kontraindiziert bei stark eingeschränkter Nierenfunktion (CrCl < 15 ml/min), die Datenlage ist aber bei einer CrCl < 30 ml/min sehr dünn, meinte Conen. Bei schwerer Niereninsuffizienz besteht die chirurgische Alternative eines Verschlusses des linken Herzohrs. Operative Eingriffe sind bei Patienten mit Vorhofflimmern durchaus häufig, in der RELY-Studie mit Dabigatran waren Notfalloperationen während der Studiendauer bei gut 17 Prozent der Patienten notwendig, Wahloperationen bei zirka 3 Prozent (8). Trotz der kurzen Halbwertszeit dieser Medikamente ist vor der Operation ein gewisser Abstand einzuhalten. Dieser ist abhängig von der Nierenfunktion
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und vom zu erwartenden Blutungsrisiko. Bei einer akut notwendigen Operation ist nach der letzten Einnahme wenn möglich 12 Stunden abzuwarten, im Einzelfall müssen Blutungsrisiko und Dringlichkeit abgewogen werden. Während und nach Elektrokonversion ist das Schlaganfallrisiko gering, betonte Conen, und die Komplikationsraten sind für Dabigatran ähnlich wie für VKA, hingegen ist die Datenlage für die anderen NOAK deutlich schlechter. Als Indikationen für NOAK in der Schlaganfallprophylaxe bei Patienten mit Vorhofflimmern nannte Conen Neueinstellungen sowie schlechte INR-Werte unter VKA. Keine NOAK sollen verschrieben werden bei schwerer Niereninsuffizienz und bei Herzklappenprothesen.
Halid Bas
Referenzen: 1. Altmann DR et al. Use of the CHADS2 risk score to guide antithrombotic treatment in patients with atrial fibrillation – room for improvement. Swiss Med Wkly 2010; 140: 73–77. 2. Steiner T et al. Recommendations for the management of intracranial haemorrhage – part I: spontaneous intracerebral haemorrhage. The European Stroke Initiative Writing Committee and the Writing Commit-
tee for the EUSI Executive Committee. Cerebrovasc Dis. 2006; 22(4): 294–316. 3. Hart RG et al. Avoiding central nervous system bleeding during antithrombotic therapy: Recent data and ideas. Stroke 2005; 36: 1588– 1593. 4. Camm AJ et al. ESC Guidelines for the management of atrial fibrillation. Eur Heart J 2010; 31 (19): 2369–2429. 5. Agarwal S et al. Current trial-associated outcomes with warfarin in prevention of stroke in patients with nonvalvular atrial fibrillation: a meta-analysis. Arch Intern Med. 2012; 172 (8): 623–631. 6. Eikelboom JW et al. Dabigatran efficacy-safety assessment for stroke prevention in patients with atrial fibrillation. J Thromb Haemost. 2012; 10 (5): 966–968. 7. Conolly SJ et al. The long term multi-center observational study of dabigatran treatment in patients with atrial fibrillation: (RELY-ABLE) study. Circulation. 2013; 127: 1359–1368. 8. Healey JS et al. Periprocedural bleeding and thromboembolic events with dabigatran compared with warfarin: results from the Randomized Evaluation of Long-Term Anticoagulation Therapy (RE-LY) randomized trial. Circulation. 2012; 126(3): 343–348.
Quelle: «Antikoagulation bei nicht valvulärem Vorhofflimmern». Frühstückssymposium der Firma Boehringer-Ingelheim im Rahmen der 15. Fortbildungstagung des Kollegiums für Hausarztmedizin (KHM). 20. Juni 2013 in Luzern.
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