Transkript
CongressSelection
Neue ESH/ESC-Leitlinien für die Behandlung der arteriellen Hypertonie
Gleicher Zielblutdruck für alle
Anlässlich des 23. Europäischen Meetings der European Society of Hypertension (ESH) in Mailand stellten die ESH, vertreten durch Prof. Giuseppe Mancia, und die European Society of Cardiology (ESC), vertreten durch Prof. Robert Fagard, am 15. Juni 2013 die von den beiden Gesellschaften gemeinsam erarbeiteten neuen Leitlinien zum Management der arteriellen Hypertonie vor (1, 2).
Die Hypertonie ist weltweit der wichtigste behandelund damit vermeidbare Risikofaktor für frühzeitigen Tod. Trotz guter Behandlungsmöglichkeiten ist aber die Mehrheit der Hypertoniker nur ungenügend eingestellt. Leitlinien sollen helfen, Ärzte und Patienten für das Thema zu sensibilisieren, und dazu beitragen, dass künftig mehr Hypertonien besser kontrolliert sind. Eine gemeinsame Arbeitsgruppe der ESH und der ESC hat unter der Leitung von Prof. Dr. Giuseppe Mancia, Mailand, und Prof. Dr. Robert Fagard, Leuven, Belgien, die inzwischen sechs Jahre alten europäischen Leitlinien zum Management der arteriellen Hypertonie überarbeitet und Mitte Juni veröffentlicht. Die wichtigste Neuerung und Vereinfachung gegenüber den Leitlinien von 2007 ist bestimmt die Entscheidung, unabhängig vom kardiovaskulären Risiko für alle den gleichen Zielblutdruck von < 140 mmHg zu empfehlen. Weitere Neuerungen sind unter anderem: • epidemiologische Daten zur Hypertoniekontrolle in Europa • höhere Gewichtung der kardiovaskulären Risikostratifi- zierung • höhere Gewichtung der Heimblutdruckmessung • höhere Gewichtung der Lifestylemassnahmen. Aussagen mit Empfehlungsgrad und Evidenzlevel Neuerdings geben die Leitlinien auch die Empfehlungsgrade (I–III) und die Evidenzlevel (A–C) an. Die Empfehlungen beruhen in erster Linie auf Daten aus randomisierten, kontrollierten Studien (RCT), daneben wurden aber auch wichtige Beobachtungs- und andere Studien berücksichtigt. Epidemiologische Daten Für Erwachsene jeden Alters ist die Hypertonie definiert als systolischer Blutdruck ≥ 140 mmHg und/oder diastolischer Druck ≥ 90 mmHg. Werte zwischen 130/85 und 139/89 gelten als hochnormal. Die Hypertonie ist der weltweit wichtigste Faktor für eine erhöhte Mortalität und verantwortlich für 13 Prozent aller Todesfälle (3). Danach folgen Rauchen (9%), erhöhter Blutzucker (6%), körperliche Inaktivität (6%) und Übergewicht/Adipositas (5%). Die Hypertonieprävalenz liegt in der Gesamtbevölkerung bei 30 bis 45 Prozent, mit einem steilen Anstieg mit zunehmendem Alter. Kardiovaskuläre Risikostratifizierung Die neuen Leitlinien empfehlen, Entscheidungen bezüglich der therapeutischen Strategie vom initialen globalen kardiovaskulären Risiko abhängig zu machen und nicht allein von den Blutdruckwerten. Zur Erhöhung des kardiovaskulären Risikos, das in vier Klassen (tiefes, moderates, hohes und sehr hohes Risiko) unterteilt wird, tragen neben dem erhöhten Blutdruck auch andere kardiovaskuläre Risikofaktoren, asymptomatische Organschäden, Diabetes mellitus sowie kardiovaskuläre und chronische Nierenerkrankungen wesentlich bei (Tabelle 1). Heim- und 24-StundenBlutdruckmessung Neben der 24-Stunden-Blutdruckmessung, welche schon in den Leitlinien von 2007 für Diagnostik und Verlaufskontrolle empfohlen wurde, legen die neuen Leitlinien auch grosses Gewicht auf die Heimblutdruckmessung als zusätzliche Massnahme zum Monitoring von Hypertoniepatienten. Die Vorteile der Heimblutdruckmessung liegen auf der Hand: grössere Anzahl von Werten und bessere Abbildung der aktuellen Blutdruckwerte ausserhalb der Klinik-/Praxissituation. Studien zeigen zudem, dass der Heimblutdruck besser mit hypertoniebedingten Organschäden, insbesondere der linksventrikulären Hypertrophie, korreliert als der PraxisBlutdruck (4, 5). Auch was die Vorhersage der kardiovas- 20 Kardiologie SGK/ESH 2013 CongressSelection Tabelle 1: Beurteilung des globalen kardiovaskulären Risikos Andere Risikofaktoren, asymptomatische Organschäden oder Krankheiten Hochnormal Syst. 130–139 Diast. 85/89 Keine anderen RF 1–2 RF tiefes Risiko ≥ 3 RF tiefes bis moderates Risiko OD, CKD Grad 3 oder Diabetes moderates bis hohes Risiko Symptomat. CVD, CKD Grad ≥ 4 oder Diabetes mit OD/RF sehr hohes Risiko Blutdruck (mmHg) Grad–I–HT Syst. 140–159 Diast. 90–99 tiefes Risiko moderates Risiko moderates bis hohes Risiko hohes Risiko sehr hohes Risiko Grad-II-HT Syst. 160–179 Diast. 100–109 Grad-III-HT Syst. ≥ 180 Diast. ≥ 110 moderates Risiko moderates bis hohes Risiko hohes Risiko hohes Risiko sehr hohes Risiko hohes Risiko hohes Risiko hohes Risiko hohes bis sehr hohes Risiko sehr hohes Risiko CKD: chron. Nierenerkrankung; CVD: kardiovaskuläre Erkrankung; HT: Hypertonie; OD: Organschäden; RF: Risikofaktor Tabelle 2: Beginn mit Lifestylemassnahmen und medikamentöser Therapie Andere Risikofaktoren, asymptomatische Organschäden oder Krankheiten Keine anderen RF 1–2 RF ≥ 3 RF OD, CKD Grad 3 oder Diabetes Hochnormal Syst. 130–139 Diast. 85/89 Blutdruck (mmHg) Grad–I–HT Syst. 140–159 Diast. 90–99 keine Blutdrucktherapie Lifestylemassnahmen für einige Monate, dann Medikamente Ziel: < 140/90 mmHg Lifestylemassnahmen, Lifestylemassnahmen für keine einige Wochen, Blutdrucktherapie dann Medikamente Ziel: < 140/90 mmHg Lifestylemassnahmen, Lifestylemassnahmen für keine einige Wochen, Blutdrucktherapie dann Medikamente Ziel: < 140/90 mmHg Lifestylemassnahmen, keine Blutdrucktherapie Lifestylemassnahmen, Medikamente Ziel: < 140/90 mmHg Grad-II-HT Syst. 160–179 Diast. 100–109 Grad-III-HT Syst. ≥ 180 Diast. ≥ 110 Lifestylemassnahmen für einige Wochen, dann Medikamente Ziel: < 140/90 mmHg Lifestylemassnahmen für einige Wochen, dann Medikamente Ziel: < 140/90 mmHg Lifestylemassnahmen, Medikamente Ziel: < 140/90 mmHg Lifestylemassnahmen, Medikamente Ziel: < 140/90 mmHg Lifestylemassnahmen, sofort Medikamente Ziel: < 140/90 mmHg Lifestylemassnahmen, sofort Medikamente Ziel: < 140/90 mmHg Lifestylemassnahmen, sofort Medikamente Ziel: < 140/90 mmHg Lifestylemassnahmen, sofort Medikamente Ziel: < 140/90 mmHg Symptomat. CVD, CKD Grad ≥ 4 oder Diabetes mit OD/RF Lifestylemassnahmen, keine Blutdrucktherapie Lifestylemassnahmen, Medikamente Ziel: < 140/90 mmHg Lifestylemassnahmen, Medikamente Ziel: < 140/90 mmHg Lifestylemassnahmen, sofort Medikamente Ziel: < 140/90 mmHg CKD: chron. Nierenerkrankung; CVD: kardiovaskuläre Erkrankung; HT: Hypertonie; OD: Organschäden; RF: Risikofaktor kulären Morbidität und Mortalität betrifft, scheint der Heimblutdruck dem Praxisblutdruck überlegen zu sein (6, 7). Schliesslich korreliert die Heimblutdruckmessung mindestens gleich gut mit hypertonen Organschäden wie die 24-Stunden-Blutdruckmessung (4, 5), und auch ihre prognostische Aussagekraft ist nach Adjustierung für Alter und Geschlecht gleich gut wie diejenige der 24-StundenBlut-druckmessung (8, 9). Lifestylemassnahmen Lifestylemassnahmen sind zweifellos der Grundpfeiler der Hypertonieprävention. Sie sind genauso wichtig für deren Behandlung und können ebenso wirksam sein wie eine medikamentöse Monotherapie (10) respektive ermöglichen die Reduktion von Anzahl und Dosis der Antihypertensiva (11). Die wichtigsten Lifestyleempfehlungen, die alle einen Empfehlungs- und Evidenzgrad IA ha- 22 Kardiologie SGK/ESH 2013 CongressSelection ben, sind im Kasten zusammengefasst. Es besteht Evidenz aus RCT, dass diese Massnahmen den Blutdruck und/oder andere kardiovaskuläre Risikofaktoren positiv beeinflussen (12). Gleicher Zielblutdruck für alle Im Unterschied zu den bisher gültigen Leitlinien, die je nach kardiovaskulärem Risiko eine strengere oder weniger strenge Blutdruckeinstellung empfahlen, gibt es in den neuen Leitlinien nur noch einen Zielblutdruck für alle: < 140/90 mmHg. Das bedeutet zum Beispiel, dass für hochnormale Blutdruckwerte auch bei Vorliegen mehrerer weiterer Risikofaktoren einzig Lifestylemassnahmen und keine medikamentöse Behandlung empfohlen werden (Tabelle 2). Wie jede Regel hat aber auch diese gewisse Ausnahmen: Bei Diabetikern sollte ein diastolischer Druck < 85 mmHg angestrebt werden, bei älteren Hypertonikern ein systolischer Druck zwischen 140 und 150 mmHg. Empfehlungen für die medikamentöse Behandlung Da die grössten vorhandenen Metaanalysen zeigen, dass der grösste Benefit der Hypertoniebehandlung in der Senkung des Blutdrucks per se liegt und es zwischen den einzelnen Medikamentenklassen keine relevanten klinischen Unterschiede gibt (13–15), empfehlen die neuen Leitlinien keine bestimmten Medikamentengruppen. Sie bestätigen vielmehr, dass sich Diuretika (inkl. Thiazide, Chlorthalidon und Indapamid), Betablocker, Kalziumantagonisten, ACEHemmer und Angiotensinrezeptorblocker sowohl für die initiale Behandlung als auch die Erhaltungstherapie der Hypertonie eignen, entweder als Monotherapie oder in gewissen Kombinationen. Gleichzeitig wird darauf hingewiesen, dass die Therapie bei Nichterreichen des Zielblutdrucks rasch ausgebaut und bei stark erhöhtem Blutdruck und hohem bis sehr hohem kardiovaskulärem Risiko direkt mit einer Kombinationstherapie begonnen werden sollte. Sabina M. Ludin Referenzen: 1. Mancia G et al. 2013 ESH/ESC Guidelines for the management of arterial hypertension. Eur Heart J 2013 Jun 14. Epub ahead of print. 2. Mancia G et al. 2013 ESH/ESC Guidelines for the management of Kasten: Lifestyleempfehlungen • Salzrestriktion auf 5–6 g/Tag • Gewichtsreduktion und -stabilisierung (BMI ≤ 25 kg/m2 und Bauchumfang < 102 cm für Männer und < 88 cm für Frauen) • Regelmässige körperliche Aktivität (30 min leichte körperliche Aktivität an 5–7 Tagen pro Woche) • Moderater Alkoholkonsum (Männer < 20–30 g/Tag, Frauen < 10–20 g/Tag) • Mehr Konsum von Gemüse, Früchten, fettarmen und anderen Diätprodukten • Rauchstopp Einfacher und praktisch umsetzbar Wir baten Herrn Prof. Dr. Georg Noll, Herzklinik Hirslanden, um seine Einschätzung der neuen Empfehlungen. Die neuen Empfehlungen sind weniger streng als die vorheri- gen. Waren denn die alten Ziele falsch? Prof. Dr. Georg Noll: Als die vor- herigen Guidelines formuliert wur- den, hatte man Hinweise darauf, dass eine strengere Einstellung richtig wäre. Jetzt weiss man, dass man Georg Noll dadurch keinen zusätzlichen Benefit hat, sondern einfach mehr Nebenwirkungen von den Medikamenten sowie Orthostasen, Schwindel etc. Die neuen Guidelines bringen ein wenig Vereinfa- chung. Ein Blutdruckziel von unter 140/90 mmHg entspricht der aktuellen Datenlage und ist auch in der Praxis umsetzbar, ledig- lich für Diabetiker gilt ein Zielblutdruck von unter 80–85 mmHg diastolisch. Ich bin zufrieden, dass die Zielwerte ein wenig auf- geweicht wurden, denn vielfach waren Ärzte und Patienten frus- triert, wenn die strengeren Ziele nicht erreicht wurden. Wie schnell muss man die Ziele erreichen? Noll: Ein normaler Blutdruck ist natürlich anzustreben, aber wir haben keinen Hinweis darauf, dass der Blutdruck extrem rasch gesenkt werden sollte. Manchmal kann man dieses Ziel nicht in vier Wochen erreichen, und dann sind es eben acht oder zwölf Wochen. Das trägt auch der Realität Rechnung. Mit welchen Medikamenten? Noll: Auch wenn die Guidelines dazu keine konkreten Aussagen machen, denke ich doch, dass die Datenlage der letzten Jahre gezeigt hat, dass Kalziumantagonisten und Hemmer des ReninAngiotensinsystems die Medikamente der ersten Wahl sind – bei Bedarf sollten diese auch miteinander kombiniert werden – allenfalls noch ein Diuretikum für einen älteren Patienten. Es sei denn, der Patient hat noch eine andere Situation, die ihn für ein anderes Medikament prädestiniert, zum Beispiel bei Palpitationen einen Betablocker oder Verapamil. Auch adipöse Patienten brauchen häufig ein Diuretikum. Wie sieht es mit der Diagnostik aus? Noll: In der Diagnostik der arteriellen Hypertonie sollte meines Erachtens die 24-Stunden-Blutdruckmessung ein noch etwas höheres Gewicht erhalten, wie das in der Schweiz schon der Fall ist, aber europäisch noch nicht überall. Ich begrüsse eine 24-Stunden-Messung vor Therapie bzw. auf jeden Fall vor der Diagnose einer Therapie-resistenten Hypertonie, um zu erfahren, ob das wirklich so ist. Selbstmessungen werden in den Guidelines etwas stärker gewichtet als die 24-Stunden-Messung, wahrscheinlich auch aus Kostengründen. Diese sind zwar exzellent für die Compliance, aber für das Assessment ist die 24-Stunden-Blutdruckmessung überlegen, man sieht das Muster und die nächtlichen Werte – also zusätzliche Informationen, die dem Arzt das Management erleichtern. Last but not least: Stellenwert Lifestyle? Noll: Je nach Situation können Hypertoniepatienten zwar gänzlich oder für einige Wochen ohne Medikamente auskommen, aber nicht ohne Lebensstilmassnahmen. Die gehören einfach immer dazu! Das Interview führte Christine Mücke SGK/ESH 2013 Kardiologie 23 CongressSelection arterial hypertension. J Hypertension 2013; 31: 1281–1357. 3. Global Health Risks. Mortality and burden of disease attributable to selected major risks. WHO 2009. http://www.who.int/healthinfo/global_burden_disease/GlobalHealthRisks_report_full.pdf. 4. Gaborieau V et al. Ambulatory blood pressure monitoring vs. selfmeasurement of blood pressure at home: correlation with target organ damage. J Hypertens 2008; 26: 1919–1927. 5. Bliziotis IA et al. Home vs. ambulatory and office blood pressure in predicting target organ damage in hypertension: a systematic review and meta-analysis. J Hypertens 2012; 30: 1289–1299. 6. Stergiou GS et al. Home blood pressure as a cardiovascular outcome predictor: it’s time to take this method seriously. Hypertension 2010; 55: 1301–1303. 7. Ward AM et al. Home measurement of blood pressure and cardiovascular disease: systematic review and meta-analysis of prospective studies. J Hypertens 2012; 30: 449–456. 8. Fagard RH et al. Prognostic significance of blood pressure measured in the office, at home and during ambulatory monitoring in older patients in general practice. J Hum Hypertens 2005; 19: 801–807. 9. Mancia G et al. Long-term risk of mortality associated with selective and combined elevation in office, home and ambulatory blood pressure. Hypertension 2006; 47: 846–853. 10. Elmer PJ et al. Effects of comprehensive lifestyle modification on diet, weight, physical fitness and blood pressure control: 18-month results of a randomized trial. Ann Intern Med 2006; 144: 485–495. 11. Frisoli TM et al.: Beyond salt: lifestyle modifications and blood pressure. Eur Heart J 2011; 32: 3081–3087. 12. Perk J et al. European Guidelines on cardiovascular disease prevention in clinical practice (version 2012): The Fifth Joint Task Force of the European Society of Cardiology and Other Societies on Cardiovascular Disease Prevention in Clinical Practice (constituted by representatives of nine societies and by invited experts) Developed with the special contribution of the European Association for Cardiovascular Prevention & Rehabilitation (EACPR). Eur Heart J 2012; 33: 1635–1701. 13. Law MR et al. Use of blood pressure lowering drugs in the prevention of cardiovascular disease: meta-analysis of 147 randomised trials in the context of expectations from prospective epidemiological studies. BMJ 2009; 338: b1665. 14. Blood Pressure Lowering Treatment Trialists’ Collaboration. Effects of different blood pressure-lowering regimens on major cardiovascular events in individuals with and without diabetes mellitus: results of prospectively designed overviews of randomized trials. 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