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Kontinenzprobleme stellen angesichts der sich verändernden Altersstruktur in den Industriestaaten eine wachsende Belastung dar. Eine medizinische Antwort wird umso schwieriger, da es sich bei den Betroffenen mehrheitlich um alte und nicht selten gebrechliche Personen handelt.
B is 2060 wird fast ein Drittel der Bevölkerung der EU über 65 Jahre alt sein. Das führt dazu, dass wir es in den kommenden Jahren mit immer mehr und immer komplizierteren Inkontinenzpatienten zu tun haben werden», sagte Prof. Dr. Adrian Wagg von der geriatrischen Abteilung der University of Alberta und betonte, dass Inkontinenz bei älteren Patienten tendenziell komplexer sei als bei den jüngeren. Während bei jüngeren Betroffenen in der Regel ein, zwei Risikofaktoren identifiziert und oft erfolgreich behandelt werden können, hat man es bei den älteren Patienten mit einer Vielzahl von Faktoren zu tun, die zu Inkontinenz führen und einander auch noch gegenseitig bedingen und beeinflussen können. Damit ergibt sich freilich auch eine grosse Zahl potenzieller therapeutischer Ziele.
Gezieltes Gangtraining
Typisch für die Inkontinenz älterer Menschen ist nicht zuletzt eine grosse Zahl von Komorbiditäten, die entweder mit dem Kontinenzproblem assoziiert sind oder dieses direkt beeinflussen. Wagg nennt Diabetes mellitus, Adipositas, Schlaganfall, Morbus Parkinson, periphere arterielle Verschlusskrankheit, Demenz und viele mehr. In zahlreichen Arbeiten wurde eine Assoziation von sowohl Stress- als auch Dranginkontinenz mit mangelnder Bewegung und Immobilität gezeigt. Darüber hinaus steht Inkontinenz generell mit einem schlechten Gesamtzustand in Zusammenhang (1–3). Umgekehrt besteht Evidenz dafür, dass Training das Risiko von Inkontinenz (ebenso wie von Nykturie und LUTS) reduziert. Die Wirksamkeit solcher Lebensstilmassnahmen wurde sowohl im ambulanten Setting als auch bei Patienten in Pflegeeinrichtungen nachgewiesen (4–7).
Inkontinent durch Polypharmazie
Wagg: «Es scheint, als würde es schon ausreichen, Ganggeschwindigkeit und Ausdauer zu verbessern, um Inkontinenz zu reduzieren. Allerdings wurde bis anhin keine minimale Trainingsdosis ermittelt. Gangtraining hat auch den Vorteil, dass es alten Menschen schlicht und einfach hilft, rechtzeitig die Toilette zu erreichen.»
Sind auch Medikamente Ursache?
Ein weiteres Problem ist Polypharmazie. «Viele meiner älteren Patienten nehmen mehr als zehn Medikamente. Damit steigt nicht nur die Gefahr von Neben- und Wechselwirkungen, sondern auch das Risiko, dass sich darunter eines befindet, das Kontinenzprobleme verursachen oder aggravieren kann. Angeschuldigt werden Diuretika, Alphaadrenorezeptorenblocker, Clozapin, SSRI, Medikamente zur systemischen Hormonersatztherapie und vor allem die in der Demenzbehandlung eingesetzten Cholinesteraseinhibitoren. Darüber hinaus gibt es Überlegungen, dass eine ganze Reihe weiterer Medikamente diese Nebenwirkung haben könnten, darunter so häufig verschriebene Substanzgruppen wie ACE-Hemmer oder Kalziumkanalantagonisten», sagte Wagg. Eine besondere Rolle im Hinblick auf die Entwicklung von Inkontinenz spielen cholinerge Neuronen und deren Beeinflussung durch anticholinerge Substanzen. Viele Medikamente mit antimuskarinischer Wirkung wie Antipsychotika, Parkinson-Medikamente oder Antihistaminika werden mit Inkontinenz in Verbindung gebracht. Und sie können zu kognitiver Beeinträchtigung führen (8). Cholinerge Defizite sind mit Veränderungen der weissen Substanz im Gehirn assoziiert (9). Diese wiederum stehen nicht nur mit kognitiver Beeinträchtigung, sondern auch mit Detrusorüberaktivität, Drang und Dranginkontinenz in Zusammenhang (10). Hohe Belastung mit anticholinerg wirksamen Medikamenten kann diese Zustände ver-
schlimmern. Das führt in der medikamentösen Behandlung von Drang und Dranginkontinenz zu einem Dilemma: Die meisten der eingesetzten Medikamente haben anticholinerge Wirkung. Und sie wurden fast ausschliesslich in Kollektiven von kognitiv Gesunden untersucht.
Keine Beeinträchtigung der Kognition
Lediglich für Solifenacin gibt es eine Studie mit Patienten mit Mild Cognitive Impairment, die keinen Einfluss des Medikaments auf die kognitive Leistungsfähigkeit zeigte (11). Für die Praxis empfiehlt Wagg, an Komorbiditäten und Polypharmazie zu denken und es zunächst mit mehr Bewegung zu versuchen. Eine zusätzliche medikamentöse Therapie mit einem Antimuskarinikum kann ebenfalls eingeleitet werden, wobei es keine Daten zur Wirksamkeit bei gebrechlichen Personen gibt.
Reno Barth
Referenzen: 1. Maggi S et al. J Gerontol A Biol Sci Med Sci, 2001; 56 (1): M14–18. 2. Stenzelius et al. Neurourol Urodyn, 2004; 23 (3): 211–222. 3. McGrother CW et al. Age Ageing 2006; 35 (1): 16–24. 4. Kim H et al. Arch Gerontol Geriatr, 2011; 52 (1): 99–105. 5. Kim H et al. J Am Geriatr Soc, 2007 Dec; 55 (12): 1932–1939. 6. Ouslander JG et al. J Am Geriatr Soc, 2005; 53 (7): 1091–1100. 7. Van Houten P et al. Gerontology, 2007; 53 (4): 205–210. 8. Lechevalier-Michel et al. Br J Clin Pharmacol 2005 Feb; 59 (2): 143–151. 9. Bohnen NI et al. Neurology, 2009; 72: 1411– 1416. 10. Kuchel GA et al. J Gerontol A Biol Sci Med Sci, 2009; 64 (8): 902–909. 11. Wagg et al. Eur Urol 2013, doi: pii: S0302–2838 (13) 00005-5. 10.1016/j.eururo.2013. 01.0029.
Quelle: State of the art lecture: «Incontinence and age» im Rahmen des EAU-Kongresses am 16. März 2013 in Mailand.
10 Urologie EAU 2013