Transkript
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Bei Alkoholabhängigkeit möglichst frühzeitig intervenieren
Vielversprechende
neue Therapieansätze
Die Abhängigkeit von Alkohol und Drogen gehört europaweit zu den häufigsten psychischen Erkrankungen. Sie zählt zu den führenden Ursachen vermeidbarer Todesfälle und ist ein bedeutendes Risiko der öffentlichen Gesundheit. In Anbetracht dessen komme einer frühzeitigen Intervention besondere Bedeutung zu, so Experten anlässlich des 25. ECNP-Jahreskongresses in Wien. Neue Strategien können dazu beitragen, die Ergebnisse bei der Behandlung von Alkoholabhängigkeit zu verbessern.
L ange wurden allein soziale und psychologische Aspekte für die Entwicklung von Suchterkrankungen wie der Alkoholabhängigkeit verantwortlich gemacht. Erst die Erkenntnis, dass «Sucht eine Erkrankung des Gehirns sei», wie es vor 15 Jahren in «Science» hiess, bildete die Grundlage für ein besseres Verständnis und half, die Behandlung und ihre Erfolge zu verbessern, so Prof. Dr. Philip Gorwood, Paris. Dieses Konzept erkläre die Chronizität des Problems und ermögliche eine Entlastung der Patienten, sei es bei Rückfällen als Teil der Erkrankung oder hinsichtlich der mit dem Trinken verbundenen Schuldgefühle. Darüber hinaus erkläre es auch, weshalb es den Patienten so schwerfällt, nach Abhilfe zu suchen – dabei kann die fehlende Motivation, mit dem Trinken aufzuhören, bereits als ein Schlüsselsymptom der Alkoholabhängigkeit bewertet werden, so Gorwood. Basierend auf dieser neurobiologischen Sichtweise wurden vielversprechende medikamentöse sowie nicht pharmakologische Therapieansätze entwickelt.
Motorische Rehabilitation
Anstelle der kognitiven Kontrolle zur Einschränkung impulsiver Entscheidungen setzt man bei diesen Überlegungen darauf, die Motorik zu beeinflussen. Laut Hinweisen liegt einer Stimulanzienabhängigkeit ein bestimmter neurobiologischer Phänotyp zugrunde, und in den für die Selbstkontrolle und Hemmung zuständigen Hirnregionen scheinen bereits vor Beginn des Drogenkonsums Anomalien vorzuliegen, die das Risiko eines Suchtverhaltens erhöhen können, so der Experte. Auch bei der Entwicklung eines gewohnheitsmässigen Konsums von Alkohol scheint die Impulskontrolle beeinträchtigt sowie die neurale Verarbeitung verändert, wie Gorwood weiter ausführte. Demzufolge erhofft man sich durch eine Verstärkung der motorischen Hemmung einen neuen Weg, gegen die Reaktion auf Schlüsselreize (alkoholische Getränke in Gesellschaft,
Kauf oder Anblick von Flaschen) vorzugehen. Dazu dienen sollen insbesondere computerbasierte Übungen, zunächst mit neutralen, später auch mit alkoholbezogenen Signalen, bei denen «auf kognitivem Weg die Fähigkeit zur Reduktion motorischer Reaktionen verstärkt werden soll».
Positive Umfeldbedingungen
Auch die Schaffung positiver Umfeldbedingungen, sogenanntes Environmental Enrichment, soll dazu beitragen, das dringende Bedürfnis nach Alkohol zu mindern. Bekanntermassen können Umwelteinflüsse sowohl verhaltensbezogene als auch neurochemische Wirkungen von Drogen verstärken. Andersherum können «positive Umfeldbedingungen wie Environmental Enrichment die Belohnungseffekte von Drogen reduzieren und so einen Schutz im Hinblick auf die Entwicklung einer Drogensucht entfalten». Bei Ratten konnte experimentell durch Gesellschaft, Ablenkung und Belohnung sogar verfestigtes Suchtverhalten eliminiert werden, wie Gorwood beschreibt. Um diese These zu überprüfen, werden in einem Forschungsprojekt Patienten im Rahmen eines stationären Alkolholentzugs als Radfahrer unter Überwachung ihrer körperlichen Parameter zu mehreren auf virtuelle Strecken geschickt, um die soziale Interaktion zu stimulieren, die motorische Aktivität zu erhöhen und stärkere kognitive Anreize zu setzen.
Anti-Craving
Früher hiess es stets, dass nur eine lebenslange Abstinenz als – primäres – Therapieziel infrage komme. Immer mehr Studien befassen sich jedoch mittlerweile mit der Frage, ob stattdessen auch – zunächst – eine Reduktion des Alkoholkonsums eine Option darstellt. Nicht immer sind die Patienten bereits beim ersten Arztbesuch willens und in der Lage, den Alkohol vollständig aufzugeben. Mit den heute verfügbaren Medikamenten, die selbst beim Miss-
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brauch von Alkohol das Craving reduzieren, ist es möglich, «erst in einem zweiten Schritt auf der besseren Krankheitseinsicht und stärkeren Motivation zu abstinentem Verhalten aufzubauen, statt den umgekehrten Weg zu gehen». Diese Herangehensweise wird möglich zum einen dank neuer medikamentöser Therapien, zum anderen dank des ursprünglich zur Bekämpfung von Muskelschmerz dienenden Baclofens, welches auch in der Therapie alkoholabhängiger Patienten hinsichtlich Impulsivität und Craving Verwendung findet, wenn auch nicht systematisch; sein Einsatz sollte daher monitorisiert und weiter untersucht werden.
Tiefe Hirnstimulation
In vereinzelten Fällen von schwerem Alkoholismus konnten auch mit tiefer Hirnstimulation (Deep Brain Stimulation, DBS) erste positive Ergebnisse erzielt werden. Elektrische Impulse können dabei reversibel direkte und gezielte Veränderungen der Hirnaktivität induzieren. In Orientierung an der Zwangsstörung, bei der in ausgewählten schweren Fällen eine tiefe Hirnstimulation zur Anwendung kommt, könnte insbesondere «angesichts der verheerenden Auswirkungen schwerer Sucht und deren di-
Die Kosten des Alkohols sind immens
Die Alkoholabhängigkeit geht mit einem enormen Leid von Betroffenen und Angehörigen einher. 8,5 Prozent der Menschen leiden an einem Alkoholmissbrauch oder sind alkoholabhängig. In Europa und den USA wird die Alkoholabhängigkeit mit 4 Prozent beziffert. Jedes Jahr kommen 5000 neue Fälle hinzu, so stieg beispielsweise in der Altersgruppe der 20- bis 29-Jährigen die Rate von 10 Prozent (1998) auf 14 Prozent (2004). Mehr als 6 Prozent der Todesfälle bei Männern und fast 2,5 Prozent bei Frauen sind mit Alkohol in Verbindung zu bringen. Die unerwünschten Auswirkungen des Alkohols kosten Industriestaaten wie zum Beispiel Italien 3 Prozent des Bruttoinlandprodukts.
rekter Folgen für die Lebenserwartung der Patienten einerseits und, andererseits, der genauen Kenntnis der Belohnungsschaltkreise im Gehirn, die bei Sucht involviert sind, die tiefe Hirnstimulation in bestimmten Fällen von Alkoholabhängigkeit Erfolg versprechend sein», so der Experte.
Christine Mücke
Quelle: Philip Gorwood, «Neue Ansätze in der Therapie der Alkoholabhängigkeit», Pressekonferenz, 25. ECNP-Jahreskongress, 13. bis 17. Oktober 2012 in Wien.
Kongressnotiz
25. ECNP-Kongress: Auszeichnung für Lebenswerk geht an Prof. Dr. Jules Angst
Wann ist es Zeit für die Auszeichnung eines Le-
auch seine akademische Karriere begründete.
benswerkes? Eine schwierige Frage, vor allem,
Von 1969 bis 1994 war er Professor für Klini-
wenn es wie bei Jules Angst, der auch als eme-
sche Psychiatrie und Direktor der Forschungs-
ritierter Professor der Psychiatrie noch im Uni-
abteilung der Psychiatrischen Universitäts-
versitätsspital Zürich zu Hause ist, immer
klinik Zürich. Bis heute widmet er sich konti-
noch nicht vollendet scheint. Wie Guy Good-
nuierlich der epidemiologischen und klinischen
win, Oxford, der Angst an der Keynote Session
Forschung an der Universität und beschäftigte
einführte, es formulierte, geht der diesjährige
sich im Lauf der Jahre mit den verschiedens-
Lifetime Achievement Award in Neuropsycho-
ten Themen und Fragestellungen. Seine weg-
pharmacology an jemanden, der «nicht aufge-
weisende Monografie von 1966 zur Ätiologie
hört hat, fantastische Arbeit zu leisten».
und Nosologie endogener depressiver Psycho-
Angst, der seinerzeit unter Manfred Bleuler gelernt hat, kann mittlerweile auf sechs Jahr-
Prof. Dr. Jules Angst
sen etablierte, dass monopolar-depressive und bipolare Erkrankungen trotz vieler Ge-
zehnte engagierter Arbeit zurückblicken und
meinsamkeiten unterschiedliche Störungen
dankte dem Komitee für diese Ehre. «Dieser Preis ermu- sind.
tigt mich und hilft mir, meine Arbeit so lange wie ich das Für sein Wirken erhielt er viel Anerkennung und zahlreiche
kann fortzusetzen und die wissenschaftlichen Entwicklun- internationale Auszeichnungen und Preise. Auszeichnun-
gen weiterhin zu verfolgen.»
gen für sein Lebenswerk gab es bereits 2002 von der
Angst, ebenfalls Ehrendoktor der Universität Heidelberg International Society of Psychiatric Genetics sowie 2011
und Ehrenmitglied zahlreicher nationaler und internatio- von der World Federation of Societies of Biological Psych-
naler Gesellschaften, wurde 1926 in Zürich geboren, wo er iatry.
DGPPN/ECNP 2012 Neurologie/Psychiatrie
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