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Unterschiede und Gemeinsamkeiten
Pruritus kann Schmerzen
sogar übertreffen
Akuter und chronischer Pruritus sind sehr häufige Symptome in der Dermatologie, der Pädiatrie, der inneren Medizin und der Onkologie. Eine der ersten Definitionen aus dem Jahr 1660 definiert Juckreiz als «unangenehme Sensation der Haut, die zum Kratzen führt». Was für eine Verharmlosung dieses häufig äusserst quälenden Symptoms das ist, wurde am EADV 2012 in Prag in Workshops und Symposien deutlich. Und auch das wurde betont: Zu jeder guten Basistherapie bei Pruritus gehört eine sehr gute Hautpflege.
C hronischer Pruritus kann generalisiert oder lokalisiert, auf lädierter und nicht lädierter Haut und mit oder ohne Exkoriationen auftreten. Die derzeit geschätzte Prävalenz (Definition: über 6 Wochen Dauer) liegt bei etwa 16 bis 23 Prozent in der Allgemeinbevölkerung (1). Zahlreiche internistische, onkologische und dermatologische Erkrankungen können zugrunde liegen. In der aktuellen Pruritusforschung stehen neben der ätiopathogenetischen Abklärung auch die Messmethoden (Quantifizierung und Qualifizierung) im Mittelpunkt (siehe Kasten). Die gegenwärtig gültige Klassifikation des International Forum for the Study of Itch (IFSI) von 2007 unterscheidet drei Gruppen und sechs Kategorien (2). Juckreiz wird über eigene Nervenbahnen an das Gehirn gemeldet. Daran beteiligt sind Cannabinoidrezeptoren in der Haut, die über Zytokine wie Interleukin 31, Neurotrophine, Neuropeptide wie die Substanz P und Histamin H4 aktiviert werden. Mit der Gruppe der Neurokinin-1-(NK1-)Rezeptorantagonisten, zum Beispiel Aprepitant (Emend®), werden zurzeit Studien durchgeführt, wie Prof. Dr. Martin Metz von der Charité in Berlin berichtete.
Juckreizpatienten gezielt nach Schmerzen fragen
Vermutet wird zudem, dass es analog zum Schmerzgedächtnis auch für den Juckreiz eine Art Juckreizgedächtnis gibt. Üblicherweise unterdrücken Schmerzen ein akutes Juckempfinden. In chronischer Form können beide jedoch parallel bestehen und sogar Teil eines gemeinsamen Symptomkomplexes sein (3). Daher sollte bei Prurituspatienten gezielt nach Schmerzen gefragt werden, die gegebenenfalls durch den Einsatz von spezifischen und validierten Fragebögen identifiziert und charakterisiert werden (siehe Kasten). Die Pruritusfrequenz bei Urtikaria, atopischer Dermatitis und Skabies liegt bei 100 Prozent, bei der Dermatomyositis bei
85 Prozent. Bei Akne leiden 50 bis 70 und bei systemischer Sklerose 45 Prozent der Betroffenen an Juckreiz (4). Und auch bei der Psoriasis ist Juckreiz mit 67 bis 92 Prozent ein häufiges Symptom, das erst jetzt in seiner Bedeutung erfasst wird, wie zum Beispiel Prof. Dr. Jacek C. Szepietowski, Polen, betonte. Patienten mit chronischem Pruritus berichten in der Mehrheit über Einschränkungen der Lebensqualität, was sich als indirekter Marker der Belastung durch das Symptom eignet. Gerade Psoriasispatienten erleiden auch aufgrund des Pruritus Einschränkungen der psychosozialen Gesundheit, zum Beispiel durch Depression, sozialen Rückzug und geringeres Mitteilungsbedürfnis. Das Vorliegen von Pruritus sollte bei der Therapieplanung der Psoriasis verstärkt berücksichtigt werden (5).
Individuelle und stadiengerechte Hautpflege
Duschen statt baden, abtupfen statt reiben, nach der Reinigung sofort Präparate zur Befeuchtung und zur Regeneration der Haut auftragen, empfahl Metz. Ist die epidermale Barriere durchlässig geworden, können Irritanzien eindringen. Zusätze wie Harnstoff, Dexapanthenol, Glyzerin, Endocannabinoide, Nachtkerzensamenöl und so weiter ermöglichen eine stadiengerechte und dem individuellen Hautzustand angepasste Lokaltherapie. Sie haben hydratisierende, glättende, penetrationsfördernde und proliferationshemmende Wirkungen und liegen als Creme, Emulsion und Salbe in unterschiedlich hoher Konzentration vor. Gerade bei trockener Haut hat sich Harnstoff besonders bewährt, da dieser zu einer verbesserten Hydratation der Hornschicht führt.
Juckreiz bei Kindern
Kinder leiden überwiegend an Pruritus im Rahmen dermatologischer Krankheitsbilder (atopische Dermatitis,
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Wie den Juckreiz messen?
Pruritus sollte anhand eines standardisierten Sets mit verschiedenen Instrumenten erfasst werden. Die Intensitätsskala ItchSeverity-Skala und monodimensionale Skalen wie die Visuelle Analog-Skala (VAS) werden am häufigsten zur Verlaufsdokumentation genutzt. Zur Erfassung der Pruritusintensität ist die VAS kein optimales, aber ein bis heute unverzichtbares Instrument. Juckreiz-Kognitions-Fragebogen (JKF) für Erwachsene, JUCKI (Juckreiz-Kognitions-Fragebogen für Kinder) und JUCKJU (Juckreiz-Kognitions-Fragebogen für Jugendliche) sind verbreitet. Die Itch-Man-Skala, ursprünglich für brandverletzte Kinder entwickelt, ist sehr nützlich. Die Kratzaktivität und kratzassoziierte Läsionen können derzeit hauptsächlich deskriptiv in der Praxis erfasst werden. Der Patienten-Benefit-Index ist ein unverzichtbares Tool in klinischen Studien. Fragebogen zu Prurituscharakteristika, Angst und Depression (HADS-D), Lebensqualität (DLQI) und Behandlungszielen (PBI-P) sind hinsichtlich einer schnellen Verlaufsbeurteilung bewährt. Ein frühzeitiges Erkennen von (neuropathischen) Schmerzen bei Patienten mit chronischem Pruritus ist zum Beispiel mit dem Pain-Detect-Fragebogen möglich. Je höher der Score im PainDetect-Fragebogen, desto wahrscheinlicher ist eine neuropathische Schmerzkomponente.
Grundsätzlich sei die Grunderkrankung lege artis zu behandeln, sei es ein Parasitenbefall oder eine Dermatose, betonte die Expertin beim EADV. Als erste Massnahme zur kurzfristigen Linderung des Pruritus eignen sich Cremes, Lotionen und Sprays mit Menthol, Kampfer, Harnstoff, Polidocanol oder Gerbstoffen. Trockene, grosse Hautschuppen prägen oft das äussere Bild bei Kindern. Mutationen in den Filagringenen korrelieren sehr stark mit der Schwere der Erkrankung und dem Juckreiz. Gerade auch im Kindesalter habe die konsequente und pflegendhydratisierende Rückfettung der Haut einen hohen Stellenwert, sagte Förster-Holt. Prof. Dr. Uwe Gieler aus Giessen lieferte eine Erklärung dafür, warum manche Menschen auch ohne fassbare Grunderkrankung oder entsprechenden Hautbefund nicht aufhören können zu kratzen. Beim somatoformen Pruritus unterliegen Patienten dem Teufelskreis aus Stress, Kortisonanstieg, Mastzelldegranulierung und Kratzen, das den Stress verstärkt. Erste Hilfe bringen auch hier eine gute topische Hautpflege und Basistherapie, Verhaltens- und Psychotherapie bis hin zu psychotropen Substanzen.
Susanne Schelosky
Skabies, Pediculosis, Impetigo, Varizellen, Mykosen, Urtikaria, Mastozytose, Autoimmundermatosen, Lichen sclerosus und Psoriasis vulgaris). Prof. Dr. Regina FölsterHolst aus Kiel sagte, die in der Pädiatrie am besten geeignete Skala sei die Itch-Man-Skala, auf der die Patienten einzeichnen, wo und wie sehr es juckt. Juckende Erkrankungen im Kindesalter gehen zumeist mit schweren Kratzartefakten einher. Eine wichtige Differenzialdiagnose im frühen Kindesalter sei die zwischen atopischer Dermatitis und seborrhoischem Ekzem – Letzteres juckt nicht. Äusserst juckend sei das Kontaktekzem, wie Fölster-Holst am Fallbeispiel eines Jungen aufzeigte, der eine Allergie auf die Gummibestandteile seines Nintendo entwickelte.
Literatur: 1. Matterne U et al. Prevalence, correlates and characteristics of chronic pruritus: a population-based cross-sectional study. Acta Derm Venereol 2011, 91: 674–679. 2. Ständer S et al. Clinical classification of itch: a position paper of the International Forum for the Study of Itch. Acta Derm Venereol 2007, 87: 291–294. 3. Depenau C. Schmerzen und Jucken. Hautarzt 2012, 63: 539–546. 4. Leitlinie chronischer Pruritus, AWMF-Reg.Nr. 013-048; red. überarbeitete Version 2.2/2012. www.awmf.de 5. Weisshaar E. Pruritus und Psoriasis. Hautarzt 2012, 63: 547–552.
Quelle: 21. EADV-Kongress, Prag, 27. bis 30. September 2012.
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