Transkript
CongressSelection
Die Renaissance der Syphilis
Die Zahl der Syphilisneuinfektionen nimmt seit gut einer Dekade in vielen Ländern wieder zu. Dank des immer noch wirksamen Penicillins G hat die Krankheit nicht mehr das Potenzial, die Angst und den Schrecken früherer Jahrhunderte zu verbreiten, trotzdem sind die wachsenden Inzidenzen auf der Welt besorgniserregend. Am EADV in Prag konnten sich die Zuhörer zur Geschichte und zur Epidemiologie einen Überblick verschaffen.
O bwohl die Syphilis in vielen Ländern derzeit eine Renaissance erfährt, ist die Situation nicht mit der früherer Zeiten vergleichbar. So litten von den Menschen, die am Ende des 19. Jahrhunderts in psychiatrischen Kliniken untergebracht waren, 15 Prozent der Männer und 8 bis 9 Prozent der Frauen an Syphilis. In den USA war Syphilis der Hauptgrund für Demenz, jeder fünfte Patient in einer psychiatrischen Einrichtung war daran erkrankt, erklärte am EADV-Kongress Prof. Dr. Helmut Schöfer von der Universitäts-Hautklinik Frankfurt. Aber auch viele Kinder litten unsäglich: In Grossbritannien gingen 20 bis 23 Prozent aller perinatalen Todesfälle auf das Konto dieser Krankheit, 2 bis 8 Prozent der Schulkinder zeigten Symptome einer kongenitalen Syphilis. Im norddeutschen Preussen liess das Kultusministerium am 30. April des Jahres 1900 eine Erhebung durchführen. Danach wurden – an diesem einzigen Tag! – 11 000 Patienten mit akuten Symptomen einer Syphilis registriert. Kurz darauf, im Jahr 1903, schätzten die Behörden die Inzidenz der Syphilis bei jungen Männern auf 24 pro 1000 (2400/100 000). Im Nachbarland Frankreich fielen 1926 noch 140 000 Menschen der Syphilis zum Opfer, zum Vergleich starben an Krebs im gleichen Jahr nur rund 40 000.
Unterschiedliche Behandlungsversuche
Nachdem man im 16. und 17. Jahrhundert versuchte, der «Franzosenkrankheit» mit Kräutern, Ölen, Honig, Würmern, aber auch mit Arsen, Quecksilber oder Schwitzkuren Herr zu werden, kam im 19. Jahrhundert zusätzlich die Behandlung mit Bismut hinzu. Das giftige Quecksilber spielte auch noch im frühen 20. Jahrhundert eine wichtige Rolle. Daneben wurden Sodium-Potassium-Bitartrat, Vanadium, Tellurium, Gold oder Platium eingesetzt. Gleichzeitig war man dem Erreger auf der Spur: 1903 konnte die Krankheit erstmals auf Schimpansen übertragen werden, zwei Jahre später entdeckten Fritz Schaudinn und Erich
Hoffman das zur Familie der Spi-
rochäten zugehörige Bakterium
Treponema pallidum als Auslöser.
Im darauf folgenden Jahr 1906
veröffentlichten August Paul von
Wassermann und Kollegen einen
später nach ihm benannten Test
zum Syphilisantikörpernachweis
im Blut. Schliesslich wurde 1910
die von Paul Ehrlich entwickelte Arsenverbindung Salvarsan ein-
Helmut Schöfer
geführt. Ihr Einsatz war zwar mit
erheblichen toxischen Nebenwir-
kungen und vielen Todesfällen
verbunden, trotzdem zeigte die da-
malige «Wunderdroge» vor allem
im Frühstadium eine erstaunliche
Wirkung. Noch im gleichen Jahr
begann die Firma Hoechst mit
der industriellen Produktion des
Medikaments. Das im Folgejahr
entwickelte Neosalvarsan war im Vergleich zum alten Salvarsan
Henry J.C. de Vries
weniger arsenhaltig, verursachte
daher geringere Nebenwirkungen und war doppelt so
wirksam. Die kommenden gut 30 Jahre sollte es der Gold-
standard der Syphilistherapie bleiben.
Fortschritte durch Malariatherapie
Trotzdem wurde weiter experimentiert: 1917 impfte der Psychiater Julius Wagner-Jauregg aus Wien neun Patienten, die an später Neurosyphilis litten (progressive Paralyse), absichtlich mit Malariaparasiten. Dabei zeigte sich eine Heilungsrate in Kombination mit Arsphenamin von über 80 Prozent – eine Wirkung, die erheblich günstiger war als bei allen bisher eingesetzten Therapieverfahren. Für diese Entdeckung erhielt der Österreicher im Jahr 1927
12 Dermatologie SGDV/EADV 2012
CongressSelection
Poster der US-amerikanischen Regierung zur Bekämpfung der Syphilis aus den 1930er Jahren. (Abb.: http://www.loc.gov; Public Domain)
den Nobelpreis für Medizin. Obwohl Penicillin bereits 1928 von Alexander Flemming entdeckt wurde, sollte es noch bis 1943 dauern, bis die erste erfolgreiche Syphilistherapie mit Penicillin durchgeführt wurde. Bis heute sei Penicillin in allen Syphilisstadien immer noch die «Königin der Medikamente», so Schöfer. Trotz der Verfügbarkeit dieses Medikaments ab Mitte der Vierzigerjahre, wurde das 1932 begonnene sogenannte Tuskegee-Syphilis-Experiment bis 1972 weitergeführt. In dieser US-amerikanischen Untersuchung sollte der «natürliche Verlauf» einer unbehandelten Syphilis dokumentiert werden. Dazu offerierte man 600 an Syphilis leidenden armen schwarzen Männern in Alabama eine «kostenlose Gesundheitsfürsorge». Allerdings wurde die Erkrankung weder erklärt noch behandelt, sodass viele der Männer starben und überdies deren Frauen und Kinder sich häufig mit (kongenitaler) Syphilis infizierten. «Das war wirklich eine grausame Studie», meinte der Frankfurter Dermatologe. Auch in Guatemala, Nazideutschland, Japan «und wahrscheinlich einigen anderen Ländern» wurden solche unethischen medizinischen Syphilisexperimente durchgeführt.
Steigende Inzidenzen
Ende der Neunzigerjahre entwarf man in Amerika den ehrgeizigen Plan, auf nationaler Ebene die primäre und sekundäre Syphilis auf unter 1000 Neuinfektionen pro Jahr zu drücken und über 90 Prozent aller amerikanischen Countys syphilisfrei zu machen. Dieser Plan scheiterte. So wurden im Jahr 2010 rund 13 800 Syphilisfälle im Primär- oder Sekundärstadium registriert, 67 Prozent davon bei homosexuellen Männern. Auch in China ist seit der
Jahrtausendwende ein rasanter Anstieg der Syphilisinzidenzen zu verzeichnen. Wurden Ende des vergangenen Jahrtausends noch rund 5 Fälle pro 100 000 Einwohner gemeldet, waren dies 2008 schon über 20. Besorgniserregend ist dabei vor allem der fast exponentielle Anstieg kongenitaler Infektionen bei Säuglingen auf knapp 60 pro 100 000 Geburten. In Europa wurde in den meisten Ländern ebenfalls eine deutliche Zunahme der Infektionen gemeldet. So ist die Zahl der unbestätigten und bestätigten Syphilisfälle in der Schweiz seit 2003 stetig angestiegen. Gemäss einem Vergleich des Robert-Koch-Instituts aus dem Jahr 2008 belegt die Schweiz mit einer Syphilisinzidenz von 10 pro 100 000 Einwohner in Westeuropa einen Spitzenplatz (1, 2). Diese Rate wird in Europa nur von Ländern wie Litauen (10,3/100 000), Weissrussland (19), Rumänien (23) und vor allem Russland, das mit 59 Neuinfizierten pro 100 000 Einwohnern schon fast epidemische Ausmasse erreicht, übertroffen (1). Nach Angaben des Schweizerischen Bundesamts für Gesundheit (BAG) wurden im Jahr 2010 für beide Geschlechter 975 Fälle registriert, davon 381 durch Arzt und Labor bestätigt (3). In Deutschland erreichte die Syphilis 2004 ein erstes Maximum mit absolut 3352 Fällen (4,1/100 000 Einwohner). Im Jahr 2011 wurden bereits 3698 Neuerkrankungen registriert; fast 22 Prozent mehr als 2010. In Grossbritannien stieg die Zahl der Luesmeldungen zwischen 1998 und 2007 von gut 100 auf rund 2500.
Eine Männerkrankheit
In vielen, aber nicht in allen Ländern ist die Syphilis eine ausgesprochene Männerkrankheit. Gemäss einer Studie aus dem Jahr 2009 weisen Männer im Verhältnis zu Frauen
14 Dermatologie SGDV/EADV 2012
CongressSelection
in Ländern wie Dänemark eine 14-fach, Frankreich eine 19fach, Deutschland eine 17-fach oder die Niederlande eine 12-fach erhöhte Infektionsrate auf (4). Auch in der Schweiz infizieren sich deutlich mehr Männer mit Syphilis als Frauen, nach Angaben des BAG im Jahr 2010 rund sechsmal so viele. Die überwiegende Mehrheit dieser Männer (je nach Land bis zu 90%) steckte sich beim gleichgeschlechtlichen Sex an. Hingegen sind in einigen ostbeziehungsweise südosteuropäischen Ländern beide Geschlechter ähnlich stark betroffen. So wurden in der Slovakei, der Türkei, Lettland oder Estland im Jahr 2007 etwa gleich viele Neuinfektionen bei Frauen wie bei Männern verzeichnet. Die allgemeine Zunahme dieser Erkrankung in der vergangenen Dekade sei zum Teil eine Folge des «HIV-Optimismus», erklärte Prof. Dr. Henry J. C. de Vries von der STI Outpatient Clinic in Amsterdam. Mit dem Aufkommen wirkungsvoller HIV-Therapien Ende der Neunzigerjahre war AIDS nämlich keine tödliche Krankheit mehr und dadurch für viele kein Hindernis für ungeschützten Sex. In manchen Städten, wie zum Beispiel New York, ist hinsichtlich der Syphilisinzidenz ein bemerkenswerter 10-Jahres-Zyklus zu beobachten (5). Verantwortlich dafür seien soziale und
gesellschaftliche Veränderungen, wie zum Beispiel die Einführung oraler Antikonzeptiva Ende der Sechzigerjahre, die Gay-Liberation-Bewegung Ende der Siebzigerjahre, die Etablierung der Droge Crack in den Achtzigerjahren oder eben neue HIV-Therapien Ende der Neunzigerjahre, so de Vries. Heute schätzt die WHO die Zahl der Neuerkrankungen weltweit auf etwa zwölf Millionen Fälle jährlich.
Klaus Duffner
Literatur:
1. Robert Koch Institut. Syphilis in Deutschland im Jahr 2008. Epid Bull 2009; 49: 503–512. 2. Lautenschlager S. Sexuell übertragbare Infektionen: Die Schweiz und ihr unrühmlicher Spitzenplatz in Europa. Schweiz Med Forum 2012; 12(1–2): 4–5. 3. Bundesamt für Gesundheit (BAG). Übertragbare Krankheiten, meldepflichtige sexuell übertragbare Infektionen (STI) in der Schweiz: Chlamydiose, Gonorrhö, Syphilis. Überwachungssystem und epidemiologische Situation Ende 2010. Bulletin 12, 11. März 2011. (www.bag.admin.ch) 4. Savage EJ et al. Syphilis and gonorrhoea in men who have sex with men: a European overview. Eurosurveillance 2009; Vol 14: 47. 5. Grassly NC et al. Syphilis epidemics in the United States oscillate with a periodicity of 10–11 years. Nature 2005; 433: 417–421.
Quelle:
«Syphilis in Europe», 21. EADV-Kongress, Prag, 29. September 2012.