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Was bedeutet eigentlich «patientenzentrierte Medizin?
Unter dem Begriff «patientenzentriert» verstehen die Beteiligten im Gesundheitswesen – Patienten, Medizinalpersonen, Krankenversicherungsvertreter – naturgemäss sehr unterschiedliche Aspekte. Gedanken zu den Grundlagen einer patientenzentrierten Medizin präsentierte Prof. Wolf Langewitz, Internist und Psychosomatiker am Universitätsspital Basel, während des diesjährigen SGIM-Kongresses.
Neben «patientenzentriert» haben heute Schlagwörter wie «personalisierte» oder «individualisierte Medizin» Konjunktur, und oft entsteht der Eindruck, dass es sich dabei um dasselbe handelt. «Dem ist nicht so, vielmehr findet hier eine raffinierte aber eindeutige falsche Etikettierung statt», erklärte Prof. Langewitz. Im Grund bedeutet «individualisiert» ja den Verzicht, einer Person ihre ganz eigenen Eigenschaften zuzuschreiben, vielmehr wird nur die Einzigartigkeit an sich hervorgehoben. Wenn, wie heute in der «individualisierten Medizin» gängig, eine Person mit bestimmten genetischen Eigenschaften (z.B. Schnellazetylierer) in Verbindung gebracht wird, erhält sie bloss ein Etikett, das sie einer Gruppe zuordnet, aber mit dem Leben dieses Individuums nichts weiter zu tun hat.
Patientenzentrierte Medizin als ethisch-politisches Konzept
Heute sind verschiedene Definitionen gebräuchlich, wie – in der Reihenfolge absteigender Komplexität – «patientenzentrierte Medizin», «patientenzentrierte Pflege» und «patientenzentrierte Kommunikation». Sowohl patientenzentrierte Medizin als auch patientenzentrierte Pflege gehen von der Annahme aus, dass der Patient als «Stakeholder» behandelt werden soll, der nicht bloss ausführt, was ihm Gesundheitsprofis empfehlen, sondern an den Massnahmen aktiv teilnimmt. Dies schafft Beziehungen zu Begriffen wie «Patienten-Empowerment» (mit «Patientenermächtigung» nur unzulänglich übersetzt), «gemeinsame Entscheidungsfindung» oder «partnerschaftlicher» gegenüber «paternalistischer Herangehensweise». «Dies zeigt aber, dass wir es mit einem primär ethischen oder politischen Konzept zu tun haben, das nicht notwendigerweise durch empirische Daten gestützt ist», so Langewitz.
Plazeboeffekt wissenschaftlich untersucht
Bemerkenswerterweise gibt es sehr viel mehr Daten zur Wirksamkeit einzelner Pharmaka als zur Effektivität einer patientenzentrierten Medizin. Allerdings lassen sich diese beiden Bereich kaum vergleichen, denn die medikamentöse Therapie erfolgt in einem Untersystem, das eingebettet ist in eine mehr oder weniger patientenzentrierte Medizin als Metasystem. Diese beiden Schichten können jedoch am Beispiel der Effektivität von Plazebointerventionen näher untersucht werden, wenn wir annehmen, dass die meisten Medikamente auch eine Plazebokomponente aufweisen. So hat eine Studie mit einem Opioid ergeben, dass der schmerzlindernde Effekt durch die Induktion einer positiven Patientenerwartung gegenüber der Behandlung verdoppelt wurde, während eine dem Patienten vermittelte negative Arzteinschätzung die analgetische Wirkung des Medikaments zunichte machte (1). Auch eine komplexere Studie bei Patienten mit Reizdarmsyndrom zeigte die Plazebokomponente ärztlicher Interventionen sehr schön (2). Darin wurden drei Interventionen verglichen: Platzierung für drei Wochen auf der Warteliste (blosse Beobachtung), Plazeboakupunktur allein (begrenzte Intervention) sowie Plazeboakupunktur plus Etablierung einer guten Arzt-Patientenbeziehung, charakterisiert durch Wärme, Aufmerksamkeit und Vertrauen (verstärkte Intervention). Das Protokoll für die umfassende Intervention sah ausführliche Fragen nach Symptomen, dem Zusammenhang zwischen Reizdarm, persönlichen Beziehungen und Lebensqualität vor. Ausserdem wurde Nachdruck auf eine warme, freundliche Kommunikation gelegt. Dazu gehörten aktives Zuhören (Wiederholung von Patientenstatements, Nachfragen), Empathie sowie auch geplante Pausen, in den der Arzt nichts sagt, aber sein Interesse im Rahmen der Konsulta-
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tion averbal vermittelt. Die Versuchsanordnung konnte klare Vorteile der verstärkten, auf den Patienten eingehenden Intervention gegenüber den Kontrollen und der einfachen Akupunktur dokumentieren.
Wie soll patientenzentrierte Kommunikation erfolgen?
Die patientenzentrierte Kommunikation wird enger definiert, ist aber auch unter Experten umstritten. Sie umfasst sowohl die klinische Kompetenz des Gesprächspartners als auch den Einsatz patientenzentrierter Gesprächstechniken. Ausdrücklich sollen auch die Erwartungen, Gefühle und Krankheitsvorstellungen des Patienten Berücksichtigung finden: «Erzählen Sie mir von sich selbst». Im Hinblick auf die patientenzentrierte Kommunikation in der Inneren Medizin nannte Prof. Langewitz folgende Gesichtspunkte. Die Bedürfnisse des Patienten sind zu respektieren. Der Patient hat ein Anrecht darauf, Ärztinnen oder Ärzte zu sehen, die ihr spezifisches Fachwissen einbringen und Informationen nicht zurückhalten, also von einer Bringschuld ausgehen und nicht abwarten, ob der Patient wohl Fragen stellt. Darüber hinaus soll der Arzt aktiv und nicht etwa Massnahmen gegenüber negativ eingestellt sein, sofern dies medizinisch möglich und vom Patienten gewünscht ist. Im Rahmen der patientenzentrierten Kommunikation hat der Arzt Anrecht darauf, dass der Patient für sich selbst Verantwortung übernimmt, wenn dies aus rechtlichen (Stichwort informed consent) oder pragmatischen Gründen (keine Therapie ohne Adhärenz) notwendig ist. Sehr wichtig war Professor Langewitz jedoch auch, was eine patientenzentrierte Kommunikation nicht umfassen soll. So sollte sie nicht auf explizit bezeichnete Emotionen fokussieren. Das allzu psychologisierende, explizite Bezeichnen und Ansprechen von Emotionen beziehungsweise das Eingehen auf negative Gefühlsäusserungen des Patienten ist in seinem Wert empirisch nicht belegt, betonte Langewitz. Es ist aber angemessen, Zeichen der Skepsis vonseiten des Patienten als Reaktion auf angebotene Informationen aufzunehmen und deren Gründe nachzufragen.
Aktives Zuhören ist gefragt
Ein Kernstück der ärztlichen Kommunikation ist das Zuhören. Wohlgemerkt jedoch nicht als passive Rezeption von Bedenken und Bedürfnissen des Patienten in psychoanalytischem Schweigen. Ebenso wenig sollte dem Patienten Konsultationszeit für die Schilderung seiner Bedenken und Bedürfnisse auf Kosten der Zeit für die Vermittlung wichtiger Informationen durch den Arzt eingeräumt werden. Es geht also darum, die Themen ebenso wie die Zeitgrenzen der Konsultation in geeigneter Form zu strukturieren, sodass der Patient die für ihn wichtigen Informationen aufnehmen und gegebenenfalls auch Widerspruch äussern kann. Die Wünsche der Patienten im Hinblick auf die ärztliche Kommunikation sind in empirischen Studien untersucht worden. An oberster Stelle der Patientenprioritäten kristallisierte sich der Wunsch nach einem «Arzt, der zuhört» heraus. Darunter verstanden Patienten ganz besonders ein Interesse des Arztes an ihrer persönlichen Situation, die umfassende Aufklärung über Symptome und Krankheitseigenschaften, Hilfestellung bei der emotionalen Bewältigung der Krankheit, aber auch Gründlichkeit des Arztes oder ein Gesprächsklima, das es ihnen erleichtert über ihre Probleme zu sprechen. Die Kosten im Gesundheitswesen sind heute in aller Munde, bringt eine patientenzentrierte Betreuung auch in dieser Hinsicht etwas? Zumindest eine amerikanische Studie weist in diese Richtung (3). Sie kam zum Schluss, dass die diagnostischen Kosten bei jenen Patienten, die eine Management mit hoher Patientenzentriertheit erhielten, deutlich tiefer lagen als bei jenen Gruppen, deren Ärzte weniger oder kaum patientenzentriert vorgingen.
Halid Bas
Referenzen: 1. Ulrike Bingel et al. The effect of treatment expectation on drug efficacy: Imaging the analgesic benefit of the opioid remifentanil. Sci Transl Med 2011; 3 (70): 70. 2. Ted J Kaptchuk et al. Components of placebo effect: randomised controlled trial in patients with irritable bwoel syndrome. BMJ 2008; 336: 999. 3. Stewart M et al. Is patient-centred care associated with lower diagnostic costs? Healthc Policy 2011; 6 (4): 27–31.
Was bedeutet «patientenzentriert»? Seminar an der 80. Jahresversammlung der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGIM), 25. Mai 2012 in Basel
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