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Restless-legs-Syndrom in der Praxis
Eisenmangel als mögliche Ursache berücksichtigen
Das Restless-legs-Syndrom ist heute in der Schweiz schon gut bekannt. Weniger verbreitet, aber praktisch wichtig, ist das Wissen um das Phänomen der Augmentation unter Therapie, so Prof. Johannes Mathis, Zentrum für Schlafmedizin, Inselspital Bern. Zur Augmentation scheinen tiefe Ferritinspiegel beizutragen. Ein Eisenmangel ist bei Restless-legs-Symptomatik zu suchen und zu behandeln.
Mit Hinweis auf immer wieder geäusserte Vorwürfe, dass Ärzte neue Krankheiten erfänden, um der Pharmaindustrie zu Blockbustern zu verhelfen, erinnerte Prof. Johannes Mathis an eine frühe Beschreibung der Störung von Thomas Willis, die wir heute als Restlesslegs-Syndrom (RLS) bezeichnen. Er hat schon 1685 eine sehr anschauliche Beschreibung des quälenden Krankheitsbildes geliefert («… that the diseased are no more able to slepp, than if they were in a place of greatest torture»). «Jeder Betroffene beschreibt seine Beschwerden wieder anders», so Prof. Mathis, «etwa als Mäuse in den Muskeln, Coca-Cola in den Venen oder als unerträglich, aber unbeschreiblich.»
Diagnostische Kriterien sind typisch, aber unspezifisch
Zur Definition des RLS gehören vier obligatorische Zeichen, die alle gemeinsam vorliegen müssen (Kasten 1). Diese vier Kriterien sind jedoch unspezifisch, beweisen die Diagnose somit nicht. Hier helfen weitere Kriterien, vor allem eine positive Familienanamnese und das Ansprechen auf Dopaminagonisten in sehr geringer Dosis. Das idiopathische RLS (30–60%), bei dem es eine familiär vererbte, autosomal dominante Form gibt, beginnt im Allgemeinen früh (vor 35–40 J.), ist langsam progredient und verläuft nicht schmerzhaft. Beim sekundären RLS kommen verschiedenste Ursachen infrage: Eisenmangel (43%), Schwangerschaft (27%), Nierenversagen (17–40%), rheumatoide Arthritis (30%). Weitere Ursachen können Diabetes mellitus, M. Parkinson, Polyneuropathien, Fibromyalgie oder Herzinsuffizienz sein. Frauen sind häufiger von RLS betroffen als Männer, im Erwachsenenalter lässt sich eine stetige Häufigkeitszunahme beobachten mit einem Gipfel bei den 70- bis 79-Jährigen. Eine einfache Einteilung des Schweregrads fragt nach der Anzahl der symptomatischen Tage pro Woche (relevant wenn > 2)
und nach der Tageszeit (ab Zubettgehen = leicht, ab ca. 18 Uhr = mittelschwer, vor 18 Uhr = schwer). Periodische Beinbewegungen im Schlaf lassen sich bei 80 Prozent der RLS-Patienten nachweisen. Die Korrelation sei aber nur mässig, warnte Prof. Mathis, denn auch 45 Prozent der über 65-Jährigen zeigten dieses Phänomen, meist ohne Beschwerden. Allerdings komme es nur bei 5 Prozent der 30- bis 50-Jährigen vor. Als Laborabklärungen bei RLS nannte Prof. Mathis: Hämatologie, Eisen, Ferritin, Vitamin B12, Folsäure, Schilddrüsenfunktion, Leber- und Nierenfunktionsparameter, Blutzucker, Elektrolyte inklusive Kalzium und Magnesium. Elektrophysiologisch kann eine Polyneuropathieabklärung indiziert sein. Die periodischen Beinbewegungen lassen sich in der Fussaktigrafie nachweisen, eine Polysomnografie ist meist unnötig. Pathogenetisch stehen Störungen im dopaminergen System auf Rezeptorebene im Vordergrund, die zu einer spinalen Enthemmung führen. Daneben wird schon seit Langem der Eisenmangel als Mitursache diskutiert. So ist auch das Serumferritin negativ korreliert mit dem RLS-Schweregrad.
Dopaminagonisten sind Medikamente der ersten Wahl
Zunächst müssen Betroffene über Ursachen, Behandlungen und Verlauf informiert werden. Als nicht pharmakologische Massnahmen kommt ein probatorischer Verzicht auf Alkohol, Nikotin, Kaffee, allenfalls Schokolade in Betracht. Leichte körperliche Betätigung, Massage, ein Bad oder Elektrostimulation werden ebenfalls empfohlen. Wichtig ist, nach den eingenommenen Medikamenten zu fragen. Dabei ist an Neuroleptika, Antiemetika (alle ausser Domperidon [Motilium®]) und Antidepressiva zu denken, die eine Restless-legs-Symptomatik hervorrufen oder begünstigen können. Bei nachgewiesenem Eisenmangel
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Kasten 1:
Definition des Restless-legs-Syndroms
A. Obligatorische Zeichen (müssen alle vorliegen): 1. Drang, die Beine (Arme) zu bewegen, meist verbunden mit
unangenehmen Gefühlen 2. Verstärkung in Ruhe (im Sitzen oder Liegen) 3. Besserung während Aktivität (Bewegung, Massieren,
geistige Ablenkung) 4. Zunahme am Abend und in der Nacht
B. Unterstützende Zeichen: 5. Positive Familienanamnese 6. Ansprechen auf dopaminerge Medikation 7. Periodische Beinbewegungen (periodic limb movements,
PLM, im Schlaf oder Wachzustand)
C. Häufig vorhandene Zeichen 8. Zunahme im mittleren und höheren Alter 9. Schlafstörungen 10. Neurostatus unauffällig (bei idiopathischer Form)
Kasten 2:
Augmentation der Beschwerden beim Restless-legs-Syndrom
Vorverschiebung der Beschwerden um einige Stunden unter der Behandlung oder bei zwei der folgenden Kriterien: • Intensitätszunahme bei höherer Dosierung • Intensitätsabnahme bei niedrigerer Dosierung • Verkürzung der Latenzzeit bis zum Auftreteten der Symptome • Ausbreitung auf andere Körperteile (nach proximal, Arme) • Verkürzung der Wirkdauer der Medikamente • Zunahme der periodischen Beinbewegungen im Wachzustand
soll eine Substitutionsherapie erfolgen. Positive Studienergebnisse liegen bisher nur bei tiefem Ferritin vor. Plazebokontrollierte Studien verliefen nur positiv bei wiederholter intravenöser Verabreichung von Eisensaccharat (Venofer®) (1) oder bei der einmaligen Applikation einer sehr hohen i.v.-Dosis (1000 mg) von Eisencarboxymaltose (Ferinject®) (2). «Heute sollte man L-Dopa nur noch bei den leichten oder bei intermittierenden Formen einsetzen», warnte Prof. Mathis, «hingegen sind Dopaminagonisten erste Wahl: Pramipexol (Sifrol®), Ropirinol (Adartrel®) oder Rotigotin (Neupro Patch®).» Faustregel: Beginn mit einer Tablette der kleinsten Dosierung, nach einer Woche kann die Dosis verdoppelt werden. Bei atypischem, schmerzhaftem, sekundärem RLS können Gabapentin (z.B. Neurontin®), Pregabalin (Lyrica®) oder
auch Duloxetin (Cymbalta®) oder in schweren Fällen Opiate inklusive Methadon zum Einsatz kommen.
Augmentation tritt innert Wochen auf
Als für die Praxis wichtig strich Prof. Mathis das Phänomen der Augmentation hervor, die es von einem Fortschreiten der Krankheit zu unterscheiden gilt (Kasten 2). Die Augmentation ist ein paradoxer Effekt der Medikamente, insbesondere von Levodopa. Bis zu 80 Prozent der Patienten sind nach einigen Monaten bis wenigen Jahren Therapie mit Levodopa davon betroffen, weshalb heute bei chronischer Therapie den nicht ergolinen Dopaminagonisten der Vorzug zu geben ist. Im Gegensatz zur Krankheitsverschlimmerung tritt die Augmentation rasch – innert Wochen – auf: Plötzlich wirken die Medikamente nicht mehr, und die Patienten erhöhen die Dosis – was das Beschwerdebild aber nur verstärkt. Typisch ist die tageszeitliche Vorverschiebung des Beschwerdebeginns sowie die Ausbreitung auf andere Körperregionen. «In dieser Situation muss man von kurz wirksamen auf lang wirksame Medikamente umstellen», präzisierte Prof. Mathis. Das Risiko der Augmentation scheint auch vom Ferritinspiegel abzuhängen. In einer Studie hatten Patienten ohne Augmentation signifikant höhere Ferritinwerte als solche mit Augmentation (3). Bei schlechtem Ansprechen auf dopaminerge Präparate sollte man die Diagnose und Ätiologie überdenken. Bei RLS sollten die Ferritinwerte über 50 µg/l gehalten werden – allerdings entspricht diese Grenze lediglich dem derzeitigen Stand des Wissens, wie Prof. Mathis in der Diskussion präzisierte. Jedenfalls ist bei tiefen Ferritinwerten eine probatorische Eisentherapie gerechtfertigt.
Halid Bas
Referenzen: 1. Grote L et al.: A randomized, double-blind, placebo controlled, multicenter study of intravenous iron sucrose and placebo in the treatment of restless legs syndrome. Mov Disord. 2009 Jul 30; 24(10): 1445–1452. 2. Allen RP et al.: Clinical efficacy and safety of IV ferric carboxymaltose (FCM) treatment of RLS: a multi-centred, placebo-controlled preliminary clinical trial. Sleep Med. 2011; 12(9): 906–913. 3. Trenkwalder C et al.: Augmentation in restless legs syndrome is associated with low ferritin. Sleep Med. 2008; 9(5): 572–574.
Das «savoir-FER» in der Behandlung des RLS und der Fatigue Symposium Vifor anlässlich des 80. Jahreskongresses der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGIM) am 25. Mai 2012 in Basel.
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