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Diabetes, Insulin und Krebs – das Thema bleibt komplex
Wissenschaftler werten neue Daten als eher «beruhigend»
Was ist dran an Beobachtungen, dass Diabetiker ein erhöhtes Krebsrisiko haben? Kann Insulin Krebs begünstigen? Wie gefährlich ist speziell das Analogon Glargin? Diese Fragen haben in letzter Zeit für einige Unruhe gesorgt. Beim europäischen Diabeteskongress in Berlin war dem aktuellen Wissensstand dazu ein eigenes Symposium gewidmet.
Die positive Nachricht vorweg: Die in Berlin vorgestellten Daten – darunter die bis heute grösste Fallkontrollstudie zum Brustkrebsrisiko unter verschiedenen Insulinen – sind eher beruhigend. Doch ist der Zusammenhang zwischen Krebs und Diabetes «komplex» und es bleibt Bedarf für weitere Forschungen, wie die Diabetesexperten beim Kongress konstatierten.
Epidemiologie zeigt nur Assoziationen
Warum konkrete Aussagen so schwierig sind, erläuterte Prof. Dr. Helen Colhoun, Public Health University, Dundee, Grossbritannien. Randomisierte, kontrollierte Studien zum Krebsrisiko erfordern riesige Teilnehmerzahlen und lange Beobachtungszeiten. Epidemiologische Daten liefern nur Anhaltspunkte. Denn sie zeigen zwar Assoziationen auf, lassen aber keine Rückschlüsse auf kausale Zusammenhänge zu. Zudem sind in Registerstudien niemals alle Einflussfaktoren, etwa zum Lebensstil, bekannt. Es kann für sie daher auch nicht korrigiert werden.
Systematische Fehler erschweren Interpretation
Systematische Fehler (Bias) erschweren zudem die Interpretation epidemiologischer Daten. Prof. Dr. Jeffrey A. Johnson, Alberta Diabetes Institute an der Edmonton-Universität, Kanada, erinnerte an einige dieser Fallstricke: • der Recall Bias: Patienten mit Krebsdiagnose erinnern
sich zuverlässiger an frühere Medikationen, die Verordnung von Insulin bleibt besser im Gedächtnis als die einer Tablette. • der Detection-Bias: Die engere Betreuung unter einer Insulintherapie macht es wahrscheinlicher, eine Krebserkrankung frühzeitig aufzudecken. • der «Immortal Time»-Bias: Berühmtes Beispiel war eine Auswertung, nach der Oscar-Preisträger länger leben als Schauspieler, die diese Würdigung nicht erhalten. Der Fehler: Es war nicht berücksichtigt worden, dass NichtOscar-Preisträger auch jung sterben können, während
die Preisträger auf jeden Fall die Ehrung erleben müssen und daher bis zu diesem Zeitpunkt quasi unsterblich («immortal») sind. Zudem, so betonte Johnson, sollte auch die Nutzungsdauer eines Medikaments, also die kumulative Exposition über die Zeit, berücksichtigt werden. Doch ist dabei wiederum zu beachten, dass sich natürlich auch das BasisTumorrisiko der Beobachteten über die Zeit ändert – allein schon aufgrund von deren zunehmendem Alter.
Datenlage für Glargin «sehr beruhigend»
Vor dem Hintergrund all dieser Probleme ist die Erkenntnislage zum Insulin glargin derzeit gar nicht so schlecht, so das Resümee der Experten. Zum einen gibt es mit ORIGIN* eine grosse randomisierte, kontrollierte Langzeitstudie. Zwar war deren primärer Endpunkt das kardiovaskuläre und nicht das Krebsrisiko. Trotzdem bezeichnete Johnson die Daten als «sehr beruhigend». Im randomisierten Vergleich von Lebensstiländerung und oralen Antidiabetika mit Insulin glargin über mehr als sechs Jahre bei mehr als 12 500 Typ-2- oder sogar Prädiabetikern betrug die Hazard Ratio für die Häufigkeit von Krebserkrankungen genau 1,0. Es zeigte sich auch bei keiner der ausgewerteten Tumorarten ein Hinweis auf ein erhöhtes Risiko unter Insulin.
Kein erhöhtes Brustkrebsrisiko unter Insulin
Die erstmals auf dem Symposium vorgestellte ISICA*-Studie unterstreicht dies. Es handelte sich um eine Fallkontrollstudie in 92 grossen Brustkrebszentren in Frankreich, Grossbritannien und Kanada. Für keines der untersuchten Insuline ergab sich ein Unterschied im Brustkrebsrisiko im Vergleich zu Kontrollpatientinnen ohne Insulinbehandlung, wie Hauptautor Prof. Dr. Lucien Abenhaim, London, berichtete. Dies gilt für Insulin glargin, Lispro, Aspart und Humaninsulin. Andere Insulinarten waren in der Studie
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nicht häufig genug eingesetzt worden. Die wissenschaftliche Qualität der Studie bewertet Colhoun als gut. Zusätzlich beruhigend sei auch, sagte sie, dass keine Assoziation zwischen der Insulinexpositionsdauer und dem Krebsrisiko bestand.
Jeder fünfte Darmkrebspatient mit Diabetes
Für ein insgesamt erhöhtes Krebsrisiko bei Typ-2Diabetikern spricht jedoch eine ebenfalls in Berlin präsentierte Auswertung des niederländischen Krebsregisters. Danach ist die Rate an Diabetikern unter Patienten mit kolorektalem Karzinom mit 20 Prozent im Vergleich zur übrigen Bevölkerung deutlich erhöht, wie Prof. Dr. Lonneke van de Poll-Franse, Eindhoven, berichtete. Diabetiker erhalten nach diesen Daten auch weniger aggressive Krebstherapien und sterben häufiger an der Tumorerkrankung. Auch das nationale dänische Krebsregister bestätigt eine höhere Krebsmortalität von Diabetikern: um 48 Prozent bei Insulinbehandlung, um 23 Prozent bei Tablettentherapie. Die Autoren selbst lasten den Unterschied jedoch nicht dem Insulin an. Vielmehr sei die Hormongabe einfach ein Marker der fortgeschritteneren Erkrankung, meinen sie. Und noch ein interessanter Aspekt am Rande: Eine italienische Arbeitsgruppe hat die verschiedenen glykämischen Variablen in ihrem Einfluss auf die Krebsmortalität geprüft. Sie kommt laut ihrer Posterpräsentation beim EASDKongress zu dem Schluss, dass vor allem postprandiale Blutzuckerspitzen ein Prädiktor der Krebssterblichkeit sind.
Sonja Böhm
v.l.n.r.: Prof. Andrew Renehan, Prof. Helen Colhoun, Prof. Lucien Abenhaim, Prof. Jeffrey Johnson und Prof. Sarah Wild
*ORIGIN = Outcome Reduction with Initial Glargine Intervention *ISICA = International Study of Insulin and Cancer
Quellen: Symposium «Diabetes and cancer: making sense of the data» und der Postersession PS 052 «Diabetes and Cancer» bei der 48. Jahrestagung der EASD (European Association for the Study of Diabetes), 1. bis 5. Oktober 2012.
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