Transkript
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Abschied von den Cumarinen
Neue ESC-Guidelines zur Antikoagulation bei Vorhofflimmern
Die neuen oralen Antikoagulanzien haben den bewährten Vitamin-K-Antagonisten in den ESC-Guidelines 2012 bei nicht valvulärem Vorhofflimmern den Rang abgelaufen und werden nun als erste Wahl empfohlen.
Die meisten Neuerungen in den ESC-Guidelines zum Vorhofflimmern betreffen die Antikoagulation. Inhaltlich seien die Neuerungen ein «Paradigmenwechsel, weg von den Cumarinen», sagte Professor Michael Böhme, Homburg/Saar, an einer Pressekonferenz. Da die neuen oralen Antikoagulanzien erst seit Kurzem zugelassen sind, habe man in vielen Punkten vorerst eine «zweitklassige» Empfehlung ausgesprochen, das heisst eine Klasse-IIa-Einstufung anstelle der Klasse I: «Wir wollen damit ausdrücken, dass man eine gewisse Vorsicht beim Gebrauch neuer, kürzlich zugelassener Medikamente walten lassen sollte», erläuterte Professor John Camm, London, der die neuen Richtlinien in München vorstellte. Bei valvulärem Vorhofflimmern werden nach wie vor die Vitamin-K-Antagonisten (VKA) empfohlen. Die fundamentale Änderung in der aktualisierten ESC-Guideline betrifft das weitaus häufigere, nicht valvuläre Vorhofflimmern: Wenn bei diesen Patienten orale Antikoagulanzien indiziert sind, werden nun die neuen Substanzen empfohlen, der Thrombininhibitor Dabigatran (Pradaxa®) oder die Faktor-Xa-Hemmer Rivaroxaban (Xarelto®) oder Apixaban (Eliquis®; in der Schweiz für diese Indikation noch nicht zugelassen). Die neuen Substanzen werden als gleichwertig für diese Indikation eingestuft, es gibt keine Empfehlung, eine davon zu bevorzugen.
Indikation gemäss Risiko
Wie hoch das Schlaganfallrisiko für einen Patienten mit Vorhofflimmern ist, wird mithilfe des CHA2-DS2-VASc Score ermittelt (s. Kasten). Ist dieser Wert null, so sollten trotz Vorhofflimmern keine antithrombotischen Medikamente verordnet werden, auch keine Acetylsalicylsäure. Ab einem Wert von 2 Punkten sind orale Antikoagulanzien indiziert. Bei nur 1 Punkt sind Blutungsrisiko und Patientenwunsch entscheidend, ob ein orales Antikoagulans verordnet werden soll oder nicht. Das Blutungsrisiko kann man mit dem Punktesystem HAS-BLED ermitteln (Tabelle). Hier ist bei 3 oder mehr Punkten von einem hohen Blu-
Wann ist die Antikoagulation bei Vorhofflimmern indiziert?
Grundsätzlich sollten Hausärzte bei ihren Patienten ab einem Alter von 65 Jahren regelmässig den Puls prüfen und bei Verdacht auf Vorhofflimmern ein EKG durchführen. Die Antikoagulation wird für alle Patienten mit Vorhofflimmern empfohlen, ausser bei denjenigen mit Kontraindikationen oder mit nur niedrigem Risiko (unter 65 Jahre alt und nur Vorhofflimmern). Die Evaluation des Schlaganfallrisikos erfolgt mit dem CHA2-DS2-VASc Score. Er reicht von 0 Punkten (= kein Risiko) bis 9 Punkte (= jährliches Risiko 15,2%) und wird wie folgt errechnet:
C kongestive Herzinsuffizienz/LV-Dysfunktion 1 Punkt
H Hypertonie
1 Punkt
A2 Alter ≥75 Jahre
2 Punkte
D Diabetes mellitus
1 Punkt
S2 Schlaganfall/TIA/Thromboembolie
2 Punkte
V vaskuläre Erkrankung
1 Punkt
A Alter 65–74
1 Punkt
Sc Geschlecht weiblich
1 Punkt
Der Zusammenhang zwischen CHA2-DS2-VASc Score und
jährlichem Schlaganfallrisiko (%) ist nicht linear:
1 Punkt
1,3%
2 Punkte
2,2%
3 Punkte
3,2%
4 Punkte
4%
5 Punkte
6,7%
6 Punkte
9,8%
7 Punkte
9,6%
8 Punkte
6,7%
9 Punkte
15,2%
tungsrisiko auszugehen, sodass der Patient engmaschig überwacht werden sollte.
ASS: bei Vorhofflimmern eher nicht Wenn der Patient keine oralen Antikoagulanzien verträgt, Kontraindikationen bestehen oder er sowohl die VKA als auch die neuen Antikoagulanzien ablehnt, gibt es noch eine therapeutische Nische für die Plättchenhemmer Acetylsalicylsäure (ASS) und Clopidogrel, sagte John Camm. Man könne dann folgende Medikation erwägen: täglich 75 bis
ESC 2012 Kardiologie 13
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Tabelle:
Blutungsrisiko bei Antikoagulation
Risikofaktoren H: Hypertonie A: abnorme Nieren- oder Leberfunktion S: Schlaganfall B: Blutung L: labile INR-Werte E: ältere Person (> 65 Jahre) D: Drogen oder Alkohol
Punkte 1 1 oder 2 1 1 1 1 1 oder 2
Ab einer Summe von 3 Punkten geht man von einem hohem Blutungsrisiko aus.
100 mg ASS plus 75 mg Clopidogrel oder – weniger wirksam – 75 bis 325 mg ASS pro Tag.
Vorhofflimmern plus Koronarstent: kein ASS!
Dass die Kombination von ASS und Clopidogrel durchaus nicht immer von Vorteil ist, zeigte die in einer Hot-LineSession präsentierte WOEST-Studie. Es ging um die Frage, welche Plättchenhemmer Patienten mit einem Stent erhalten sollen, die aus anderen Gründen bereits unter oraler Antikoagulation stehen. Solche Fälle sind nicht selten, denn rund ein Drittel der Patienten mit Vorhofflimmern oder künstlichen Herzklappen hat auch eine ischämische Herzkrankheit. Man glaubte bis anhin, dass bei diesen Patienten nach dem Einsetzen des Stents eine Dreierkombination aus oralem Antikoagulans, Clopidogrel und ASS trotz des höheren Blutungsrisikos wohl am besten sei. Nun haben Ärzte in Holland und Belgien dies erstmals in einer randomisierten Studie überprüft, und siehe da: Diese Annahme erwies sich als falsch!
Wie erwartet kam es unter der Dreiertherapie (Antikoagulans plus 75 mg Clopidogrel plus 80 mg ASS) häufiger zu Blutungen: Nach einem Jahr hatten 44,9 Prozent der Patienten mit der Dreierkombination mindestens eine Blutung erlitten, während es ohne ASS nur 19,5 Prozent waren. Aber: Die Patienten hatten unter der Zweiertherapie aus oralem Antikoagulans plus 75 mg Clopidogrel nicht mehr Herzinfarkte oder Stentthrombosen als mit der Dreiertherapie. Auch die Mortalität im ersten Jahr war mit der Zweierkombination deutlich tiefer (2,6 vs. 6,4%). Die Studie umfasste 573 Patienten, die wegen Vorhofflimmern oder künstlicher Herzklappen bereits seit mindestens einem Jahr unter oraler Antikoagulation standen und nun einen Koronarstent benötigten. Sie wurden an Spitälern in Holland und Belgien behandelt, die Studie wurde nicht von einer Firma, sondern von beteiligten Spitälern finanziert. Bei einem Bare-Metal-Stent wurden die Plättchenhemmer mindestens einen Monat lang verabreicht, bei einem Drug-Eluting-Stent für mindestens ein Jahr. «Die WOEST-Studie beweist, dass das Weglassen von ASS zu weniger Blutungen führt, ohne das Risiko von Stentthrombosen, Schlaganfällen oder Herzinfarkten zu erhöhen», sagte Studienleiter Dr. Willem Dewilde, Tilburg/ Holland.
Renate Bonifer
Pressekonferenz, 25. August 2012, und Session 2012 ESC Guidelines overview: Atrial fibrillation focussed update; Hot Line Session III: WOEST: First randomised trial that compares two different regimens with and without aspirin in patients on oral anticoagulant therapy (OAC) undergoing coronary stent placement (PCI), 28. August 2012. ESC-Kongress in München, 25. bis 29. August 2012.
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