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Blutdruckziele bei Diabetes
Metaanalyse nicht ausreichend, klinisches Urteil gefragt
Prof. Bryan Williams, Universität von Leicester, gab Empfehlungen zu noch unklaren Fragen zur Blutdruckkontrolle und zu gewissen «weissen Flecken» auf der Landkarte der Hypertoniebehandlung. Trotz aller Guidelines ermunterte er dazu, sich auf das klinische Urteil zu verlassen.
Den grössten Bedarf an einer noch besseren Blutdruckkontrolle sieht er bei älteren Patienten, bei Frauen, bei Patienten mit Schlaganfallanamnese und bei Diabetikern. Andererseits hat sich die allzu rigide Blutdruckkontrolle nicht bewährt: Die Cooper-Studie hat 2010 nach 10 Jahren eine höhere Mortalität bei den eng kontrollierten Patienten gezeigt (1). Ein systolischer Druck unter 115 mmHg korreliert mit einem signifikanten Mortalitätsanstieg. Ein Blutdruckbehandlungsziel von etwa 130 bis 135 mmHg systolisch bezeichnete Williams für Personen mit Diabetes mellitus oder gestörter Glukosetoleranz als akzeptabel. Bei aggressiveren Blutdruckzielen, also unter 130 mmHg, sinkt zwar weiterhin das Risiko für einen Schlaganfall, aber für andere mikro- und makrovaskuläre Organschädigungen ergibt sich kein klarer Vorteil, bei gleichzeitig unverhältnismässig hohem Anstieg des Risikos für Nebenwirkungen. Bei einem Blutdruck unter 130 mmHg litten 40 Prozent der Teilnehmer an ernsten Nebenwirkungen. Aus der Metaanalyse von Bangalore und Mitarbeitern (2) mit 37 336 Teilnehmern aus 13 randomisierten kontrollierten Studien fasste Williams zusammen: • Der optimale Blutdruck bleibt unsicher. • Das Blutdruckziel von unter 130/80 mmHg entbehrt
einer guten Evidenzgrundlage (wird jedoch durch pathophysiologische Überlegungen gestützt). • Ein Ziel von unter 140/90 mmHg erscheint sicher. Ein strengeres Blutdruckziel könnte für Personen mit einem hohen Schlaganfallrisiko und eventuell auch Nephropathie angemessen sein (wie aber das erhöhte Schlaganfallrisiko definieren?). Der hierdurch zu erreichende Gewinn müsste dann gegenüber den potenziellen Nebenwirkungen der zu starken Drucksenkung abgewogen werden. Nachdem trotz der 2011 erschienenen Metaanalyse immer noch «möglicherweise», «scheint» und «könnte» die Hauptvokabeln sind, betonte der Referent, dass Metaanalysen und Post-hoc-Analysen kein Ersatz für randomisierte kontrollierte Studien sind. Um verlässlichere Aussagen treffen zu können, sind weitere Studien erforderlich. «Ich finde es
recht skandalös, dass wir keine Daten zum empfehlenswerten Schwellenwert haben», machte der Referent drastisch seinen Standpunkt klar.
Individueller Ansatz
Bei Hypertonikern mit Diabetes ist das (Gefäss-)Alter zu
bedenken, das im Allgemeinen 10 Jahre höher liegt als
dasjenige vergleichbarer Patienten ohne Diabetes.
Ältere Patienten tolerieren eine energische Drucksenkung
schlechter als jüngere; bei den älteren ist die Blutdruck-
senkung oft «zu viel und zu spät», wegen ihrer starren Ge-
fässe, der verschlechterten Barorezeptorfunktion und der
fortgeschrittenen Atheromatose. Häufig ist die glomeru-
läre Filtrationsrate reduziert.
Bei jüngeren Diabetikern lässt sich oft viel mehr erreichen.
Hier gilt: «Je jünger, desto niedriger, und das wäre die Be-
handlung, die ich mir selbst in dieser Situation erhoffen
würde», betonte Williams.
Der behandelnde Arzt sollte den Endorganschaden be-
urteilen und, falls ein solcher nachweisbar ist, eher streng
den Blutdruck einstellen, bei genauer Beobachtung, was
der Patient verträgt. Er wünscht sich hier einen mehr per-
sonenbezogenen Ansatz, der in Guidelines nur sehr
schwierig niederzulegen ist. Die Guidelines aus seinem
Land (NICE-Guidelines) lassen beispielsweise das Thema
Diabetes mellitus aussen vor. Der Referent riet, sich auf
sein klinisches Urteil zu verlassen, «denn das ist immer-
hin das, wofür wir bezahlt werden».
Ulrike Novotny
Referenzen: 1. Rhonda M. Cooper-DeHoff et al.: Tight blood pressure control and cardiovascular outcomes among hypertensive patients with diabetes and coronary artery disease. JAMA 2010; 304(1):61–68. doi:10.1001/ jama.2010.884 2. Sripal Bangalore et al.: Blood pressure targets in subjects with type 2 diabetes mellitus/impaired fasting glucose. Observations from traditional and Bayesian random-effects meta-analyses of randomized trials. Circulation, Published online before print May 31, 2011. doi: 10.1161/CIRCULATIONAHA.110.016337
Blood pressure control in diabetes. Breakfast Workshop 27. April 2012.
6 Kardiologie ESH 2012