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28. SCHWEIZERISCHE TAGUNG FÜR PHYTOTHERAPIE, BADEN, 21. NOVEMBER 2013
Was kann die Volksmedizin zum therapeutischen Wissen beitragen?
Maja Dal Cero
Einleitung
Schweizer Volksheilkunde ist ohne ihren Arzneipflanzenschatz undenkbar. Heilpflanzen werden als Hausmittel innerlich und äusserlich verwendet, in speziellen Zubereitungen für Naturheilverfahren oder als wissenschaftlich evaluierte Phytopharmaka. Im Laufe der letzten Jahrhunderte hat sich die Zusammensetzung dieses Arzneipflanzenschatzes vielfach verändert: Neue Pflanzen kamen durch die Entdeckung bisher unbekannter Florenreiche dazu, andere sind wieder in Vergessenheit geraten (1). Die Auswahl von Arzneipflanzen aus der lokal vorhandenen Flora erfolgte ursprünglich aufgrund von sensorisch leicht erkennbaren Inhaltsstoffen wie Bitterstoffen, ätherischen Ölen oder Gerbstoffen und aufgrund von beobachteten Wirkungen. Doch spielen auch kulturelle Faktoren eine wichtige Rolle in diesem Auswahlprozess. So ist der gegenwärtige Gebrauch der Medizinalflora der Schweiz das Resultat einer jahrtausendealten Entwicklung im Wechselspiel zwischen lokal vorhandener Flora sowie kulturellen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Bis in die Gegenwart findet dieser Auswahlprozess seine Fortsetzung durch die intensive Auseinandersetzung zwischen den unterschiedlichen Standpunkten in der medizinischen Landschaft der Schweiz (Schulmedizin, Alternativ- und komplementärmedizinische Verfahren sowie familiäre und lokale Traditionen). Dabei stehen beispielsweise neue wissenschaftliche Erkenntnisse im Spannungsfeld mit Überlieferungen, wie etwa beim Huflattich Tussilago farfara, oder
wirtschaftliche Überlegungen führen zu einer Veränderung im Angebot von pflanzlichen Arzneimitteln.
Charakterisierung der schweizerischen Medizinalflora
Eine aktuelle ethnobotanische Studie charakterisiert verschiedene Aspekte der Medizinalflora der Schweiz (2). Ergebnisse aus 61 Experteninterviews mit kräuterkundigen Menschen (Heilpflanzenexpertinnen und -experten) in der deutschsprachigen Schweiz zeigen, dass rund 250 Arzneipflanzen gegenwärtig aktiv in Gebrauch sind (2). Das entspricht gut 30 Prozent der 770 Arzneipflanzen, die in den 2000 Jahren schriftlicher Tradition in Mitteleuropa dokumentiert sind (1). Zu den am häufigsten verwendeten Arzneipflanzen gehören Taraxacum officinale, Hypericum perforatum, Melissa officinalis, Symphytum officinale, Thymus spp. und Urtica dioica (Abbildung 1). Aktuelle ethnobotanische Studien in unterschiedlichen Regionen der Schweiz (Emmental [3], Jura [4],Val d’Anniviers [5],Tessin [6] und Prättigau [7]) zeigen ähnliche Ergebnisse in der Gesamtzahl der genutzten Pflanzen, jedoch unterschiedliche regionale Präferenzen, unter anderem abhängig von der lokal vorhandenen Flora. Ein Vergleich der bevorzugten Pflanzen bei Expertinnen und Experten sowie Laien (Studierenden) zeigt ebenfalls deutliche Unterschiede bei den Präferenzen. So steht bei den Laien die Kamille mit grossem Abstand an der Spitze der verwendeten Arzneipflanzen (Abbildung 2) mit Erwähnung in 83 Prozent der Fragebögen beziehungsweise 10 Prozent der Use-Reports (d.h. einer spezifischen Anwendung einer bestimmten Arzneipflanze). Die Kamille wird vielfältig eingesetzt:beiVerdauungsbeschwerden, lokalen Entzündungen, Erkältungen oder zur Nervenberuhigung. Insgesamt besteht die Auswahl der am häufigsten genannten Arzneipflanzen aus allgemein gut bekannten und in der Praxis bewährten Pflanzen. Bei etlichen besteht auch breite wissenschaftliche Evidenz zur Wirkung wie zum Beispiel bei Kamille, Thymian, Johanniskraut und Baldrian.
Der detaillierte Blick auf die Zusammensetzung der zurzeit genutzten Medizinalflora zeigt eine klare Bevorzugung bestimmter Pflanzenfamilien (Apiaceae, Lamiaceae, Pinaceae, Rosaceae unter anderem), die alle sensorisch leicht erkennbare Inhaltsstoffe enthalten (1, 2). Auch in anderen Medizinalsystemen der nördlichen Hemisphäre werden diese Pflanzenfamilien bevorzugt. Die häufigste Zubereitungsform ist der Kräutertee (44%), danach folgen Tinkturen (20%), Ölauszüge (5%), ätherische Öle (4%), Nahrungsmittel (4%), Salben (3%) und Wickel/Kompressen (3%) (2). Indikationen für die Anwendung von Arzneipflanzen sind folgende Kategorien in abnehmender Reihenfolge: Haut, Atemwege, Nerven, Verdauungstrakt, allgemeine Stärkung, Bewegungsapparat, Frauenheilkunde, Urogenitaltrakt, Detoxifikation(Entgiftung/ Entschlackung), Herz-Kreislauf (2).
Therapeutische Aspekte
Aus den qualitativen Ergebnissen der Experteninterviews lassen sich einige Merkmale volksheilkundlicher Arzneipflanzenanwendungen ableiten. 1. Es gibt ein breites Verständnis, was eine
Heilpflanze ist – von gesundheitsfördernden Nahrungspflanzen (z.B. Taraxacum officinale, Urtica dioica) über Gewürze (z.B. Rosmarinus officinalis, Thymus vulgaris) bis zu eigentlichen Arzneipflanzen (z.B. Arnica montana, Hypericum perforatum, Gentiana lutea). Giftpflanzen (wie z.B. Atropa belladonna, Aconitum napellus.) werden hauptsächlich in homöopathischen Zubereitungen verwendet, um Vergiftungen zu vermeiden. 2. Zwei wichtige Strategien zum Einsatz von Medizinalpflanzen sind Prävention (v.a. bei gesundheitsfördernden Nahrungspflanzen und Gewürzen) und Detoxifikation/Entgiftung (v.a. bei gesundheitsfördernden Nahrungspflanzen und eigentlichen Arzneipflanzen). 3. Die volksheilkundliche Verwendung von Pflanzen ist stark geprägt vom Gedanken der Selbstverantwortung (Empo-
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werment). Pflanzen werden zur selbst-
ständigen und selbstbestimmten Ge-
sundheitsförderung eingesetzt, oft auch
als komplementäre Anwendungen zu
anderen Therapien.
4. Arzneipflanzen werden in ihrem kultu-
rellen Kontext eingesetzt. Unzählige
heitere oder abenteuerliche Geschich-
ten ranken sich um die Arzneipflanzen.
Das Erzählen dieser Geschichten, das
Beschreiben, woher eine Pflanze
kommt, die Einbindung in den lokalen
Kontext sind wichtige Elemente der
volksheilkundlichen Anwendungen.
5. Die sinnliche Wahrnehmung der Arz-
neipflanzen (Duft, Farbe, Geruch) spielt
in den Anwendungen eine wichtige
Rolle. So wird die Beschäftigung mit den
Pflanzen an sich bereits als förderlich
wahrgenommen, sowohl für die behan-
delte als auch für die behandelnde Per-
son. Dabei steht oft ein intensiver emo-
tionaler Bezug zu den Pflanzen als
ästhetische Lebewesen im Zentrum.
Diese Aspekte der volksheilkundlichen Arz-
neipflanzenanwendungen können durch-
aus auch eine rationale, evidenzbasierte
Phytotherapie sinnvoll ergänzen.
N
Anschrift der Referentin Maja Dal Cero Institut für Systematische Botanik Universität Zürich, Zollikerstrasse 107 8008 Zürich. dalcero@swissworld.ch
Referenzen:
1. Dal Cero M, Saller R, Weckerle C, 2014. Medicinal plants in Switzerland: a comparison of past and recent knowledge and the use of the localflora. JEP 151; 253–264.
2. Dal Cero M, Saller R, Weckerle C: Medicinal plant knowledge of herbalists in Switzerland. In Vorbereitung.
3. Poncet A, 2005. Pflanzen und Menschen im Emmental – Eine ethnobotanische Studie über den Kräuterhandel einer Bauernfamilie des Voralpengebiets. Masterthesis, Université Neuchâtel, Switzerland.
4. Broquet C, 2006. Chasseral, à la rencontre de l’homme et du végétal; Enquêtes ethnobotaniques sur l’utilisation des plantes dans une région de la chaîne Jurassienne. Master-Thesis Université Neuchâtel, Switzerland.
5. Brühschweiler S, 2008. Plantes et Savoirs des Alpes; l’exemple du val d’Anniviers. Monographic SA, Sierre.
6. Poretti G, 2009. Souvenirs et savoirs populaires sur les plantes médicinales. Recherche éthnobotanique dans la région du Canton du Tessin. PhD-Thesis, Université Neuchâtel, Switzerland.
7. Wegmann U, 2013. Ethnobotanik im Prättigau. Medizinalpflanzen – Nutzung und Wissen. MasterThesis Universität Zürich.
Abbildung 1: Von Kräuterkundigen am häufigsten gebrauchte Arzneipflanzen: Taraxacum officinale, Hypericum perforatum, Melissa officinalis, Symphytum officinale, Thymus spp. und Urtica dioica.
Abbildung 2: 25 Arzneipflanzen, die am häufigsten von Laien (n = 161) genannt wurden.
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