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28. SCHWEIZERISCHE TAGUNG FÜR PHYTOTHERAPIE, BADEN, 21. NOVEMBER 2013
Kohortenstudien als Grundlage für erweiterte Erkenntnisse der Wirksamkeit pflanzlicher Präparate am Beispiel der Mistel
Marcus Reif
Einleitung
Die randomisierte, plazebokontrollierte Studie (randomized controlled trial, RCT) ist zu einer Ikone der medizinischen Forschung geworden. Die Betonung ihrer einzigartigen Stellung im Gesamtkonzept der evidenzbasierten Medizin (EbM) beginnt in den universitären Curricula und findet sich in den Behandlungsleitlinien der Fachgesellschaften und in den Zulassungsrichtlinien für Pharmazeutika all jener Staaten wieder, die sich an den Empfehlungen der «International Conference on Harmonisation of Technical Requirements for Registration of Pharmaceuticals for Human Use» (ICH) orientieren. Die Kehrseite der Medaille ist, dass andere Studiendesigns oftmals als minderwertig angesehen werden und ihre Ergebnisse kaum noch Beachtung finden. Diese Herabsetzung entspricht jedoch in keiner Weise ihrer Bedeutung in der klinischen Forschung und auch nicht der zugrunde liegenden Intention der EbM. David Sackett, einer der «Väter» der EbM, definiert EbM als «der gewissenhafte, ausdrückliche und vernünftige Gebrauch der gegenwärtig besten Evidenz» (the conscientious, explicit, and judicious use of current best evidence») (1). Die Praxis der EbM beschränkt sich dabei keinesfalls auf externe Evidenz aus systematischer (experimenteller und quasi-experimenteller) Forschung, sondern
umfasst explizit auch die individuelle klinische Expertise, also Können und Urteilskraft, die sich ein Arzt im Rahmen seiner Erfahrung und klinischen Praxis erworben hat und die sich neben seiner gründlichen und erfolgreichen Diagnose auch in seiner mitdenkenden und mitfühlenden Identifikation mit dem Patienten und der Berücksichtigung seiner besonderen Situation, seiner Rechte und Präferenzen widerspiegelt («in more effective and efficient diagnosis and in the more thoughtful identification and compassionate use of individual patients’ predicaments, rights, and preferences») (1). Oftmals lassen Verfahren, die sich auf EbM berufen, jedoch nicht nur die individuelle Expertise vollkommen unberücksichtigt. Die übliche Praxis, vorhandene Studien in eine absolute Hierarchie geordneter Evidenzgrade mit vier (gemäss AHCPR) (2) oder fünf (gemäss CEBM) (3) Klassen einzuteilen und dabei fehlende RCT als fehlende beste Evidenz zu deklarieren, fehlinterpretiert die ursprüngliche Relativdefinition der «gegenwärtig besten Evidenz». Ist eine Fragestellung nicht mittels RCT untersucht, wird in Konsequenz nicht die qualitativ höchstwertige Studie als gegenwärtig beste Evidenz herangezogen; vielmehr wird ein Fehlen der besten Evidenz konstatiert. Diese Vorgehensweise ignoriert den Umstand, dass für viele klinische Verfahren eine RCT nicht oder nur unter ethisch nicht zumutbaren Bedingungen durchführbar ist. Besonders eine Verblindung ist häufig schon aus rein technischen Gründen innerhalb der Fachbereiche Chirurgie, Psycho-, Physio-, Bewegungs- oder Kreativtherapie gar nicht möglich. Die ethische Voraussetzung zur Randomisierung umfasst eine Unentschiedenheit zwischen zwei Behandlungsalternativen, das heisst, es darf keinen ausreichenden Grund für die An-
nahme geben, dass die Prüftherapie wirksamer ist als die Kontrolltherapie. Das wäre bei seit Jahrzehnten durchgeführten Therapien, die im Rahmen des «well-established use» zugelassen sind, nahezu ein Paradoxon. Gerade bei diesen Therapieformen ist ausserdem die Bereitschaft der Patienten zur Teilnahme an einer RCT erfahrungsgemäss sehr gering ausgeprägt.
Gibt es eine Alternative zur RCT?
Typische RCT zeichnen sich durch bestimmte Charakteristika aus: Patienten werden einem von mehreren (in der Regel zwei) Studienarmen per Zufallsverfahren zugeteilt; jeder Behandlungsarm ist dabei durch eine bestimmte Intervention (experimentelles Verfahren, etabliertes Kontrollverfahren, Plazebogabe, Nichtbehandlung) definiert; die Wirksamkeit der untersuchten Therapie wird anhand von vor Studienbeginn festgelegten Zielparametern bestimmt. RCT-äquivalente Studiendesigns ohne die Elemente der Randomisierung und Plazebogabe werden als Therapie- oder Kohortenstudien bezeichnet (Abbildung 1). Man unterscheidet dabei prinzipiell retrospektive (in die Vergangenheit gerichtete) und prospektive (in die Zukunft gerichtete) Studiendesigns. Ein besondere Form stellt das sogenannte retrolektive Studiendesign dar, bei der ähnlich einer RCT zuerst ein detailliertes Studienprotokoll entworfen wird, der Aufnahmezeitpunkt der Patienten in die Studie dann aber basierend auf Krankenaktendaten in die Vergangenheit verlegt wird. Patienten können dabei ausschliesslich durch retrospektive Daten in der Studie repräsentiert sein, sie können aber auch (zumindest theoretisch) prospektiv in der Studie weiter dokumentiert werden. Ein Zufallselement wird im Rahmen dieser
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Studie auch eingeführt, indem statt der einzelnen Patienten nur bestimmte Kliniken in die Studie randomisiert werden. Trotzdem ist auch die retrolektive Studie eine nicht interventionelle Studienform. Nicht interventionelle Vergleichsstudien enthalten definitionsgemäss keine nicht medizinische Entscheidung über die Therapie eines Patienten. Eine medizinisch begründete Therapieentscheidung bedingt aber den grössten Nachteil dieses Studiendesigns gegenüber der RCT: Die Besetzung der Therapiegruppen ist inhärent inkonsistent, und beobachtete Unterschiede zwischen verschiedenen Therapiegruppen können nicht nur aufgrund der Therapien selbst, sondern auch durch Unterschiede zwischen den Ausgangslagen der Patienten in diesen Gruppen zustande kommen. Dieses «confounding by indication» trifft in ähnlicher Form auch zu, wenn Ärzte sich in der Therapieentscheidung an den Wünschen ihrer Patienten orientieren. Eine methodische Kontrolle für diese patientenpräferenzbedingten Unterschiede ist dann noch schwieriger, da es sich um nur schwer zu erfassende Persönlichkeitsmerkmale der Patienten handelt und weniger um medizinische, eher quantifizierbare Kriterien. Bei «confounding by indication» gibt es weitere störende Einflüsse, sogenannte Biasfaktoren, die auch in RCT auftreten, in nicht randomisierten Studien jedoch stärker ausgeprägt sein können und daher mit höherer Aufmerksamkeit beachtet werden sollten. Neben dem «selection bias», der eingeschränkten Auswahl beziehungsweise Zuordnung von Patienten beziehungsweise Therapien, zu dem auch das «confounding by indication» gehört, fällt darunter noch der «information bias» (auch «detection bias» oder «recall bias» genannt: unterschiedlich präzise Datenerhebung in den verschiedenen Therapiegruppen), der «attrition bias» (unterschiedliche Patientenanwesenheit) und der «performance bias» (über die eigentliche Therapie hinausgehende Behandlungsunterschiede). Diese bekannten Biasfaktoren können durch geeignete Studienplanung und -auswertung vermieden beziehungsweise dokumentiert und in der nachfolgenden statistischen Auswertung berücksichtigt werden. Methoden hierfür stellen stratifizierte Studiendesigns und entsprechende stratifizierte beziehungsweise multiple Regressionsmodelle dar. Verbreitet ist auch das Propensity-Score-
Abbildung 1: Beispiele für Studiendesigns von Beobachtungsstudien
(PS)-Matching, bei dem ein unidimensionaler Score berechnet wird, der die Wahrscheinlichkeit wiedergibt, bei einer bestimmten Einflussfaktorenkombination einer bestimmten Therapie zugeordnet zu werden. Dieser Score wird dann bei der statistischen Auswertung berücksichtigt, wodurch die Vergleichbarkeit der Therapiegruppen wiederhergestellt wird. Ein mathematisch verwandtes Prinzip ist das Disease-Risk-Score-(DRS)-Matching, bei dem die Wahrscheinlichkeit nicht für eine Therapie, sondern für einen Behandlungs(miss-)erfolg in der Kontrollgruppe geschätzt wird (4, 5)
Behandlung unbekannter Einflussfaktoren
Auch wenn bekannte Biasfaktoren durch geeignete Studienplanung und -auswertung zum grossen Teil handhabbar sind, kann in nicht randomisierten Studien niemals vollkommen ausgeschlossen werden, dass unbekannte, aber studienrelevante Faktoren die Vergleichbarkeit der Therapiegruppen verzerren; diese unbekannten Biasfaktoren sind es, die als letzte Begründung für eine höhere interne Validität eines randomisierten Studiendesigns angeführt werden. Jedoch gibt es auch für den Fall unbekannter Confounder Methoden zur valideren Wirksamkeitsabschätzung; diese wurden primär für ökonomische und sozialwissenschaftliche Fragestellungen entwickelt. Das einfachste Verfahren, die Instrumental-Variable-(IV)Methode, lässt sich ähnlich wie der PS und der DRS als Hinzunahme eines korrigieren-
den Faktors auffassen, mit dem Gruppenunterschiede ausbalanciert werden sollen; im Unterschied zu oben genannten Verfahren darf der IV-Faktor jedoch nur mit der Therapieentscheidung, jedoch nicht mit dem Therapieoutcome assoziiert sein (6). Eine Weiterentwicklung der IV-Methode sind Marginal Structural Models (MSM), die die nicht gewählte Therapie für einen bestimmten Patienten als Fehlwerte dessen imaginären «Zwillings» (sein «Counterfactual») behandeln und über Gewichtungsverfahren die Therapiearme ausbalancieren (7). Diese Verfahren werden in der Epidemiologie bereits häufig verwendet und haben damit Eingang in gesundheitswissenschaftliche Fragestellungen gefunden.
Retrolektive Kohortenstudien zur Misteltherapie
In Deutschland wenden bis zu 80 Prozent aller Tumorpatienten mindestens einmal im Laufe ihrer Erkrankung Iscador® oder andere Mistelextrakte an; häufig ergreifen sie dabei die Initiative und bitten ihren behandelnden Arzt um eine Verschreibung. Die antitumoralen Wirkungen der Mistel nach subkutaner Injektion sind in vitro gut dokumentiert und umfassen Inhibierung der Zellteilung, Induktion der Apoptose, Aktivierung immunkompetenter Zellen und das selektive Einschliessen (trapping) von Chemotherapeutika innerhalb von Krebszellen (8). Die klinische Wirkung der Misteltherapie wird jedoch kontrovers diskutiert, da deutlichere Therapieeffekte vor allem bei methodisch weniger genau
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Abbildung 2: Inzidenz unerwünschter Wirkungen der Chemo-/Radiotherapie bei CRC-Patienten mit (ISC group) beziehungsweise ohne (Control group) begleitende subkutane Misteltherapie (nach [14])
Abbildung 3: Inzidenz unerwünschter Wirkungen der Chemo-/Radiotherapie bei Pankreaskarzinompatienten mit (Iscador group) beziehungsweise ohne (Control group) begleitende subkutane Misteltherapie (nach [15])
Abbildung 4: Risikoverhältnis (Odds Ratio) für tumor- beziehungsweise behandlungsbedingte Symptome bei CRC-Patienten mit versus ohne subkutane Misteltherapie. Werte < 1 stellen geringere Risiken für Patienten mit Misteltherapie dar (nach [14]) Abbildung 5: Risikoverhältnis (Odds Ratio) für tumor- beziehungsweise behandlungsbedingte Symptome bei Pankreaskarzinompatienten mit versus ohne subkutane Misteltherapie. Werte < 1 stellen geringere Risiken für Patienten mit Misteltherapie dar (nach [15]) Abbildung 6: Tumorfreies Überleben bei CRC-Patienten mit (durchgezogene Linie) beziehungsweise ohne (gestrichelte Linie) begleitende subkutane Misteltherapie (Hazard Ratio [95%-KI] = 0,68 [0,51–0,92], p = 0,013; nach [14]) Abbildung 7: Gesamtüberleben bei Pankreaskarzinompatienten mit (graue Linie) beziehungsweise ohne (schwarze Linie) begleitende subkutane Misteltherapie (Hazard Ratio [95%-KI] = 0,52 [0,40–0,68], p < 0,001; nach [15]) thema22 PHYTOTHERAPIE 1/2014 28. SCHWEIZERISCHE TAGUNG FÜR PHYTOTHERAPIE, BADEN, 21. NOVEMBER 2013 durchgeführten beziehungsweise dokumentierten Studien beobachtet wurden (9, 10). Die Durchführung neuer RCT leidet zum einen darunter, dass Mistelextrakte aufgrund ihrer zum Teil deutlichen lokalen Nebenwirkungen, bis zu deren Auftreten die Dosis der Mistelgabe erhöht wird, nicht wirklich mit einem Plazebo verblindet werden können. Zum anderen ist die Bereitschaft zur Teilnahme an Mistelstudien sowohl bei Ärzten als auch bei Patienten nur sehr gering vorhanden. Befürworter der Misteltherapie in der Ärzteschaft können es nicht vertreten, sie ihren an einem Tumor erkrankten Patienten vorzuenthalten. Entsprechende Patienten lassen sich ein Mistelpräparat einfach von ihrem behandelnden Arzt verschreiben; umgekehrt sind Patienten, die eine Misteltherapie ablehnen, erst recht nicht bereit, an einer diesbezüglichen RCT teilzunehmen. Aufgrund der jahrzehntelangen Anwendung von Mistelextrakten enthalten jedoch bestehende Datenquellen wie Krankenakten oder klinische Register eine bedeutende Informationsmenge zu Misteltherapien, die zu ihrer weiteren Wirksamkeitsabschätzung dienen können, zum Beispiel Angaben zur Symptomkontrolle der Tumorerkrankung, zur Patientencompliance bezüglich konventioneller Behandlungsprotokolle, zur Lebensqualität, zu individuellen Studienverläufen und zu möglichen Vorteilen eines gesamtheitlichen Therapieansatzes (whole medical system approach). In den Jahren 2004 bis 2010 wurden vier retrolektive Kohortenstudien zur Wirksamkeit und Sicherheit des Mistelpräparats Iscador® (ISC) publiziert, die Krankenakten aus den Jahren 1993 bis 2002 nach den Vorgaben eines retrolektiven Studiendesigns (11) beim Mammakarzinom (12), malignen Abbildung 8: Überlebenszeitkurven (Kaplan-Meier-Methode) der RCT bei Pankreaskarzinompatienten mit (durchgezogene Linie) beziehungsweise ohne (gestrichelte Linie) subkutane Misteltherapie (nach [16]) Melanom (13), kolorektalen (CRC) (14) beziehungsweise Pankreaskarzinom (PAN) (15) auswerteten. Beispielhaft sollen hier die beiden Studien zum kolorektalen und zum Pankreaskarzinom dargestellt werden. In der CRC-Studie wurden 804 (429 ISC vs. 375 Kontrolle) nicht metastasierte Patienten aus 26 Studienzentren über einen medianen Zeitraum von 58 beziehungsweise 51 Monaten nachverfolgt; die mediane Misteltherapiedauer betrug 51 Monate. Ungefähr 54 Prozent aller Patienten über beide Gruppen erhielten adjuvante Chemotherapie (CTX, hauptsächlich 5-FU-basierte Mono- oder Kombinations-CTX); 17 Prozent erhielten Radiotherapie. In die PAN-Studie wurden 396 (201 ISC- versus 195 Kontroll)Patienten aus 17 Zentren über einen media- nen Zeitraum von 15 beziehungsweise 10 Monaten nachverfolgt; die mittlere Misteltherapiedauer betrug ebenfalls 15 Monate. Ungefähr 58 Prozent aller Patienten über beide Gruppen erhielten CTX (hauptsächlich Gemcitabine), wobei ein deutliches Übergewicht in der ISC-Gruppe vorherrschte (ISC 72,0% vs. Kontrolle 43,6%); 11,4 Prozent erhielten Radiotherapie, davon überproportional viele in der Kontrollgruppe (ISC 4,5% vs. Kontrolle 18,5%). Ganz wie in Beobachtungsstudien zu erwarten, unterschieden sich die Therapiegruppen in beiden Studien auch hinsichtlich anderer prognostisch wichtiger Faktoren, so im Alter, im BMI, in der Anwesenheit von Risikofaktoren und im UICC-Stadium. Um diese bekannten Imbalancen auszugleichen, wur- 28. SCHWEIZERISCHE TAGUNG FÜR PHYTOTHERAPIE, BADEN, 21. NOVEMBER 2013 den die Daten mit multivariaten statistischen Modellen ausgewertet, in die als beeinflussende Faktoren das Alter, das Geschlecht, die Begleiterkrankungen, die Tumor-OP, die UICC/AICC-Klasse, das PostOP-Staging, die Chemo- und/oder die Radiotherapie und Begleittherapien eingingen; die CRC-Studie berücksichtigte ausserdem die Art des Zentrums (Krankenhaus vs. Praxis), die Tumorlokalisation, die Dauer der Chemotherapie und weitere supportive Therapien. Die Ergebnisse dieser primären Analysen wurden durch Sensitivitätsanalysen kontrolliert, darunter prädefinierte multivariate Modelle, Variablenselektionsmodelle, stratifizierte und Propensity-Score-Analysen. Beide Studien untersuchten als Zielparameter die relative Häufigkeit unerwünschter Chemo- beziehungsweise strahlentherapiebedingter Ereignisse, tumorbedingter Symptomatiken sowie das Disease-free (CRC) beziehungsweise das Overall (PAN) Survival. In all diesen Parametern wurden signifikant bessere Befunde unter der Iscadortherapie beobachtet als in der Kontrollgruppe und durch die Sensitivitätsanalysen bestätigt (Abbildungen 2–7). Retrolektive Studien als Grundlage prospektiver Beobachtungsstudien und RCT Kritik am retrolektiven Studiendesign richtet sich neben der fehlenden Randomisierung immer auch auf die Frage der Datenqualität, da diese Daten ja nicht im Rahmen einer Studie, sondern lediglich in der klinischen Routine erhoben und nur nachträglich für eine studienbezogene Auswertung aufbereitet werden. Um dieser Kritik im Rahmen der hier dargestellten Studien beim CRC und Pankreaskarzinom zu begegnen, wurden im Jahr 2010 zwei prospektive Therapiestudien in diesen Indikationen lanciert, die im Prinzip die retrolektiven Studien prospektiv wiederholen. Das Ende der Datenerhebung beider Studien ist für Juni 2014 (PAN) beziehungsweise Dezember 2014 (CRC) geplant, entsprechend können hier noch keine Ergebnisse publiziert werden. Neben diesen beiden Kohortenstudien war jedoch parallel bereits im Januar 2009 eine RCT zur Misteltherapie beim Pankreaskarzinom am Zentralklinikum von Serbien begonnen worden, deren geplante Zwischenauswertung im Oktober 2011 so gute Ergebnisse erbrachte, dass das unabhängige Gutach- tergremium den Abbruch der Studie aufgrund nachgewiesener Wirksamkeit empfahl: Das mediane Überleben in der Mistelgruppe lag bei 4,8 Monaten, bei der Kontrollgruppe, die lediglich Best Supportive Care erhielt, bei 2,7 Monaten (Abbildung 8) (16). Zugleich waren deutliche Verbesserungen in den meisten Bereichen der Lebensqualität zu beobachten, darunter bei der allgemeinen Lebensqualität, der physischen, emotionalen und kognitiven Funktionsfähigkeit sowie den Symptomskalen zu Fatigue, Schmerzen, Appetitlosigkeit und Übelkeit/Erbrechen (bestimmt anhand des Kernfragebogens der European Organization for the Treatment and Research of Cancer, EORTC) (17) Fazit Retrolektive Studiendesigns und entspre- chend komplexe Auswertstrategien kön- nen besser als rein retrospektive Analysen Verzerrungen aus Beobachtungsstudien kontrollieren und zum Wirksamkeitsbeleg einer Therapie beitragen. Klinisch-epide- miologische Kohortenstudien und RCT unterstützen sich dabei gegenseitig in ihrer Aussagekraft durch ihre unterschied- liche Betonung der internen beziehungs- weise externen Validität; beide Studien- designs gewinnen in ihrer Interpretation, wenn Studien im jeweils anderen Design qualitativ zu den gleichen Ergebnissen kommen. Das Ansehen und die Bedeutung des retrolektiven Studiendesigns wird möglicherweise noch steigen, wenn in Deutschland das am 30. April 2013 veröf- fentlichte Krebsfrüherkennungs- und -re- gistergesetz (KFRG) umgesetzt wird, das die bundesweite Einführung von einheit- lichen Krebsregistern und die verpflich- tende Auswertung der damit erhobenen Daten vorsieht. N Anschrift des Referenten Dr. rer. nat. Marcus Reif Institut für klinische Forschung IKF Berlin Marcus.reif@ikf-berlin.de Literaturreferenzen: 1. Sackett DL, Richardson WS, Rosenberg W, Hynes RB. Evidence-based medicine. How to practice and teach EBM. Churchill Livingstone, New York, Edinburgh, London, Madrid, 1997. 2. AHCPR Publication 1992, 92–0032: 100–107 3. Oxford Centre for Evidence-based Medicine Levels of Evidence (March 2009); http://www.cebm. net/?o=1025; zuletzt abgerufen am 6.12.2013. 4. Arbogast PG, Ray WA. 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