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26. SCHWEIZERISCHE TAGUNG FÜR PHYTOTHERAPIE, BADEN, 17. NOVEMBER 2011
Phytotherapie in der Neurologie – Bedürfnisse und Erfahrungen
Dr. med. Robert Käufeler
Entstehung der Neurologie
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führten wichtige Fortschritte in der Neuroanatomie und klinischen Neurologie in Europa und Amerika zu einem zunehmenden Ruf nach Unabhängigkeit. In verschiedenen Ländern wurden um die Jahrhundertwende eigene Fachgesellschaften gegründet. Dies nach langwierigen Loslösungen von der Psychiatrie und Inneren Medizin. 1875 wurde die weltweit erste neurologische Fachgesellschaft von William A. Hammond in Amerika ins Leben gerufen, die «American Neurological Association», 1885 in England die «Neurological Society of London» und 1899 in Frankreich die «Société de Neurologie de Paris» durch Jules Dejerine und verschiedene CharcotSchüler (u.a. Babinski) (1). In den letzten Jahrzehnten führten medizinisch-technische Entwicklungen in der Radiologie, Neurophysiologie und Immunologie zu entscheidenden Impulsen. Die Computertomografie (CT) wurde 1972 von Allan M. Cormack und Godfrey N. Hounsfield entwickelt. Sie erhielten dafür im Jahr 1979 den Nobelpreis für Medizin. Die CT gilt als grösste Erfindung in der Radiologie seit der Entdeckung der Röntgenstrahlen. Wenige Jahre später (1977) führten Paul Lauterbur und Peter Mansfield die Magnetresonanztomografie ein. Auch sie wurden für ihre Erfindung 2003 mit dem Nobel-
preis für Medizin geehrt. Da viele neurologische Erkrankungen auf Störungen des Immunsystems zurückgeführt werden können, waren Fortschritte und Erkenntnisse in diesem Gebiet sehr bedeutsam. Beispiele hierfür sind vor allem Erkrankungen wie die Multiple Sklerose oder auch verschiedene Vaskulitiden. Die Komplexität des Faches Neurologie rechtfertigt und bedingt eine eigenständige Disziplin. Für viele neurologische Krankheitsbilder sind die Ätiologie und Pathologie trotz intensiver Forschungen noch unklar. Dies erschwert die Entwicklung kausal oder heilend wirkender Arzneimittel. Trotzdem konnten in den letzten Jahren mit erheblichem Aufwand Meilensteine in der klinischen Neurologie erzielt werden. So zum Beispiel in der Akuttherapie des Schlaganfalls sowie der Therapie der Multiplen Sklerose.
Schlaganfall
Weltweit erleiden pro Jahr zirka 16 Millionen Menschen einen Schlaganfall, was mit einer hohen Morbidität und Mortalität verbunden ist. Bis zu 5,7 Millionen Menschen sterben jährlich an den Folgen eines Schlaganfalls. Die Inzidenz für einen akuten Schlaganfall liegt international bei 113 bis 410/100 000 Personen pro Jahr (2). Insgesamt beträgt die Hirnschlagrate in der Schweiz, bezogen auf die ständige Wohnbevölkerung, für Männer 305,6 Fälle pro 100 000 Einwohner und für Frauen 287,7 Fälle pro 100 000 Einwohner (3). Bis vor 20 Jahren gab es für den Hirnschlag nur eine symptomatische Therapie. Seit der Thrombolyse mit Tissue Plasminogen Activator (tPA) können Patienten mit einem akuten ischämischen Schlaganfall kausal behandelt werden. Es besteht ein deutlicher zeitlicher Zusammenhang zwischen einem akuten Gefässverschluss im Gehirn und der Wiedereröffnung: Je rascher diese er-
folgt, desto grösser das Erholungspotenzial des Patienten (outcome) (4). Bisher gilt die Regel, dass zwischen Beginn der klinischen Symptomatik und Start der Thrombolyse (Actilyse®) nicht mehr als 3 Stunden verstreichen dürfen. Nach dieser Zeitspanne war unklar, ob der Patient von der Therapie überhaupt noch profitiert (klinischer Ausgang, symptomatische Hirnblutung). Die Resultate der dritten European Cooperative Acute Stroke Study (ECASS III) zeigen, dass dieses «Lysefenster» bis auf 4,5 Stunden erweitert werden kann. Im Vergleich zu Plazebo profitierten mit Actilyse® behandelte Patienten immer noch signifikant im Zeitfenster von 3 bis 4,5 Stunden nach akutem Ereignis (5). Unabhängig von diesen Studienresultaten gilt der Grundsatz «Time is brain». Ein akuter Schlaganfall stellt eine absolute Notfallsituation dar, und die Abklärungen respektive Therapie müssen ohne Zeitverlust erfolgen. Diese werden vorwiegend in effizienten und organisatorisch aufwendigen Behandlungseinheiten, den sogenannten Stroke Units, durchgeführt. Zukünftig sollen nur noch acht Zentren in der Schweiz (Universitäts- und Kantonsspitäler) solche betreiben und die Patienten an diese Zentren überwiesen werden (6). Dort stehen rund um die Uhr Neurologen, Neuroradiologen und Neurochirurgen für die Diagnostik und Behandlung der Patienten bereit.
Multiple Sklerose
Die Multiple Sklerose (MS) ist eine entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, die vorwiegend jüngere Frauen betrifft. In der Schweiz geht man von zirka 10 000 Betroffenen aus. Auch in der Behandlung der MS konnten in den letzten Jahren weitere Erfolge erzielt werden. Die Erkrankung verläuft initial typischerweise schubförmig mit Verbesserungen nach den Schüben. Im Verlauf kann sie
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in eine sekundär progrediente Form übergehen, das heisst, es sind keine Schübe mehr fassbar. Die Verschlechterung erfolgt schleichend und kontinuierlich. Zeigt sich dieses Bild bereits zu Beginn der Erkrankung, spricht man von der primär progredienten Form (7). Akute Schübe werden mit hoch dosierten Steroiden während 5 bis 7 Tagen behandelt. Auch Plasmapheresen können bei besonders schweren Schüben in Betracht gezogen werden. Heutzutage werden vorwiegend die immunmodulatorisch wirksamen Interferone, die subkutan oder intramuskulär injiziert werden müssen, zur Schubprophylaxe verordnet respektive von den Patienten generell selber appliziert. Als mögliche Therapieoptionen bei rasch progredienten Formen der Erkrankung stehen weitere intravenöse Medikamente wie Natalizumab, Mitoxantron und Cyclophosphamid zur Verfügung (8). Das erste orale MS-Präparat (Wirkstoff Fingolimod, Handelsname Gilenya®) steht in den USA seit 2010 und in Europa seit 2011 zur Verfügung. Ursprünglich als Immunsuppressivum entwickelt, konnte in weiteren Forschungen gezeigt werden, dass dieser Wirkstoff bei der MS die Schubraten deutlich reduziert. Durch die Wechselwirkung mit dem Sphingosin-1-PhosphatRezeptor auf den Lymphozyten wird ein Auswandern dieser Zellen aus dem lymphatischen Gewebe vermindert. Dies führt zu einer Lymphopenie, und es gelangen weniger «pathologische» Lymphozyten durch die Blut-Hirn-Schranke, um die Nervenzellen, Myelinscheiden und Axone im zentralen Nervensystem zu schädigen. Weitere protektive Mechanismen werden aufgrund von In-vitro-Untersuchungen zurzeit angenommen (9).
Zulassungen
Diese intensiven und auch erfolgreichen Errungenschaften sind aber immer schwieriger zu finanzieren. Bis ein Medikament die Marktreife erzielt, ist mit Ausgaben von 500 bis 1000 Millionen Franken zu rechnen. Die präklinischen und klinischen Aufwendungen haben sich in den letzten 30 Jahren vervielfacht. In Bezug auf die Zulassungen von pflanzlichen Arzneimitteln (neue Wirkstoffe, bekannte Wirkstoffe, CoMarketing) zeigt sich eine bedenkliche Tendenz. Es werden immer weniger Zulassungsanträge gestellt respektive immer weniger Präparate zugelassen. Diese Tendenz ist ebenfalls in der Spezialitätenliste
des Bundesamtes für Gesundheit zu sehen. Ein wesentlicher Grund ist sicher, dass es aus finanzieller Sicht für eine Firma ein kaum tragbares Risiko darstellt, eine phytotherapeutische Innovation zur Zulassung zu bringen. Die notwendigen präklinischen und klinischen Anforderungen nähern sich zunehmend denen von New Chemical Entities (NCEs).
Phytotherapie und Neurologie
Für Phytotherapeutika sind von Neurologen in Praxen und Kliniken mehrheitlich weder die Bedürfnisse definiert noch die Erfahrungen damit vorhanden. Bisher ist die klinische Neurologie sehr auf schulmedizinische Methoden fokussiert. Dies, obwohl Patienten mit Multipler Sklerose zwischen 27 und 100 Prozent komplementäre und alternative Therapien (KAT) beanspruchen. Die häufigsten Gründe hierfür sind, dass die konventionelle Therapie nicht wirksam ist, anekdotische Erfahrungen mit KAT vorhanden sind oder eine Überweisung durch die behandelnden Ärzte vorgenommen wurde. Die gebräuchlichsten Verfahren sind: physikalische Methoden, Phytotherapie inklusive Cannabis, Vitamine, Mineralien, Entspannungstechniken, Akupunktur, Massage. Die meistgenannten zu behandelnden Symptome sind: Schmerzen, Fatigue und Stress (10). Eine Untersuchung an 254 Patienten zeigte, dass vor allem Betroffene mit einem höheren Wert auf der Expanded Disability Status Scale (EDSS) nach einer längeren Erkrankungsdauer und mit einer primär und sekundär progredienten Verlaufsform häufiger komplementäre und alternative Therapien in Anspruch nehmen (11). Das zunehmende Interesse für und die zunehmende Verwendung von pflanzlichen Arzneimitteln durch Patienten zwingt auch Mediziner (Psychiater, Neurologen), sich mit den Wirkungen, Nebenwirkungen und Kontraindikationen häufig gebräuchlicher komplementärmedizinischer Verfahren, unter anderem Phytotherapeutika, auseinanderzusetzen. Im Vergleich zu den schulmedizinischen Medikamenten gibt es weniger «kontrollierte» Anwendungen von Phytotherapeutika bei Patienten mit neurologischen Erkrankungen. Aufgrund der vorhandenen Studien und aus eigenen Erfahrungen bestehen bei Angsterkrankungen, Depressionen, Demenzen, Kopfschmerzen und Multipler Sklerose für pflanzliche Arzneimittel mögliche und
sinnvolle Indikationen. Wegen guter Verträglichkeit und «sanfter» Wirkung sind Phytotherapeutika auch bei geriatrischen Patienten (häufig mit Polypharmazie) einsetzbar. Aus eigenen Erfahrungen haben sich die «klassischen» ZNS-wirksamen pflanzlichen Arzneimittel bewährt. Dies insbesondere bei Insomnie (Baldrian/Hopfen, ätherische Lavendel-Öle), Angststörungen (Baldrian/ Melisse/Passionsblume/Pestwurz), Depressionen (Johanniskraut), demenzieller Entwicklung (Ginkgo biloba). Konklusiv können Phytopharmaka in der Neurologie echte Alternativen und Ergänzungen zu den herkömmlichen schulmedizinischen Medikamenten sein. Wichtig dabei ist, dass die Indikation gut gestellt wird, der verschreibende Arzt Erfahrung mit pflanzlichen Arzneimitteln hat und von Seiten des Arztes die Bereitschaft besteht, diese einzusetzen. Die Bereitschaft von Seiten des Patienten ist meistens gegeben. ◆
Anschrift des Referenten Dr. med. Robert Käufeler Rheinburg Klinik 9428 Walzenhausen robert.kaeufeler@rheinburg.ch
Literatur:
1. Bassetti C. und Mumenthaler M.: 100 Jahre Schweizerische Neurologische Gesellschaft, Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 159; 4/2008.
2. Béjot Y. et al.: Epidemiology of stroke, Médecine sciences; 25(-9): 727–32; 2009.
3. Obsan Dezember 2007 (Indikator 8.3.31).
4. Khatri P. et al.: Good clinical outcome after ischaemic stroke with successful revascularisation is time dependent, Neurology; 73(13); 1066–72.
5. Hacke W. et al.: Thrombolysis with Alteplase 3 to 4.5 Hours after Acute Ischemic Stroke, N Engl J Med; 359; 1317–1329; 2008.
6. «Entscheid zur Planung der hochspezialisierten Medizin (HSM) im Bereich der hochspezialisierten Behandlung von Hirnschlägen in der Schweiz»; Juni 2011.
7. McAlpine’s Multiple Sclerosis, 4th Edition 2006.
8. Aktuelle Leitlinien der Deutschen Neurologischen Gesellschaft.
9. Aktas O. et al.: Orales Fingolimod bei Multipler Sklerose, Therapeutische Modulation des Sphingosin-1 Phosphat Systems, Der Nervenarzt; 82(2); 215–25; 2011.
10. Olsen S.A.: A review of complementary and alternative medicine (CAM) by people with multiple sclerosis, Occup Ther Int.; 16(1); 57–70; 2009.
11. Apel-Neu A. et al.: Der Nervenarzt (Suppl 1); 80: 20–21; 2009.
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