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26. SCHWEIZERISCHE TAGUNG FÜR PHYTOTHERAPIE, BADEN, 17. NOVEMBER 2011
Mild Cognitive Impairment (MCI): nur eine Trenddiagnose?
Irene Bopp-Kistler
Einleitung
In letzter Zeit wurde in den Medien vermehrt das Thema der leichten Hirnleistungsstörung aufgenommen, insbesondere angesichts des Todes von Gunter Sachs. «Der letzte Playboy ist tot», so heisst es: «ein Lebemann, Kunstsammler, Fotograf.» Er hat seinem Leben ein Ende gesetzt, weil, wie er selber schreibt: «Der Verlust der geistigen Kontrolle über mein Leben wäre ein würdeloser Zustand, dem entschieden entgegenzutreten ich mich entschlossen habe.» Dieser Satz im Abschiedsbrief ist die ganz persönliche Meinung des Verstorbenen, das ist sein Recht. Doch dass dieser Satz in allen Medien, Fernsehen, Radio und Zeitungen kommentarlos in grosser Zahl publiziert wird, ist möglicherweise Ausdruck unserer leistungsorientierten Gesellschaft. Es stellt sich die Frage, ob ein Leben mit einer Hirnleistungsstörung ein würdeloses Leben ist. Die Demenz beginnt unmerklich und schleichend und führt im Anfangsstadium zu ganz diskreten Fehlleistungen. Deshalb ist insbesondere auch das Stadium der ganz leichten Hirnleistungsstörung (Mild Cognitive Impairment: MCI) mit vielen offenen Fragen verbunden. Der Betroffene kann seine Defizite nicht richtig einordnen und reagiert mit einer Verunsicherung und oft auch depressiver Stimmung. Wenn der
Betroffene noch im Berufsleben steht, führt dies möglicherweise zu einer nicht erwarteten schlechten Mitarbeiterbeurteilung, der Patient fühlt sich als Mobbingopfer und unverstanden. In der Folge kommt es oft zu Krankschreibung aus psychischen Gründen oder Kündigung. Diese Tatsache ist in Arbeitgeberkreisen kaum bekannt. Der Betroffene erlebt tiefe Kränkungen, nicht nur im Berufsleben, sondern auch im Privatleben. In der Partnerschaft wird der Patient auf seine Versäumnisse und Fehlleistungen aufmerksam gemacht, Argumente lösen Gegenargumente aus, Konflikte entstehen und eskalieren. Umso wichtiger ist es, dass Menschen auch mit einer nur ganz leichten Hirnleistungsstörung rechtzeitig abgeklärt werden. Eine klare Diagnose erleichtert, auch wenn sie schwerwiegend ist. Diese Tatsache konnte in der Literatur mehrfach bestätigt werden und entspricht auch der Erfahrung in unserer Memory-Klinik. Unausgesprochenes wird ausgesprochen und thematisiert, Konflikte können richtig eingeordnet werden.
Abgrenzung subjektive Vergesslichkeit, Mild Cognitive Impairment, Demenz
Die Abgrenzung einer altersassoziierten Vergesslichkeit beziehungsweise einer subjektiven Gedächtnisstörung von einem beginnend krankhaften Prozess kann sehr schwierig sein. Wichtige Unterscheidungsmerkmale können dabei die Häufigkeit von Fehlleistungen und das Vorhandensein von Kompensationsstrategien sein: Wer von uns hat nicht schon seine Schlüssel verlegt, kann sich aber nochmals vor Augen führen, wo er sie zuvor hingelegt haben könnte. Dieses systematische Vorgehen ist im Rahmen einer krankhaften kognitiven Störung nicht mehr möglich. Eine Demenzerkankung beginnt oft un-
merklich, beginnend mit einer subjektiven Gedächtnisstörung, welche in eine milde Hirnleistungsstörung, Mild Cognitive Impairment (MCI) genannt, übergeht. Unter einem MCI verstehen wir eine milde kognitive Beeinträchtigung ohne wesentliche Alltagseinschränkungen. Die Kriterien einer Demenz nach ICD-10 oder DSM-IV sind dabei noch nicht erfüllt. Die Schlüsselrolle in der Abgrenzung einer Demenz von einem MCI spielt die Veränderung der Selbstständigkeit im Alltag, welche entweder von den Angehörigen oder vom Patienten selber berichtet wird (1). Diese Einbusse im Alltag ist insbesondere bei jüngeren noch berufstätigen Betroffenen oft schwierig als diagnostisches Kriterium zu benützen, da diesbezüglich klare Definitionen fehlen. Ein jüngerer Patient mit einer leichten kognitiven Beeinträchtigung kann zwar im Alltag zu Hause noch völlig selbstständig sein, während im Berufsleben bereits Defizite auffallen. Das MCI kann sich somit klinisch sehr unterschiedlich manifestieren, je nachdem, ob ein Betroffener im Berufsleben steht oder nicht. Diese Symptomatik wird aber oft falsch interpretiert. Typische klinische Symptome des MCI: ◆ depressive Symptomatik ◆ Versagensängste im Beruf ◆ Zukunftsangst ◆ Kränkung ◆ vermehrte Konflikte beruflich und privat ◆ schlechtes Mitarbeitergespräch ◆ Mobbingsituation.
Einteilung des Mild Cognitive Impairment (MCI) und deren klinische Relevanz
Heute unterscheiden wir verschiedene Formen des MCI (2, 3): Wenn das Gedächtnis gestört ist, sprechen wir von einem amnestic MCI. Steht nicht die Gedächtnisstörung im Vordergrund, spricht man von einem
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nonamnestic MCI. Je nachdem, ob mehrere Bereiche der Hirnleistung gestört sind oder nicht, wird das MCI nochmals in einen single oder in einen multidomain type unterteilt. Nicht bei allen Patienten geht das MCI in eine Demenz über. Der Verlauf kann auch über längere Zeit stabil sein, und bei einigen Patienten kommt es sogar zu einer Verbesserung oder Normalisierung der Symptomatik. Das amnestic MCI (aMCI) ist oft die Vorstufe zu einer Alzheimer-Demenz, weshalb vermehrt der Begriff einer prodromalen Alzheimer-Erkrankung genannt wird. Bei einem aMCI beträgt die Konversion zu einer Alzheimer-Demenz 10 bis 20 Prozent pro Jahr (4, 5). In der Praxis wird seit Längerem auch der Begriff eines MCI-plus verwendet, wenn man von einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für eineKonversion ausgeht. Das MCI kann auch Vorstadium anderer Demenzerkrankungen sein, wobei dann zu Beginn der Erkrankung andere neuropsychologische Defizite im Vordergrund stehen. Bei der Lewy-Body-Demenz kommt es in einem Frühstadium beispielsweise früh zu einer visuokonstruktiven Störung und Wahrnehmungsstörung im Raum, was zu einer Orientierungsstörung führen kann bei anfänglich noch gut erhaltenen Gedächtnisleistungen.
Risikofaktoren Konversion MCI-Demenz
Wichtige Risikofaktoren bezüglich Konversion in eine Alzheimer-Demenz sind neben dem frühen Auftreten von Gedächtnisstörungen vaskuläre Risikofaktoren, psychiatrische Begleiterkrankungen (insbesondere Angst und Depression) und Apathie (5). Insbesondere das Auftreten von Angst, kombiniert mit leichter Hirnleistungsstörung, ist als starker prädiktiver Faktor für die Entstehung einer späteren AlzheimerDemenz zu werten (6). Weiter werden in der Literatur die Atrophie im mesialen Temporallappen und das Vorhandensein des Apo-E4-Allels genannt. Biomarker (z.B. Amyloid und Tauproteine im Liquor, spezifische Liganden im PET, volumetrische Messungen bestimmter Hirnregionen) werden intensiv beforscht und scheinen eine Bedeutung in der Beurteilung von kognitiven Störungen im Allgemeinen und in der Vorhersage der Konversionsrate vom MCI zur Demenz im Speziellen zu haben. Noch ist es aber zu früh, sie in der Routinediagnostik einzusetzen.
In einigen wissenschaftlichen Untersuchungen werden ein eher aktiver, neugieriger und sozialer Lebensstil sowie das Fehlen von depressiven Symptomen und deutlichem psychischem Stress als Schutzfaktoren beschrieben.
Sekundäre Formen des MCI
Wenn das MCI durch eine internistische oder psychische Erkrankung verursacht wird, sprechen wir von einem sekundären MCI. Insbesondere metabolische Störungen und Mangelzustände, Medikamente und Komorbiditäten können eine leichte Hirnleistungsstörung verursachen. Im Gegensatz zu Menschen mit Demenzerkrankung finden sich bei Menschen mit leichten kognitiven Störungen deutlich mehr sekundäre Ursachen (19% bei Menschen mit leichten, 38% bei Patienten mit subjektiven Störungen) (7). Es lohnt sich somit, besonders bei dieser Patientengruppe, eine breite Abklärung durchzuführen. Im Besonderen ist auf den Vitamin-B12-Mangel hinzuweisen, welcher oft von einer leichten kognitiven Störung begleitet wird, auch bei fehlender Anämie. Unter Vitaminsubstitution kommt es fast immer zu einer verbesserten Kognition. Zudem gehen Depressionen oft mit leichten kognitiven Defiziten einher, wobei die Abgrenzung von einer beginnenden degenerativen Hirnerkrankung schwierig sein kann, weil beginnend Demenzerkrankte oft depressive Symptome zeigen. Zudem besteht ein erhöhtes Risiko, eine Demenz zu entwickeln, wenn eine Depression von einer kognitiven Störung begleitet wird.
Prognose des MCI
Das MCI ist ein heterogenes Syndrom mit einer unklaren Prognose. 10 bis 20 Prozent der Patienten konvertieren pro Jahr in eine Alzheimer-Erkrankung. Eine grössere Anzahl der Patienten bleibt aber stabil über Jahre, eine Konversion in eine Demenz nach Jahren ist aber auch hier möglich. Es gibt auch eine Rückkehr zur Gesundheit (ca. 20%). Angesichts dieser komplexen Situation ist die Übermittlung der Diagnose eines MCI eine grosse Herausforderung.
Medikamentöse Therapiemöglichkeiten
Im Vordergrund der therapeutischen Optionen steht immer die Behandlung der Ur-
sachen für ein eventuelles sekundäres MCI. Antidementive Medikamente sind für Menschen mit einem MCI nicht zugelassen. Studienresultate über die Wirksamkeit von Acetylcholinesterasehemmern sind für diese Patientengruppe kontrovers, sodass zum aktuellen Zeitpunkt ihr Einsatz nicht empfohlen werden kann. Hingegen kann die Gabe von Ginkgo sinnvoll sein, wobei die Studienresultate, und insbesondere auch Reviews, stark divergierende Resultate aufzeigten (8, 9). Weitere Studien sind diesbezüglich notwendig, um mehr Klarheit zu schaffen. Eine kürzlich publizierte Studie (Guide Age Study) konnte zeigen, dass bei Patienten mit subjektiver Gedächtnisstörung der Beginn einer möglichen Alzheimer-Demenz unter Ginkgo hinausgezögert werden konnte (10). Zudem wurde kürzlich ein möglich positiver Effekt von Ginkgo bei demenzerkrankten Patienten mit neuropsychiatrischen Symptomen nachgewiesen (11). Die Therapie mit Ginkgo ist im Gegensatz zur Acetylcholinesterasehemmer-Medikation kaum mit Nebenwirkungen behaftet und hat ihren Stellenwert sicher auch in der Behandlung der subjektiven Gedächtnisstörung.
Wieso lohnt sich eine
frühzeitige Abklärung?
Fast jeder Patient mit auch nur einer ganz
leichten Hirnleistungsstörung fühlt sich
verunsichert, oder er wird immer wieder
von Angehörigen oder im Beruf auf leichte
Fehlleistungen hingewiesen. Die Diagnose
ermöglicht, behandelbare Ursachen zu su-
chen und Gespräche über Prävention und
Risikofaktoren zu führen. Durch ein gut ab-
gestimmtes soziales Umfeld und eine opti-
male Unterstützung kann unter Umstän-
den der Verlauf der Erkrankung gemildert
und eine verfrühte Alltagsbeeinträchti-
gung verhindert werden. Patienten besit-
zen sehr häufig noch eine gute Einsichts-
fähigkeit in ihre Schwierigkeiten und kön-
nen dadurch ihre Coping-Strategien stär-
ken. Durch die noch vorhandene Lernfähig-
keit können Kompensationsstrategien
angewandt werden (12).
Nach unserer Erfahrung verstärkt sich
durch die Diagnose oft das Verständnis für
die Schwierigkeiten des Patienten, womit
Konflikte im Alltag entschärft werden. Das
MCI kann somit nie nur Trenddiagnose
sein!
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Anschrift der Referentin Dr. med. Irene Bopp-Kistler FMH Innere Medizin, spez. Geriatrie Leitende Ärztin Memory Klinik Klinik für Akutgeriatrie Stadtspital Waid 8037 Zürich irene.bopp@waid.zuerich.ch
Literaturreferenzen: 1. Peterson RC et al.: Mild Cognitive Impairment: clinical characterization and outcome. Arch Neurol 1999; 56: 303–308. 2. Rüegger-Frey et al.: Mild cognitive Impairment (MCI): ein nützliches Konzept für die Praxis? Hausarzt Praxis 2009; 8–14.
3. Winblad B et al.: Mild Cognitive Impairment – report of the International Working Group of Mild Cognitive Impairment. J Intern Med 2004; 256: 240–246.
4. Landau SM et al.: Comparing predictors of conversion and decline in mild cognitive impairment. Neurology 2010; 75: 230–238.
5. Petersen RC: Mild Cognitive Impairment: clinical practice. New Engl J Med 2011; 364: 2227–2234.
6. Palmer K et al.: Predictors of progression from mild cognitive impairment to Alzheimer’s disease. Neurology 2007; 68: 1596–1602.
7. Hejl A et al.: Potentially reversible conditions in 1000 consecutive memory clinic patients. J Neurol Neurosurg Psychiatr 2002; 73: 390–399.
8. Weinmann S, Roll St. et al.: Effect of Ginkgo biloba in dementia: systematic review and meta-analysis. BMC Geriatr 2010; 10:14.
9. DeKosky St, Williamson JD et al.: Ginkgo biloba for prevention of dementia: a randomized controlled trial. JAMA 2008; 300(19): 2253–62.
10. Vellas B et al.: Guide Age Study: a 5-year placebocontrolled study on the efficacy of EGb761 120 mg to prevent or delay Alzheimer’s dementia onset in elderly subjects with memory complaints. Journal of Nutrition, Health and Aging 2010; 14(52).
11. Ihl R et al.: Efficacy and safety of once-daily formulation of Ginkgo biloba extract Egb 761 in dementia with neuropsychiatric features: a randomized controlled trial. Int J Geriatr Psychiatry 2010.
12. Bopp-Kistler I, Rüegger-Frey B: Das grosse Vergessen: Gedächtnisstörungen und Alzheimer. 2010.
13. Bopp-Kistler I, Rüegger-Frey B, Beck S., Grob D et al.: Waid-Guide Teil 3: Tests und Kriterien der Demenzabklärung, 2. Auflage 2010.
Weitere Literatur auf Anfrage bei der Autorin.
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