Transkript
26. SCHWEIZERISCHE TAGUNG FÜR PHYTOTHERAPIE, BADEN, 17. NOVEMBER 2011
Kopfschmerzen – welches Potenzial haben phytotherapeutische Behandlungen?
Charly Gaul
Einleitung
In der Kopfschmerzbehandlung muss die Akuttherapie von Attacken von der vorbeugenden Behandlung mit dem Ziel der Reduktion der Attackenhäufigkeit unterschieden werden. Da auch mit den wirksamsten Substanzen, den Triptanen, nur bei zirka 60 Prozent der Patienten eine Schmerzreduktion 2 Stunden nach Einnahme eintritt und mit etablierten pharmakologischen Prophylaxen (Betablocker, Topiramat u.a.) eine Reduktion der Kopfschmerzattacken um die Hälfte nur bei etwa 45 Prozent der Migränepatienten erreicht wird, sind diese Patienten bereit und interessiert, Verfahren und Substanzen aus dem Bereich der komplementären und alternativen Medizin (CAM) einzusetzen. Es konnte gezeigt werden, dass 81 Prozent der Patienten mit primären Kopfschmerzerkrankungen (überwiegend Migräne) Erfahrung mit CAM-Therapien haben. Am häufigsten unter den nichtmedikamentösen Therapien wurde Akupunktur (58,3%) eingesetzt, unter den medikamentösen Therapien führte die Homöopathie (23,1%) vor Enzymtherapien (7,4%) und Phythotherapie (5,6%). Motivation für solche Therapien waren «der Wunsch, nichts unversucht zu lassen», «der Wunsch, aktiv gegen die Krankheit vorzugehen», die Ablehnung der
Dauereinnahme von Pharmaka, der Rat anderer Personen, aber auch die ungenügende Wirksamkeit der «Schulmedizin», der Wunsch nach einer nebenwirkungsfreien Therapie und die Angst vor Nebenwirkungen einer Therapie (Gaul et al. 2008). Phytotherapie kann solche Erwartungen anscheinend in vielerlei Hinsicht erfüllen, wie aber sieht es mit der wissenschaftlichen Evidenz der verbreitet eingenommenen und angewendeten Substanzen aus?
Akuttherapie von Kopfschmerzen mit pflanzlichen Arzneimitteln
Weidenrindenextrakte Der Einsatz von Weidenrindenextrakten gegen Fieber und Schmerzen wird bereits aus der Antike berichtet (z.B. bei Hippokrates von Kos). Die Weiden (Salix spp) gehören zur Familie der Weidengewächse (Salicaceae), ihre Rinde kann getrocknet und als Tee aufgebrüht werden. Für die Schmerztherapie sind die Inhaltsstoffe Salicin und acylierte Salicinderivate von Bedeutung. Salicin wird nach Einnahme zu Salicylsäure metabolisiert. Lange Zeit wurde auch das salicinhaltige Extrakt der Spierstaude (Mädesüss-Pflanze; Filipendula ulmaria) eingesetzt. Die Isolierung von Salicin aus Weidenrindenextrakt gelang erstmals 1828 Johann Andreas Buchner, die chemische Herstellung der Salicylsäure erfolgte seit 1874 durch Friedrich von Heyden in Radebeul, die Reinsynthese von ASS gelang dann am 10. August 1897 im Bayer-Stammwerk in Elberfeld Felix Hoffmann. Die klinische Erprobung besorgte K. Witthauer in Halle (Saale) (Witthauer 1899). Damit erfolgte die Ablösung des Phytotherapeutikums durch Aspirin. Der Wirkmechanismus konnte erst 1971 durch John R. Vane geklärt werden, für den Nachweis der Hemmung der Prostaglandinbiosynthese erhielt er
1982 den Nobelpreis für Medizin (Koh 1999). Weidenrindenextrakte werden auch heute in der Akuttherapie von Kopfschmerzattacken eingesetzt, sind jedoch weitgehend durch chemisch hergestellte Acetylsalicylsäure verdrängt worden.
Minzöl Die Minzen (Mentha spp) gehören zur Familie der Lippenblütengewächse (Lamiaceae) und sind in vielen Arten verbreitet. Die Pfefferminze (Mentha x piperita) ist als Heil- und Gewürzpflanze verbreitet, sie zeichnet sich durch einen hohen Gehalt an Menthol und ihren scharfen Geschmack (daher der Name Pfefferminze) aus. Zu Heilzwecken verwendet wird das ätherische Öl aus den Blättern der Pflanze. Zum Einsatz von Pfefferminzöl sind zwei randomisierte Studien publiziert. Im CrossoverDesign untersuchten Goebel et al. (1996) doppelblind und plazebokontrolliert die Wirksamkeit von Pfefferminzöl beim Kopfschmerz vom Spannungstyp. Dabei wurde das 10-prozentige Pfefferminzöl in alkoholischer Lösung zweimal auf Stirn und Schläfen aufgetragen, verglichen wurde dies mit der Einnahme von Plazebo beziehungsweise Paracetamol und PlazeboPfefferminzöl. Die Wirkung von Pfefferminzöl trat bereits nach 15 Minuten ein, steigerte sich über 60 Minuten, war Plazebo überlegen und gleich wirksam wie Paracetamol. Pfefferminzöl und Paracetamol zeigten in dieser Studie additive Effekte. In einer weiteren Studie wurde die Kombination von Pfefferminzöl und Eukalyptusöl gegen Plazeboöl-Präparationen in einem experimentellen Schmerzmodell untersucht, hier zeigte sich ein besserer Effekt der Kombination im Vergleich zu den Einzelsubstanzen (Göbel et al. 1994). In einer aktuellen Studie wurde die Wirkung von 10-prozentiger Menthollösung im Migräneanfall in einem randomisierten
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Crossover-Design untersucht (Borhani Haghighi et al. 2010). Behandelt wurden je zwei Migräneanfälle mit einer 10-prozentigen und einer 0,5-prozentigen (Plazebo)Lösung des Menthols. 38,3 Prozent der Patienten mit Verum und 12,1 Prozent der Patienten mit Plazebo waren schmerzfrei nach 2 Stunden, auch die Begleitsymptome der Migräne (Licht- und Geräuschempfindlichkeit und Übelkeit) gingen durch die Applikation von Menthol signifikant stärker zurück. 8,3 Prozent der Anwender berichteten ein Brennen, 5 Prozent eine Lakrimation und 1,6 Prozent eine Kopfschmerzzunahme. Zusammenfassend scheint die lokale Applikation von Pfefferminzöl sowohl allein als auch in Kombination mit Analgetika eine sinnvolle und kostengünstige Ergänzung zu sein, die Patienten angeboten werden kann. In Deutschland wird Pfefferminze in Thüringen und im Grossraum München angebaut, dort befindet sich auch ein Museum zum Anbau und zur Verwendung von Minze (www.minzmuseum.de).
Pflanzliche Arzneimittel zur vorbeugenden Behandlung von Kopfschmerzen
Pestwurz (Petasites hybridus) Am besten untersucht unter den zur Kopfschmerzprophylaxe eingesetzten pflanzlichen Arzneimitteln ist die Pestwurz (Petasites hybridus). Bereits in der Antike wurde Pestwurz als Heilpflanze bei Entzündungen und als Wundauflage angewendet, die deutsche Bezeichnung Pestwurz rührt wahrscheinlich von der Anwendung zur Behandlung der Pest her. Seit dem 20. Jahrhundert wird der CO2-Extrakt der Pflanzenwurzel eingesetzt (ab 1972 als Petadolex). Zurzeit ist es in Deutschland und in der Schweiz nicht im Apothekenhandel, kann aber aus England bezogen werden. Der Pflanzenextrakt enthält Petasin und Isopetasin. Ursachen für die Marktrücknahme waren Änderungen im Arzneimittelrecht und Berichte über Einzelfälle einer möglichen Lebertoxizität. Untersuchungen des Wirkmechanismus zeigen eine antiinflammatorische Wirkung mit einer Hemmung der COX-2 und schwach der COX-1, darüber hinaus wirkt Pestwurz spasmolytisch, möglicherweise über eine Hemmung des Kalziumeinstroms auf zellulärer Ebene. Petasin wird rasch resorbiert (Spitzenspiegel nach 1,6 Stunden) und mit einer Halbwertzeit von 7 Stunden eliminiert (Käufeler et
al. 2001). Welcher der Mechanismen in der Migräneprävention die Wirkung begründet, ist nicht bekannt. Die Wirksamkeit von Pestwurz wurde in randomisierten, plazebokontrollierten Studien für unterschiedliche Dosierungen untersucht, verfügbar ist auch ein Cochrane-Review (Pittler & Ernst 2004). Bei Kindern wurde eine offene Studie publiziert. Sowohl in den Deutsch-Österreichisch-Schweizer Leitlinien zur Therapie der Migräne als auch in den Europäischen Leitlinien wird Pestwurz als Prophylaktikum der 2.Wahl aufgeführt (Evers et al. 2008; Evers et al. 2009).
Mutterkraut (Tanacetum parthenium) Mutterkraut (Tanacetum parthenium) gehört zur Familie der Korbblütler (Asteraceae), die Anwendung als Heilkraut wird schon von Dioskurides im 1. Jahrhundert berichtet. Bereits im Mittelalter soll es gegen Fieber und Kopfschmerzen eingesetzt worden sein. Die Bezeichnung Mutterkraut leitet sich aus der Verwendung gegen Schwangerschaftsbeschwerden ab. Der CO2-Extrakt von Mutterkraut hat eine geringe Migräne-prophylaktische Wirkung. Es konnte gezeigt werden, dass eine Dosierung von 3 x 50 mg/d die monatliche Attackenfrequenz von 1,9 auf 1,3 Tage reduzieren kann. Da es nicht auf dem Markt verfügbar ist, spielt Mutterkraut in der Migräneprophylaxe derzeit praktisch keine Rolle. Welcher Wirkmechanismus zur Migräne-prophylaktischen Wirkung führt, ist auch bei Mutterkraut nicht bekannt. Beschrieben werden die Hemmung der Synthese von proinflammatorischen Zytokinen (Leukotriene, Prostaglandine, Interleukine), darüber hinaus eine Hemmung der Thrombozytenaggregation und serotoninantagonistische Effekte (Vogeler et al. 1998). Es wurden eine Reihe von doppelblinden, randomisierten und kontrollierten Studien zum Einsatz von Mutterkraut in der Migräneprophylaxe publiziert. Vier der Studien, die allerdings erhebliche methodische Mängel zeigen, verwendeten Pulver aus getrockneten Blättern. Eine Studie mit einem Mutterkrautextrakt (alkoholischer Auszug) bei 50 Patienten zeigte keinen Unterschied in der Attackenhäufigkeit zwischen Plazebo und Verum. Zwei neuere Studien wurden mit einem CO2-Extrakt von Mutterkraut durchgeführt, der einen höheren Gehalt an Parthenoliden hat, die möglicherweise für die pharmakologische Wirksamkeit von Mutterkraut verantwort-
lich sind. In einer Studie wurden drei Dosierungen von Mutterkraut gegen Plazebo über 3 Monate bei 147 Migränepatienten untersucht, eine signifikante Wirkung zeigte sich lediglich bei der Subgruppe von Patienten, die zum Zeitpunkt des Einschlusses in die Studie mindestens 4 Migräneattacken hatten. Die Studienanalyse führte zu einer weiteren Studie mit der optimalen Dosierung aus der ersten Studie. Die Anzahl der Migräneattacken verringerte sich statistisch signifikant von 4,8 Attacken auf 2,9 Attacken im Monat, sodass 30,3 Prozent der Patienten mit Mutterkraut und 17,3 Prozent der Patienten, die mit Plazebo behandelt
wurden, eine Attackenreduktion von ≥ 50
Prozent zeigten und nach den Richtlinien zur Durchführung klinischer Studien der IHS als Responder gelten.
Cannabis (Cannabis sativa) Die Hanfpflanze (Cannabis sativa) findet als Phytotherapeutikum schon lange Verbreitung. Cannabinoide (vor allem Tetrahydrocannabinol, THC) aus getrocknetem Cannabiskraut begründen die pharmakologischen Wirkungen von Cannabis. Aus dem klinischen Alltag berichten Patienten mit Clusterkopfschmerz gelegentlich über eine Wirksamkeit von Cannabis zur Behandlung von Clusterattacken, hierzu findet sich in der Literatur ein Fallbericht, die Wirkung blieb auch nach Umstellung der Therapie auf Dronabinol (synthetisches Cannabis) erhalten (Robbins et al. 2008). Studien zum Einsatz in dieser Indikation fehlen, die unkritische Anwendung kann nicht empfohlen werden.
Schlussfolgerung
Zur Akuttherapie der Kopfschmerzen steht mit Acetylsalicylsäure eine chemische Substanz zur Verfügung, die ihr Vorbild im Weidenrindenextrakt hat, der heute in der Kopfschmerztherapie eine nachgeordnete Rolle spielt. Weitverbreitet ist die lokale Anwendung von Pfefferminzöl zur Behandlung des Kopfschmerzes vom Spannungstyp, auch betreffend die Migräne wurde eine Studie zur Wirksamkeit publiziert, sodass bei beiden Kopfschmerzarten eine phytotherapeutische Therapie versucht werden kann. In der Prophylaxe der Migräne ist Pestwurzextrakt gut belegt und scheint den Effekten von Mutterkraut, zu dem ebenfalls Studien vorliegen, überlegen. ◆
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Anschrift des Referenten: Dr. med. Charly Gaul Migräne- und Kopfschmerzklinik Königstein Ölmühlweg 31 D-61462 Königstein im Taunus Tel. +49 (0) 6174-29040 Fax +49 (0) 6174-2904100 Charly.Gaul@gmx.de
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