Transkript
FORSCHUNG
Phytotherapie bei somatoformen Störungen
Wirksame pflanzliche Kombinationen
Der folgende Beitrag stellt
eine Zusammenfassung eines
Artikels dar, in dem Prof. Dr.
med. Karin Kraft pflanzliche
Alternativen zu den normaler-
weise verschriebenen Anxio-
lytika, Sedativa und Antidepressiva vorstellt1. Prof. Kraft
ist Inhaberin des Lehrstuhles
für Naturheilkunde der Uni-
versität Rostock. Weiter ist sie
Präsidentin der Gesellschaft
für Phytotherapie, der deut-
schen Schwestergesellschaft
der SMGP.
Christoph Bachmann
Einleitung
Somatisierungsbeschwerden gemäss F45.0 und F45.1 manifestieren sich häufig als Ängste und Depressionen. Die Standardbehandlung dieser Störungen besteht aus der Verschreibung von Anxiolytika, Sedativa und Antidepressiva. Diese Arzneimittel weisen bekannte Nebenwirkungen wie Mundtrockenheit, innere Unruhe und Sedierung auf. Weiter besteht ein Abhängigkeits- und Gewöhnungspotenzial. Viele
Patienten sind deshalb nicht bereit, diese Präparate anzuwenden. Als Alternative bieten sich pflanzliche Präparate an, die gegen Ängste und Depressionen wirksam sind.Verschiedene Studien konnten die Wirksamkeit verschiedener Arzneipflanzen belegen. Dazu gehören Extrakte aus der Wurzel von Baldrian (Valeriana officinalis), aus den Zapfen des Hopfens (Humulus lupulus), aus den Blättern der Melisse (Melissa officinalis), aus dem Kraut der Passionsblume (Passiflora incarnata), aus dem Johanniskraut (Hypericum perforatum) sowie aus dem Öl von Lavendel (Lavandula officinalis).
Wirkungsweise
Bei der Wirkungsweise dieser pflanzlichen Präparate spielt der Neurotransmitter Gamma-Aminobuttersäure (GABA) eine zentrale Rolle. Er wird von den herkömmlichen Präparaten gegen somatoforme Beschwerden, zum Beispiel von den Benzodiazepinen, aktiviert. Auch die Extrakte der erwähnten Arzneipflanzen aktivieren die GABA, jedoch jede auf eine eigene Weise. Je nachdem, um welchen Extrakt es sich handelt, bindet er an die GABAA-Rezeptoren, steigert die GABA-Freisetzung, hemmt die GABA-Reuptake oder den Abbau von GABA. Ausserdem konnten weitere Wirkungen nachgewiesen werden, wie eine zentrale Sedierung, eine Aktivität im cholinergen System des ZNS sowie anxiolytische Wirkungen. Die Wirkungsweise des Johanniskrautes beruht gleichzeitig auf einer unspezifischen Wiederaufnahmehemmung verschiedener Neurotransmitter wie Noradrenalin, Serotonin, Dopamin, GABA und Glutamat sowie auf der Modulation der entsprechenden Rezeptoren.
Klinische Studien
Bei folgenden Beschwerden konnte die Wirksamkeit mit klinischen Studien nachgewiesen werden:
◆ Patienten mit generalisierten Angstzuständen: Passionsblumenextrakt erwies sich nach vier Wochen als ebenso wirksam wie 30 mg Oxazepam pro Tag (1).
◆ Konzentriertes Lavendelöl (80 mg/Tag) zeigte innerhalb von sechs Wochen eine ebenso gute anxiolytische Wirksamkeit wie 0,5 mg Lorazepam/Tag (2, 3).
◆ Johanniskraut (2 x 300 mg/Tag) wirkte bei Somatisierungsstörungen (F45.0 bzw. F45.1) innerhalb von sechs Wochen anxiolytisch und hob sich bei der Responderrate (45,3%) deutlich gegen Plazebo (20,9%) ab (4, 5).
Kombinationen von pflanzlichen Extrakten scheinen besser zu wirken als Monopräparate. Ein Präparat, das neben einem Johanniskraut- auch Baldrianextrakt2 enthält, wirkt früher und stärker anxiolytisch sowie spannungslösend als Johanniskraut alleine (6, 7). Ein Kombinationspräparat aus Extrakten von Pestwurz, Baldrian, Passionsblume und Melisse3 erwies sich bei Patienten mit Somatisierungsstörungen in einer zweiwöchigen Behandlung gegen Plazebo als deutlich überlegen (8).
Angst
Pflanzliche Arzneimittel zur Therapie von Angstzuständen eignen sich dann besonders, wenn es sich um eine mittel- bis langfristige Behandlung handelt. Eine gute Beratung ist aber erforderlich, insbesondere die Information über die Latenzzeit, die bis zu einer Woche dauern kann. Die folgenden pflanzlichen Präparate können auch zur Behandlung von durch Angst bedingte Folgebeschwerden verwendet werden.
1 Originalartikel: Kraft K.: Mit Melisse und Lavendel gegen Angst und Depression? MMW Fortschr. Med. 2011(15); 153; 35. 2 Dieses Präparat ist in der Schweiz nicht im Handel. 3 Das Präparat ist in der Schweiz unter dem Namen Relaxane® im Handel.
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thema PHYTOTHERAPIE
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FORSCHUNG
Angst bei somatoformen Störungen: Hier empfiehlt sich eine Kombination aus Baldrian und Hopfen, Melisse oder Passionsblume. Passionsblume kann allenfalls auch alleine zur Anxiolyse eingesetzt werden. Angst mit Unruhe: Hier bewährt sich Baldrian mit Hopfen, da dieser auch sedierende Eigenschaften hat. Angst mit Konzentrationsstörungen: In diesem Fall eignet sich eine Kombination aus Baldrian und Melisse. Zur Behandlung von Angstzuständen gibt es neuerdings auch ein Präparat mit Lavendelöl.4 Das oben erwähnte Kombinationspräparat aus Extrakten von Pestwurz, Baldrian, Passionsblume und Melisse ist in der Schweiz zur Behandlung nervöser Spannungs- und Unruhezustände zugelassen.
Depression
Johanniskrautextrakt wirkt mit einer Tagesdosis von 600 mg gegen psychovegetative Störungen, depressive Verstimmungszustände, Angst und/oder nervöse Unruhe. Entsprechende Präparate haben weder eine sedierende Wirkung noch ein Abhängigkeitspotenzial. Es muss beachtet werden, dass eine Latenzzeit von mindestens 14 Tagen besteht. Die Maximalwirkung tritt nach drei bis fünf Wochen ein, die Mindesttherapiedauer beträgt drei Monate, empfohlen werden sechs Monate. Die Responderrate von Johanniskrautpräparaten ist vergleichbar mit denjenigen von synthetischen Antidepressiva. Die Verträglichkeit der Johanniskrautpräparate bei der Behandlung von leichten bis mittelschweren Depressionen ist den synthetischen Präparaten aber deutlich überlegen.
UAW und Kontraindikationen
Die beschriebenen pflanzlichen Arzneimittel sind bei schweren endogenen Depressionen nicht wirksam. Spezifische UAW und Kontraindikationen von Baldrianwurzel, Hopfenzapfen, Melisseblättern und Passionsblumenkraut sind nicht beschrieben. Eine Kombination aus Passionsblume und Baldrianwurzel kann allenfalls bei synthetischen gabaergen Arzneimitteln eine Wirkungsverstärkung hervorrufen und sollte daher nicht eingesetzt werden. Das
4 Das Präparat heisst Lasea® und ist in Deutschland, nicht aber in der Schweiz, im Handel. 5 In der Schweiz sind Johanniskrautpräparate, die für leichte bis mittlere Depression zugelassen sind, rezeptpflichtig.
beschriebene pestwurzhaltige Kombinationspräparat ist bei schweren Leberschäden kontraindiziert. Die typischen Nebenwirkungen synthetischer Antidepressiva wie Mundtrockenheit, innere Unruhe und Sedierung ist bei Johanniskraut nicht bekannt. Hier wurde von GIT-Symptomen, einer erhöhten Lichtempfindlichkeit und Hautsymptomen berichtet. Die oft beschriebene Fototoxizität spielt in den therapeutisch verwendeten Konzentrationen keine Rolle. Es gibt eine Reihe von Arzneimitteln, wie Cyclosporin oder andere Immunsuppresiva, Proteaseinhibitoren oder Zytostatika, bei deren Einnahme nicht gleichzeitig Johanniskrautpräparate eingesetzt werden dürfen. Weiter kann Johanniskraut die Plasmaspiegel mit unklarer klinischer Konsequenz gewisser Arzneimittel reduzieren. Bei gewissen oralen Kontrazeptiva besteht daher theoretisch die Gefahr von Blutungen und unerwünschten Schwangerschaften. Bei gleichzeitiger Einnahme von cumarinartigen Antikoagulanzien sollte der Gerinnungsstatus intensiver überprüft werden.
Zusammenfassung
Da die beschriebenen pflanzlichen Arznei-
mittel ein günstigeres Nebenwirkungs-
profil als entsprechende synthetische Prä-
parate aufweisen, sind sie nicht rezept-
pflichtig.5
◆
Anschrift des Verfassers Dr. Christoph Bachmann Hirschmattstrasse 46 6006 Luzern c.a.bachmann@bluewin.ch
Literaturreferenzen:
1. Miyasaka, L.S., Atallah, A. N., Soares, B. G.: Passiflora for anxiety disorder, Cochrane Database Syst Rev. 1 (2007), CD004518.
2. Akhondzadeh, S., Naghavi, H.R., Vazirian, M., Shayeganpour, A., Rashidi, H., Khani, M.: Passionflower in the treatment of generalized anxiety: a pilot double-blind randomized controlled trial with oxazepam, J Clin Pharm Ther 26 (2001), 363–367.
3. Movafegh, A., Alizadeh, R., Hajimohamadi, F., Esfehani, F., Nejatfar, M.: Preoperative oral Passiflora incarnata reduces anxiety in ambulatory surgery patients: a double-blind, placebo-controlled study, Anesth Analg 106 (2008), 1728–1732.
4. Volz, H.P., Murck, H., Kasper, S., Möller, H.J.: St John's wort extract (LI 160) in somato-form disorders: results of a placebo-controlled trial, Psychopharmacology (Berl) 164 (2002), 294–300.
5. Müller, T., Mannel, M., Murck, H., Rahlfs, V.W.: Treatment of somatoform disorders with St. John's wort: a randomized, double-blind and placebo-controlled trial, Psychosom Med 66 (2004), 538–547.
6. Kasper, S., Gastpar, M., Müller,W.E., Volz, H.P., Möller, H.J., Dienel, A., Schläfke, S.: Silexan, an orally administered Lavandula oil preparation, is effective in the treatment of subsyndromal anxiety disorder: a randomized, double-blind, placebo controlled trial, Int Clin Psychopharmacol (2010), May 27.
7. Woelk. H., Schläfke, S.: A multi-center, doubleblind, randomised study of the Lavender oil preparation Silexan in comparison to Lorazepam for generalized anxiety disorder, Phytomedicine 17 (2010), 94–99.
8. Müller, D., Pfeil,T., von den Driesch,V.:Treating depression comorbid with anxiety – results of an open, practice-oriented study with St John's wort WS® 5572 and valerian extract in high doses, Phytomedicine 10 (suppl. 4) (2003), 25–30.
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PHYTOTHERAPIE
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