Transkript
FORSCHUNG
Ginseng: klinische Daten zu Stresssituationen
Datenlage spricht für Wirksamkeit
Der Autor des folgenden Bei-
trags, Dr. Orlando Petrini, ist
der Doyen der Schweizer Gin-
sengforschung, bedingt durch
seine langjährige Tätigkeit als
Forschungsleiter der Firma
Pharmaton (heute Ginsana)
in Lugano, die in der Ginseng-
forschung weltweit eine füh-
rende Stellung einnimmt.
Orlando Petrini
Einleitung
Unter den Sammelbegriff Ginseng fallen mehrere Pflanzenarten. Der koreanische beziehungsweise asiatische Ginseng (Panax ginseng C.A. Meyer [Familie Araliaceae]) wird vorwiegend in den kaltgemässigten Gebieten Nordostchinas und auf der koreanischen Halbinsel kultiviert (1). Der amerikanische Ginseng (Panax quinquefolium L.) wird hauptsächlich in den nördlichen Teilen Nordamerikas angebaut, unter anderem in den kanadischen Provinzen British Columbia und Ontario sowie in den amerikanischen Bundesstaaten Wisconsin,
Schlüsselwörter: Ginseng, G115®, Panax ginseng, Stress, kognitive Funktion, immunmodulatorische Funktionen, klinische Studien
Minnesota, Kentucky und West Virginia. Der sibirische Ginseng (Eleutherococcus senticosus [Rupr. & Maxim.] Maxim.) wird in der Regel in der Natur gesammelt, in Korea und Russland aber auch angebaut. Der in der traditionellen chinesischen Medizin hochgeschätzte asiatische Ginseng (Abbildung) stammt im Wesentlichen aus Nord- und Südkorea und der zur Volksrepublik China gehörenden Mandschurei (2). In den letzten Jahrzehnten sind eine ganze Reihe von Arbeiten zu den sogenannten adaptogenen Eigenschaften bestimmter Pflanzen erschienen (3, 4). Über adaptogene Wirkungen wurde für Eleutherococcus und den asiatischen Ginseng und in jüngerer Zeit auch für Rhodiola rosea (3, 5) berichtet. Während zu den stressabbauenden Eigenschaften von Eleutherococcus nur begrenzt veröffentlichtes Erkenntnismaterial vorliegt (6, 7), deuten etliche Publikationen auf positive Wirkungen des asiatischen Ginsengs gegen Abgeschlagenheit und Stress hin. Zu Ginseng liegt eine große Zahl von Studien vor, in denen die der Wirksamkeit des
Ginseng zugrunde liegenden Mechanismen untersucht wurden. Ginseng scheint sowohl auf zellulärer als auch auf makroskopischer Ebene verschiedene physiologische Wirkungen zu besitzen. Aus tierexperimentellen Untersuchungen liegen Hinweise zu Wirkungen gegen Abgeschlagenheit und Stress sowie zu einer Steigerung von Lernvermögen und Gedächtnisleistung vor. Klinisch scheinen standardisierte Ginsengextrakte bei Müdigkeit, Schwäche- und Erschöpfungszuständen eine Verbesserung des körperlichen Leistungsvermögens zu bewirken, dabei die geistige Leistungsfähigkeit zu unterstützen und das Immunsystem zu stärken (8). Vorklinisch und klinisch bisher am umfangreichsten untersucht ist der standardisierte Ginsengextrakt G115®* mit definierten Mengen an acht Ginsenosiden. Die vorliegende Übersichtsarbeit basiert daher fast ausschließlich auf Daten, die mit diesem Extrakt erarbeitet wurden. Eine Über-
* Standardisierter Panax-ginseng-C.A. MeyerExtrakt G115®, Pharmaton SA, Schweiz
Zusammenfassung
Als Adaptogen gehört Ginseng zu den Substanzen, die bestimmte Phasen des Adaptationssyndroms modulieren und dabei entweder Stressreaktionen in der Alarmphase dämpfen oder die Erschöpfungsphase hinausschieben beziehungsweise ganz verhindern und somit einen Schutz vor Dauerstress bieten. Zu Ginseng liegt eine große Zahl von Studien vor, in denen die der Wirksamkeit des Ginseng zugrunde liegenden Mechanismen untersucht wurden. Vieles spricht dafür, dass Ginseng sowohl auf zellulärer als auch auf makroskopischer Ebene verschiedene physiologische Wirkungen besitzt. Aus tierexperimentellen Untersuchungen gehen Hinweise zu Wirkungen gegen Abgeschlagenheit und Stress sowie zu Wirkungen im Sinne einer Steigerung von Lernvermögen und Gedächtnisleistung hervor. Klinisch scheinen standardisierte Ginsengextrakte bei Müdigkeit, Schwäche- und Erschöpfungszuständen eine Verbesserung des körperlichen Leistungsvermögens zu bewirken, dabei die geistige Leistungsfähigkeit zu unterstützen und das Immunsystem zu stärken. Ginseng könnte daher nicht nur in der Stresstherapie eine interessante Behandlungsmöglichkeit darstellen, sondern auch bei der Behandlung des Burnout-Syndroms als unterstützendes Mittel eingesetzt werden.
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Panax ginseng C.A. Meyer (Foto: Pharmaton SA).
sicht über das klinische Erkenntnismaterial zur Wirksamkeit von Ginseng bei Stress findet sich in der Tabelle.
Ginseng und Stress: klinisches Erkenntnismaterial
Ginseng entfaltet seine Schutzwirkung gegen Stress nachweislich vor allem über zwei Wirkqualitäten: Einerseits helfen die immunmodulatorischen Wirkungen von Ginseng (9–11) bei der Verminderung beziehungsweise Verhinderung stressbedingter Infektionserkrankungen, darunter grippale Infekte (Erkältungskrankheiten)
und die echte Grippe (Influenza) (12), andererseits besitzt Ginseng positive Wirkungen auf die Stimmungslage und auf die kognitive Funktion (13). Ältere, nicht nach den heutigen Standards durchgeführte Studien weisen auf eine positive Wirkung von Ginseng auf kognitive Funktionen hin (siehe z.B. [14]). Kennedy und Mitarbeiter (15) konnten in einer plazebokontrollierten Doppelblindstudie im Cross-over-Design eine zu allen Zeitpunkten nach der Gabe von 400 mg Ginseng feststellbare, signifikante Verbesserung beim Faktor «Qualität der Gedächtnisleistung» und beim damit zusammenhängenden Faktor «sekundäres Gedächtnis» (Langzeitgedächtnis) bei gesunden jungen Freiwilligen zeigen. Auch wenn in diese Studie lediglich 20 Probanden eingeschlossen wurden, lässt sie dennoch den Schluss zu, dass sich Ginseng bei der Verbesserung des Gedächtnisses bei gesunden jungen Freiwilligen unter Umständen günstig auswirkt. Gleichzeitig stellt diese Studie den ersten stichhaltigen Beleg für eine Modulation der Stimmungslage und Denkleistung bei akuter Gabe von Ginseng dar. Diese Studie bestätigt die Ergebnisse zweier mit einer Kombination von Ginseng und Ginkgo durchgeführten Untersuchungen von Wesnes et al. (16, 17).
Fazit
Bis anhin liegen noch keine spezifischen, klinischen Studien vor, in denen die Wirksamkeit von Ginseng beim Stressabbau direkt nachgewiesen wurde. Das bisher erarbeitete Erkenntnismaterial liefert zwar nur indirekte Belege, doch lässt die durch Ginseng hervorgerufene Beeinflussung der untersuchten Parameter in den hier besprochenen Studien keinen Zweifel, dass Ginseng bei der Reduktion der Stresssymptome wirksam ist. In einer Pilotstudie konnten Wesnes et al. (18) zeigen, dass sich eine über 12 aufeinanderfolgende Wochen fortgesetzte Behandlung mit Ginseng und einer Vitaminkombination bei in Nachtschichten arbeitendem Pflegepersonal und Pflegehilfspersonal günstig auf die geistige Leistungsfähigkeit und körperliche Ermüdung beziehungsweise Abgeschlagenheit auswirkt. Nach den Befunden dieser Studie und den in vielen anderen Studien nachgewiesenen immunmodulatorischen und den leistungsfördernden Eigenschaften stellt Ginseng ein sicheres und wirksames unterstützendes Mittel in der Behandlung von Stresssituationen dar. Er könnte sich zudem in der Behandlung des Burn-out-Syndroms als nützlich erweisen: Viele Forscher
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Tabelle: Klinische Studien mit Ginseng bei stressbedingten Indikationen
Untersucher
Studienaufbau
Kennedy et al., 2001
doppelblind, plazebokontrolliert, balanciert, Cross-over-Design
Anzahl Studienteilnehmer 20 Freiwillige
Behandlungsdauer
5 Tage, mit 7-tägigen Auswaschphasen zwischen den Behandlungen
Prüfpräparat, Dosierung und Art der Anwendung Dosisstufen von 0, 200, 400 beziehungsweise 600 mg G115® und ein entsprechendes Plazebo in ausgeglichener Reihenfolge mit 7-tägigen Auswaschphasen zwischen den Behandlungen
Scaglione et al., 1990
doppelblind, plazebokontrolliert, randomisiert
60 Probanden
8 Wochen
Gruppe A: 2 x tgl. 100 mg wässriger Ginsengextrakt PKC 167/79 Gruppe B: Plazebo Gruppe C: 2 x tgl. 100 mg G115®
Scaglione et al., 1996
doppelblind, plazebokontrolliert, multizentrisch, parallel geführte Gruppen
114 gesunde Freiwillige unter G115®: (66 Männer und 48 Frauen), 113 gesunde Freiwillige unter Plazebo: (66 Männer und 47 Frauen)
12 Wochen, nach 4 Wochen Impfung mit polyvalentem Grippeimpfstoff
2 x tgl. 100 mg G115®
Wesnes et al., 2003
doppelblind,
32 in Nachtschichten
randomisiert,
arbeitende Pflegekräfte
plazebokontrolliert,
wiederholte Messungen,
parallel geführte
Gruppen
12 Wochen
Vitaminkombination + 100 mg G115® 2 x tgl. p.o.
Beurteilungskriterien
Ausgangsbefund kognitive Funktionstests, weitere Testdurchgänge 1, 2, 4, 5 und 6 Stunden nach Behandlung am jeweiligen Untersuchungstag, visuelle Analogskalen nach Bond-Lader Chemotaxis zirkulierender segmentkerniger Leukozyten, Phagozytoseindex (PHI), Phagozytosefraktion (PHF), «intrazelluläres Killing», Gesamtlymphozytenzahl (T3), T-Helferzellen (T4), Suppressorzellen (T8), Aktivität der natürlichen Killerzellen (NK), Blastogenese zirkulierender Lymphozyten Inzidenz von Grippe beziehungsweise grippalen Infekten, Antikörpertiter, Aktivität der natürlichen Killerzellen (NK), Sicherheitsparameter, unerwünschte Ereignisse kognitive Tests, Bond-Lader-VAS, Chalder-Müdigkeitsskala
Ergebnisse (Wirksamkeit) Lit.
zu allen Zeitpunkten nach Gabe von 400 mg G115® signifikante Verbesserung beim Faktor «Qualität der Gedächtnisleistung» und beim damit zusammenhängenden Faktor «sekundäres Gedächtnis» Verbesserungen bei folgenden Parametern: Chemotaxis in beiden Verumgruppen in der 4. und 8. Woche, PHI, PHF und Killing in beiden Verumgruppen nach 8 Wochen
13 11
signifikant weniger Grippe 12 in der G115®-Gruppe, NK-Aktivität und Antikörpertiter nach 8 und 12 Wochen signifikant höher in der G115®-Gruppe
Eine Kombination aus
18
Ginseng, Vitaminen und
Mineralstoffen wirkt nicht
nur der von den Studienteil-
nehmern selbst berichteten,
schichtarbeitsbedingten
verstärkten Müdigkeit und
verminderten Gelassenheit
entgegen, sondern auch
den Defiziten in objektiven
Tests zur Merkfähigkeit und
Wiedergabe von Gelerntem.
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sind auf der Suche nach wirksamen Be-
handlungsmöglichkeiten gegen das Burn-
out-Syndrom (19). Aufgrund seiner immun-
modulatorischen Eigenschaften und posi-
tiven Wirkungen auf kognitive Funktionen
könnte Ginseng demnach nicht nur in der
Stresstherapie eine interessante Behand-
lungsmöglichkeit darstellen, sondern auch
als unterstützendes Mittel in der Behand-
lung des Burn-out-Syndroms wirksam ein-
gesetzt werden.
◆
Anschrift des Verfassers Orlando Petrini Istituto Cantonale di Microbiologia Via Mirasole 22A 6500 Bellinzona orlando@petrininet.ch
Literatur:
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2. Teeguarden R. The major tonic herbs. Chinese Tonic Herbs.Teeguarden R, Japan Publications, Inc 1984. p. 77–120.
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17. Wesnes KA,Ward T, McGinty A, Petrini O. The memory enhancing effects of a Ginkgo biloba/Panax ginseng combination in healthy middle-aged volunteers. Psychopharmacology. 2000; 152: 353–61.
18. Wesnes K, Luthringer R, Ambrosetti L, Edgar C, Petrini O. The effects of a combination of panax ginseng, vitamins and minerals on mental performance, mood and physical fatigue in nurses working night shifts: a double-blind, placebo controlled trial. Curr Top Nutraceutical Res. 2003; 1: 169–74.
19. Marine A, Ruotsalainen J, Serra C, Verbeek J. Preventing occupational stress in healthcare workers. Cochrane Database Syst Rev. 2006(4): CD002892.
ABSTRACTS
Sarcandra glabra gegen Stress
Sarcandra glabra ist eine in den Tropen und Subtropen beheimatete Pflanze. Volksmedizinisch wird sie in China zur Anhebung mentaler Stärke und zur Rehabilitation von Stress verwendet. Sarcandra glabra könnte in Zukunft zur Reihe der Arzneipflanzen mit dokumentierter Wirksamkeit gegen stressbedingte Beschwerden stossen. Dafür spricht eine 2009 publizierte pharmakologische Studie (1). Ein chinesisches Forscherteam untersuchte die Wirksamkeit von Sarcandra-glabra-Extrakten auf die immunologische Antwort, inbegriffen natürliche Killerzellen
Sarcandra glabra
(NK) und seine antioxidative Wirkung in Splenozyten von Labormäusen. Die Studie zeigte, dass die Fütterung der Mäuse mit einer definierten Menge von Sarcandra-glabra-Extrakt zu einer Verminderung der stressbedingten Abnahme der Lymphozyten führte. Auch weitere Parameter sprachen für eine Wirksamkeit des Extrakts gegen stressbedingte Veränderungen. ◆
(CB)
1. Rong Rong H.E. et al.: The Anti-stress Effects of Sarcandra glabra Extract on Restraint-Evoked Immunocompromise, Biol Pharm Bull 2009(2); 32: 247–252.
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